Prosa-Leseproben
RENÉ EGGER
Eternal Reef
Ich habe die Szene geradezu gogolhaft und munchartig und in grellen van-Gogh-Farben vor Augen: Wie sie
mein Bett an der architektonisch an der Niere orientierten Rezeption vorbei und aus den verkabelten
Katakomben der Intensivstation in einem Höllentempo herausfuhren. Ich jauchze wie verrückt, wenn ich
mich recht erinnere, schwenke meine rosarote Wollmütze, war vor Freude halb von Sinnen. Und wenn das
Bett einen Augenblick lang auch bedenklich schleudert, den Betteninhalt auszuleeren droht, so wusste
ich doch, ahnte es zumindest, dass ich die Kurve letztlich kriegen würde. Wie bei Tschechow,
Turgenjew und Puschkin und noch viel zügelloser schlitterten wir – die wohlgestalten Waden, die
wohlgenährten Flanken der galoppierenden Pflegerinnen vor Augen, die mich, aufgepeitscht wie ich
war, auf die Oberwelt, zurück zur Tagesordnung und ans Tageslicht befördern.
Später liege ich wie zerfasert, alle Nerven-Enden bloss, in der nun völlig ungerührten Finsternis
der Nacht. Bläht mein so genannter Odem meine Nasenflügel ungefragt wieder auf. Braust unerhört
durch meine Ohrgänge. Legt sich ein mit violetten Litzen bespitzelter Spitalnachthemt-Kragen um
meinen wie zugeschnürten Hals – meinen Drosselbart.
Eben noch leuchtete und klingelte ich wie ein Flipperkasten. War mir rundum leicht und lustig wie
auf dem Riesenrad zumute. Die geringste Regung liess es wunderbar blitzen und blinken, während
das Nachtpfauenauge mit sanftem Flattern nach mir sieht und sorgsam über mich hin blickt. Jetzt
aber tut der Nachtdrachen Dienst, tut ihn furchtbar und so, als ob er mich fledderte. Und die
Dunkelheit ist wie ein Kissen, das man mit Gewalt mir aufs Gesicht drückt, mir den Atem nimmt.
Ich bin aufgeschnitten, wieder zugenäht und doch im Stich gelassen.
Ich fuhr den vom GPS vorgespurten Weg in die Griesberg-Klinik wie in Trance. Tag für Tag, Woche
für Woche. Chemo, Bestrahlung, Chemo, Bestrahlung. Eine Stunde hin, eine Stunde her. Es war, als
ob ich mich auf Blutbahnen bewegte. Zuletzt das markerschütternde Kreischen der Offroader-Pneus
bei der Einfahrt ins Betonierte, Unterirdische.
Chemo, die erste: Es hätte mich nicht erstaunt, wenn mir jemand eine Maniküre verpasst hätte. Die
Sessel sahen jedenfalls danach aus. Und zur Wahrung der sogenannten Intimsphäre zog man Vorhänge.
Und hinter den Vorhängen die mehr oder weniger erschrockenen Stimmen der Patienten. Darunter diese
repetetive Privatpatientinnen-Stimme, mit der es, wie sie ja selbst sagte, zu Ende ging. Die Stimme
war ebenso brüchig wie die Bruchsteinmauer, die ihr Ferienhaus im Mendrisiotto wenigstens zehnmal
umgab. Und eine andere Stimme, eine international erfahrene Fifa-Schiedsrichter-Stimme, redete
pausenlos von diesem Elfmeter, den sie in der letzten Minute der Verlängerung eines
Cupsieger-CupHalbfinals zu Unrecht gepfiffen hatte.
Armer Tropf, dachte ich und suchte vergeblich nach der weiblichen Person Einzahl. Die Plastikbeutel
mit den Zytostatika sahen harmlos und gefährlich zugleich aus. Eigentlich sahen sie ja nicht
gefährlicher aus, als die Plastikbeutel mit der Scheibenwasch-Flüssigkeit. Aber es wäre ja wohl
auch niemand auf die Idee gekommen, mir literweise Scheibenwasch-Flüssigkeit durch die Blutbahnen
zu jagen.
Ich mochte den Geruch – vielmehr diese spezifische Abwesenheit von Chemie-Geruch nicht. Ich mochte
auch das Durchsichtige nicht, mochte die Novartis, die Sandoz und die Hoffmann-La Roche nicht, und
dass einer meiner Freunde Chemiker war, hatte wahrscheinlich verhindert, dass wir bessere Freunde
wurden.
Dass wir Männer intravenös hier mit Frauen zusammen kamen, krankheitshalber intim wurden, war mir
irgendwie peinlich. War mir ebenso peinlich wie damals, als wir zum ersten Mal mit den Mädchen
Schwimmunterricht hatten. Was für eine Vorstellung, dass die beiden Damen, wie ich aus ihrer
Unterhaltung entnehmen musste, Gebärmutterkrebs hatten und ich, unpassenderweise, noch nicht mal
mit einem Hodenkrebs dienen konnte. Zumal Frauen mit Hodenkrebs ja eher die Ausnahmen sind. Trotzdem
wünschte ich mir jetzt, ich hätte die Vorhaut jeweils sorgfältiger darüber gezogen. Wozu hat man,
frage ich, eine Vorhaut wenn man sie nicht ordentlich überzieht? Wobei ich jetzt ein paar Dinge,
wie ich gern zugebe, wohl etwas durcheinander bringe.
Alle retteten sie mich, retteten mich in Gedanken, dachten zumindest immerzu daran, bei Gelegenheit
in Gedanken an mich zu denken. Und ich, ich war kein Undankbarer, kein Unrettbarer. Griff zuletzt
sogar nach dem unbegreiflichen Zauberberg, las ihn derart gründlich, dass er, zerlesen und zerfleddert,
zuletzt wie ein Dritthand-Schmöker aussah. Wahrscheinlich der erste zerlesene Zauberberg mit zerlesenem
letzten Kapitel überhaupt war Hamsun, bettlägerige Herren, lässt grüssen!
Ich kann immer nur sagen, dass man den Zauberberg nur als Gesunder lesen sollte wenn überhaupt. Und
dass dieser kranke, vielmehr: unheilvolle Roman mit seinem maroden Personal ein ungesunder und der
Gesundung abträglicher Lesestoff ist. Und dass der Mann, dieser Mann, man muss das einmal zur Sprache
bringen, in seiner Art der Annäherung, die weder Scham noch Scheu kennt, alle nur vorführt, alle nur
lächerlich macht, andauernd die widerlichsten Karikaturen zeichnet und für die Macken der Menschheit
ein geradezu krankhaftes Interesse an den Tag legt, ein unerträglicher Ausbeiner des Menschlichen ist
um aus gegebenem Anlass in der insistierenden Manier von Thomas Bernhard zu reden.
Furchtbar, wie er dem braven Vetter Joachim, dieser treudeutschen Kriegerseele von einem Mann, der
mit seinem kasernierten Vokabular keinen vernünftigen Satz über die Lippen bringt, im Tod noch ein
weichliches Grinsen andichtet. Wie es einem hier infolge des zurückweichenden vielmehr: sich
zurückziehenden Zahnfleisches auf allen Geschossen schrecklich entgegenbleckt.
Unbestreitbar ist, sage ich zu dem mir neu zugeteilten Nachtpfleger, dass sich ein Erfolg
versprechender Abwehrkampf gegen einen infiltrierenden Krebs mit den dazu gehörigen Zangenbewegungen
in diesen Weisskitteln vernünftig nicht führen lässt. So sehen Sie sich doch bloss an, Mann, sage ich.
Und mache den Vorschlag, das Zweipersonen-Nachtwache-Stück fortan als Abwehrschlacht zu inszenieren:
Wozu er, sage ich, einen Tarnanzug tragen soll, wie er in Farbe und Musterung vor allem auf den
Falklands, zuletzt mit Erfolg auch von russischen Verbänden und den Winterkriegstruppen in Tibet
getragen worden ist.
Ich gestehe gerne: Allein schon sein martialischer Anblick machte mich, als er sich zum ersten
Nachtdienst meldete, furchtloser. Oder sagen wir besser: unerschrockener. Jedenfalls gewöhnte ich
mich schnell daran, ihn Compagnero zu nennen. Und er ohne dass ich dies ausdrücklich verlangt hätte
sprach mich als Commandante an. Was unseren Sprechverkehr deutlich straffte, auch zielgerichteter
machte. Nur in Fragen seiner Herkunft kam es zu keiner Übereinkunft: Er bestand darauf, ein Filipino
zu sein, während ich mir sicher war, einen Bolivianer, einen Hochland-Indio vor mir zu haben.
Was den sogenannten Kampf bis aufs Blut betraf, so hatten wir zwar keine Paint-Ball Gewehre, aber
wir hatten immerhin Zellzerstörer, Blutbahnsperren, verbesserte Duschköpfe mit grösseren Reichweiten,
Fensterkitt zum Abdichten und unsere mit roter und blauer Flüssigkeit gefüllten Einwegspritzen, die
beim geringsten Fingerdruck losgingen. Gegen Stiche schützte die Genfer Konvention, und die
Farbspritzer beziehungsweise Körpertreffer sollten jeweils bei Tagesanbruch, noch vor der
Wachtablösung gezählt werden. Grundsätzlich aber waren wir uns einig, dass es um die Verbesserung
des Abwehrverhaltens vor allem in der Nacht ging wo trostlose Schwärze, wie sämtliche Studien
zeigen, offensichtlich erregend wirkt und zu Infiltrationen geradezu einlädt.
Chemo, die zweite: Ich sah weiter zu, wie es, was auch immer, in mich farblos hineintropfte. Es
dauerte seine Zeit und es waren nur noch zwei Tage bis Ostern. Ambulant verzehrte ich schon mal
einen der von der Klinikleitung angebotenen Marzipan-Hasen, später kam noch ein Osterei aus
unverdächtigem Nougat-Material hinzu, wobei ich in einer Zeitschrift blätterte, wie sie, mit
ähnlich abgegriffenem Glanz, auch in Hair-Dressing-Studios aufliegen. Einmal fasste der Onkologe
nach meiner inzwischen feingliedrig gewordenen Hand, machte aber keine Anstalten, mir die Nägel
zu schneiden. Die Sätze, die er zu mir sprach, hatten auf der unteren Zuversichts-Skala eine 3+
und hörten sich ähnlich an wie diejenigen, die ich ihn hinter den Vorhängen schon mehrmals hatte
sagen hören. Der Satz-Verlauf war vielleicht nicht exakt derselbe, lief aber beschwichtigend auf
dasselbe hinaus. Ich würde jedenfalls raten, auf das Heben oder Senken der Stimme am Satzende
zu achten.
Zweimal habe ich ganz zuletzt, aus dem ungemein emotionalen Anlass meiner umittelbar bevorstehenden
Entlassung, in die mitleidigen Brüste von diplornierten Pflegefachfrauen hemmungslos hineingeweint.
Es hatte mich geradezu durchgeschüttelt und ich hätte mir gewünscht, dass es November gewesen wäre.
Sodass ich dann als Zweig oder Rute wütend gegen die vom Frost schon mit Eisblumen überzogenen
Fensterscheiben meiner seelenlosen Freunde hätte schlagen können wie dies fortgesetzt in russischen
Romanen geschieht, wo der Gerinnungsfaktor von Freundschaft schon immer ein anderer war.
Anfangs, zugegeben, fühlte ich mich von der strengen Unerbittlichkeit der Krankheit geradezu
ausgezeichnet. Zumal ich, als alle zu husten begannen, alle die blöden Frühlings-Grippen bekamen,
ihre lächerlichen Niesanfälle praktizierten, unausgesetzt im Feuer sozusagen unter schwerstem
Beschuss der überaus präzisen RB 450 SS von Siemens lag. (Ob da auch Schmiergelder geflossen
waren, liess sich auf die Schnelle und vom Krankenbett aus zuverlässig nicht ermitteln.)
Später dann kam ich nür nicht mehr so furchtbar elitär vor: Jeder, der nur ein klein bisschen
Status hatte, hatte ihn mittlerweile auch, den Krebs. Nahm jedenfalls früher oder später den
Kampf dagegen auf. Focht ihn medienwirksam als Schaukampf aus. Schlingensief, beispielsweise,
führte ihn opernhaft sogar auf der Bühne auf. In Salzburg oder Düsseldorf oder wo auch immer.
Einer meiner Geschäftspartner, der auch Krebs hatte, ebenfalls in die Zange genommen wurde, liess
sich an der baltischen See vom bekannten Zürcher Still-Life-Fotografen Nick Mellowitz und in
Gesellschaft eines mächtigen Hummers beim Krabbenessen fotografieren. Auf der Aufnahme liegt
er seltsam aufgeschwemmt oder vielmehr wie angeschwemmt auf dem verlassenen Strand, ein halbes
Dutzend Krustentiere staksen in offensichtlicher Verwirrung auf seinem Brustkorb umher nur sein
Sonnenbrand und der zuvor gekochte Hummer bringen ein wenig Farbe ins Bild. Eine der Scheren hält
er winkend in der Hand, beziehungsweise in die Kamera.
Krebs: Ich kann es immer nur wiederholen es war wie eine Krankheit.
Im Übrigen habe ich mich inzwischen anders besonnen: verzichte vorerst und bis auf weiteres darauf,
ein künstliches Riff aus pH-neutralem Beton und meiner Asche zu bilden. Ich hatte, wenn ich es recht
bedachte, etwelche Mühe, mich künftig als durchlöcherte, von allerlei Weich und Hohltieren dankbar
bevölkerte Halbkugel zu betrachten. Auch war ich mir nicht sicher, ob mich meine Liebsten wirklich
so gerne als einen mit GPS zu ortenden Bestandteil einer natürlichen Umgebung eines „Eternal reef"
sehen wollten. Zum posthumen Riff-Retter, dachte ich, muss man offenbar bestimmt sein und auf
solche Weise mit der Biosphäre eins zu werden, ist wohl auch nicht jedermanns Sache. Abgesehen
davon, dass die Vorstellung, eines Tages als Garnele auf dem Meerfrüchte-Teller eines Nachgeborenen
zu landen, gänzlich ja nicht auszuschliessen ist. Die Idee mit dem Atlantis-Riff und dass man am
1,8 Tonnen schweren, 1,3 x 1,8 Meter grossen und 3500 Dollar teuren Ding für nur weitere 100
Dollars, eine Plakette mit den Lebensdaten des hier versunkenen Nemo anbringen konnte, aber
gefiel mir irgendwie.
Gefiel mir, je länger ich darüber nachdachte, und je mehr ich mich zu den Meergründen vor Florida
hinunterliess und unergründlich hinabgezogen fühlte.