Prosa-Leseproben
CARINA NEKOLNY
Oh wie schön ist Caritas Charons Helfer
Es war heiß. So heiß, dass mir der Schweiß heruntertropfte. Und es stank. In den Straßen standen Dreck
und nasse Luft, sie war zum Schneiden. Nach fauligen Früchten roch sie, nach Gewürzen, Garam Marsala,
Curry, Nelke, Sandel, Verwesung, Tod. Kein Wunder, starben in den Straßen Kolkotas doch jede Minute die
Menschen wie Fliegen. Beachtet vom blinzellosen Auge eines Buckelrinds bestenfalls. Wer so starb, konnte
froh sein. Der hatte etwas mitgenommen in Kalis Reich, den Blick eines heiligen Tieres. Die weniger
Glücklichen trafen auf unsereinen. Wir waren überall. Noch ehe die Sonne richtig aufgegangen war,
schwärmten wir aus, flatterten durch den Dreck, die Kloaken und finsteren Winkel, um die Sterbenden,
die die Nacht übrig gelassen hatte, einzusammeln. Wir hatten nichts im Magen außer ein graues Stück
Zwieback und eine Brühe, die entfernt an Tee erinnerte. Aber wir hatten einen Auftrag, eine Berufung.
Als ich in Kalkota gestrandet war ohne Geld und mit knurrendem Magen, wusste ich erst nicht recht,
wohin ich mich wenden sollte. Die Stadt ist riesig, frisst sich stetig in das Umland, stapelt Menschen
übereinander, die weiß Gott woher kommen und weiß Gott was suchen. So landete ich bei Mutter Teresa
und ihren Missionarinnen der Nächstenliebe. Nicht so sehr wegen meiner karitativen oder ausgesprochen
katholischen Neigungen. Eher aus Egoismus. Ich brauchte ein Bett und etwas zu essen. Also trat ich
als Freiwilliger auf und bot mich an, Gutes zu tun im Namen der Schwestern. Der Deal war schnell und
ohne gröbere Gewissensprüfung gemacht, ich hatte immerhin gefürchtet, das Vaterunser aufsagen zu müssen.
Stattdessen hatte mein Hundeblick genügt. Ich bekam ein Blechkreuz und das vage Versprechen auf Kost
und Logis. Wenn ich mithalf, das Hospiz der kleinen heiligen Frau mit Sterbenden zu füllen. Denn darin
besteht die selbst auferlegte Aufgabe der Missionarinnen der Nächstenliebe. Nicht der Gesundheitspflege,
nicht der Ausspeisung der Armen, deren hier Legion sind, nicht dem Unterricht oder einem anderen Dienst
an den Lebenden haben die Frauen ihr Leben geweiht. Sondern der Sterbebegleitung.
Und die war für alle Beteiligten harte Arbeit.
Nach dem Wecken zu nachtschlafender Zeit, wiewohl es keinen Unterschied machte, denn in den schmutzigen
Zellen, auf feuchten Matratzen, unter quälenden Wanzenbissen und in sauerstoffarmer Luft, war an
Schlafen nicht zu denken. Nach dem Wecken also ein Schöpfer Tee, ein Zwieback begleitet von frommem
Gebet, dann gingen wir Freiwilligen mit dem Blechkreuz unserer Wege. Hinaus in die Morgendämmerung
zu den Resten der Nacht. Am Anfang war ich vorsichtig zwischen Dreck und Fäulnis balanciert, nach
zwei Wochen machte mir die Berührung damit nicht mehr viel aus. Wir waren doch alle Dreck und Staub,
dazu würden wir vergehen in der Stunde unseres Todes.
Manche Sterbenden fand man leicht, sie lagen nahe dem Hospiz, verkrümmt, ihrer letzten Habseligkeiten
beraubt, oft stöhnend. Ein Glücksfall für unsereinen. Ich ging näher, überprüfte, ob ich nicht einer
Sinnestäuschung erlegen sei. Schon einige Male hatte mich der Augenschein getrogen und ich hatte einen
Haufen alter Fetzen und Zeitungen für einen Sterbenden gehalten. Besonders bei den Frauen war es im
Dämmerlicht schwierig, denn das, was von ihnen noch lebte, war meist nur ein Haufen Knochen und Sehnen
unter einem dreckstarrenden Sari. Leicht konnte man hier irren und einfach vorbeigehen.
Ich kam näher, sprach leise vor mich hin. Es kam nicht darauf an, was man sagte, Menschen in diesem
Stadium verstehen nicht mehr, was man zu ihnen spricht. Nur die Tatsache des Sprechens war wichtig.
Das Bündel zuckte. Ein knochiger Unterschenkel, ein nackter Fuß mit sehr langen, sehr dreckigen Nägeln.
Willst du mich treten? fragte ich sanft und beugte mich über den Haufen. Ein Knurren. Ich hielt inne,
wartete bis die Straßenbahn mit Getöse und Gerumpel vorbei war, dann kniete ich mich hin.
Mein Freund, sagte ich, mein Freund, ich bin gekommen, um dir zu helfen. Das dünne, gelbe Bein zappelte.
Knurren. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, sammelte die losen Enden der Bekleidung zusammen und hob
den Mann auf. Er stank nach Urin und Kot. Das Bein strampelte schwach. Es war immer das Gleiche. Die
Menschen können Hilfe nicht annehmen. Ein ganzer Orden kümmert sich exklusiv um sie, begleitet sie
hingebungsvoll bei ihrem Schritt ins Ungewisse und sie sträuben sich.
Er war leicht, mühelos brachte ich ihn in Sicherheit. Die Schwester an der Pforte schrieb bedächtig
in ihr schwarzes Buch. Sie malte jeden Buchstaben mit Umsicht. Ich war der erste heute, der einen
mitbrachte. Es war noch früh. Ich war stolz. Eine Seele gerettet. Praktisch gleich vor der Tür. Kali,
Jesus und alle anderen Götter meinten es gut mit mir.
Bring ihn ins Sterbezimmer, sagte die Schwester, ohne mich oder den Mann, den ich schleppte,
anzusehen und klappte das Buch zu. Aus dem Augenwinkel sah ich meinen Zimmergenossen, der eben zur
Tür hereinstolperte. Er schleifte eine Frau hinter sich her, die gurgelnde Geräusche machte. Schnell
ging ich den Gang entlang ins Sterbezimmer, einen Saal, bis auf eine Oberlichte fensterlos wie eine
Garage. Hier lag Stroh aufgeschüttet. Es war dunkel, eine nackte Glühbirne brannte im hinteren Teil
des Raumes. Der Boden voll mit Menschen, ein Sterbender neben dem anderen. Dazwischen Kakerlaken,
Erbrochenes, verbeulte Blechhäferln. Darüber die Ausdünstungen von Armut, Angst und Tod. Und ein
Heer von Fliegen.
Die wahren Helfer des Teufels sind die Fliegen, überall ihr Sirren, sie machen einen verrückt mit
ihrem Sirren und den Facettenaugen, die haarigen Beine und Rüssel zucken. Sie sind überall, selbst
in den Träumen. Ich träume von ihnen, von Fliegen und vom Sterben. Fliegen auf Augen und Mündern,
in Nasenlöchern, auf eitrigen Wunden, wo sie die Nässe schlürfen, im Tee, im Ohr. Überall Fliegen.
Ein Strohhaufen war frei. Jemand war vor ein paar Stunden, ein paar Minuten hier gestorben. Hatte
Platz gemacht. Er hatte es überstanden. Ich ließ den Alten aufs Stroh gleiten. Darunter liefen ein
paar Schaben auseinander. Die Fliegen schwärmten auf. Der Mann grunzte, das Bein zuckte wie im Krampf.
Ich suchte seinen Kopf unter den Lappen und Fetzen. Wasser? fragte ich und hielt ihm einen Blechnapf hin.
Seine Lippen waren rissig und gelb. Gleich setzte sich eine Fliege in den Mundwinkel. Ich hielt seinen
Kopf, der pendelte, als hätte er keinen Hals und flößte ihm etwas Wasser ein. Der Mann schluckte, ein
dünner Kehlkopf hüpfte auf und ab, dann verdrehte er die Augen nach oben, dass das Weiße sichtbar wurde.
Starb er schon? So schnell? Schade, denn dann konnte ich ihn nicht mehr ordentlich betten, kein
fadenscheiniges Leintuch mehr holen, ihm nicht mehr Stirn und Puls mit Wasser netzen. All die lieben
Rituale, die dem Sterben bei den frommen Schwestern zuletzt doch noch etwas Feierliches gaben, wären
dann umsonst. Ich sah genau auf seinen Hals. Dünn war er wie bei einem gerupften Huhn. Darunter flog
der Puls. Er atmete stoßweise, der Mund ging auf, ein zahnloses Loch. Er sog die Wangen ein, der Mund
stülpte sich nach innen beim Einatmen. Die Luft wollte nicht mehr hinein in den Körper. Sie wollte
heraus. Etwas anderes wollte heraus, weg. Weg von diesem Höllenort, wo die Menschen in Batterien ins
Jenseits gingen, beobachtet von Fremden, die sie nie im Leben gesehen hatten. Die sich nicht um sie
geschert hatten, als sie bettelnd oder stehlend durch die Straßen gezogen waren. Die sich erst in der
Stunde ihres jämmerlichen Todes für sie interessierten. Ihnen noch die Seele aus dem Leib zogen mit
ihren Hilfestellungen, ihren Wasserschlucken, dem Aufbetten, dem Blick.
Der Mann hatte recht, wenn er die Augen verdrehte. War es nicht Hohn, am Ende eines beschissenen
Lebens dem lauernden Blick eines jungen Mannes aus gutem Hause zehntausend Kilometer weit weg
ausgesetzt zu sein.
Ein Speichelfaden an der Lippe. Die Fliegen, die seine Lider belagerten. Ich verscheuchte sie.
Sah ihn genau an, den sterbenden Mann. Atmete er noch? Der Puls ging nun schleppend, er atmete ein.
Dann lange nichts, ein Stoß, aus. Ein Rasseln. Nichts. Ein. Es dauerte nicht mehr lange. Ich kannte
das schon. Hatte es beobachtet. Wenn ihnen der Atemrhythmus wegbricht, wenn der Blick sich verbirgt,
dann ist es Zeit. Zeit zum Singen. Das hat sich unsere Mutter Teresa in ihrer Umsicht und Güte
ausgedacht, hat dazu auch die passende Bibelstelle gefunden. Die Menschen sollen mit einem Lied in
den Ohren sterben, Halleluja. Ich begann leise zu summen. Land der Berge, Land am Strome. Jedes Mal
schämte ich mich dabei. Nicht nur dafür, dass ich die Töne nicht traf. Das mochten mir die Menschen,
die an der Pforte zum Nichts standen, nachsehen. Aber dass ich sie mit der österreichischen
Bundeshymne quälte, trieb mir jedes Mal die Schamesröte ins Gesicht. Ich kannte kein anderes Lied.
Im Moment des Todes fiel mir immer nur die Bundeshymne ein. Land der Äcker, Land der Dome... Hämmer,
zukunftsreich. Ich nahm die Hand des Mannes. Sie war knöchern, ein Fingerglied fehlte. Sie war kalt.
Er hatte es hinter sich. Ich klappte den Mund zu, schluckte die großen Söhne, das Volk begnadet für
das Schöne. Dann schloss ich seine Lider. Der Mund blieb offen. Eine Fliege krabbelte hinein. Ich
erhob mich taumelig, ging hinaus, an der Schwester vorbei. Good Boy, sagte sie ohne aufzusehen und
machte ein Kreuz in das schwarze Buch.
Frisch an die Arbeit und Gott mit dir.