Leseproben
Ulrich Schäfer-Newiger
W. G. Sebald. Austerlitz. Ich.
I.
Anno 2007 im März habe ich ohne erinnerten Anlass in einem Münchner Buchladen, von dem ich nicht einmal mehr weiß,
welcher es war, ein Buch gekauft. Ich nahm es von einem entlegeneren Bücherstapel und bezahlte es an der Kasse, ohne
überhaupt hineingesehen zu haben, so dass ich keinerlei Kenntnis hatte von dem mir sonst immer wichtigen ersten Satz
noch von den in den Text hinein verstreuten schwarz-weißen Fotos. Der Name des Autors, den ich irgendwo schon einmal
gehört hatte, den Zusammenhang aber hatte ich vergessen, sagte mir nichts und was er schrieb, davon hatte ich keinerlei
Vorstellung. Auch der Titel "Die Ringe des Saturn" ließ mich an nichts denken.
Selten ist es indessen nicht, dass ich Bücher ohne jegliche Kenntnis des Autors oder des Inhaltes kaufe. Geleitet bin
ich dabei von einer mir bis heute unbekannt gebliebenen und unbegreiflichen Intuition oder Macht oder Fügung. Zum
Beispiel bin ich auf diese irrationale Weise zuletzt gestoßen auf die wunderbar herbe Lyrikerin Kathrin Schmidt,
oder zuvor auch auf Anna Achmatova. Auf das Werk des genialisch-absonderlichen Hanns Henny Jahnn - dem ich zeitweilig
regelrecht verfallen gewesen bin - bin ich überhaupt nur aufmerksam geworden, weil eine Tante von mir vor Jahrzehnten
gewohnt hat im Hans-Henny-Jahnn-Weg in Hamburg.
Die Ringe des Saturn' des mir bis dahin unbekannt gewesenen W. G. Sebald habe ich gelesen an einem Stück, unterbrochen
nur durch die tägliche Erwerbsarbeit, Essen und Schlafen. Schon auf der ersten Seite bin ich ergriffen worden von einer
zunächst kaum merklichen, dann immer stärker werdenden Kraft, oder besser von einem Sog. Denn ich fühlte mich immer
tiefer hinein- und hinabgezogen in ein mir bis dahin unbekanntes gedankliches Sprachenland, in einen mir bis dahin
unbewusst gewesenen, tatsächlich in meinem Innersten aber längst zerstörerisch wirkenden Gefühls- und Geisteszustand,
in eine fahle, graue englische, verfallende Landschaft. Erst allmählich habe ich einen Begriff davon bekommen, wodurch
dieser (nämlich mein Gefühls- und Geisteszustand) im Text jenes Sebald ihren idealen Ausdruck gefunden haben: Durch den
traurig-altertümelnden, gehobenen, alltagsfernen Sprachstil und durch die Manie, in jeder Veränderung Verfall zu sehen
und ihn in extenso lustvoll zu beschreiben und mit ihm die unwahrscheinlichsten und entferntesten persönlichen und
geschichtlichen Ereignisse und Begebenheiten zu verknüpfen.
Die Sprache Sebalds ist unmodern. Das macht sie ideal für den zur Traurigkeit neigenden Leser, fühlt der doch noch im
Lesen durch die Vergegenwärtigung ungebräuchlicher Wörter und Redewendungen einen weiteren Verlust, nämlich den einer
früher mutmaßlich verwendeten gewöhnlichen Sprache und erhält dadurch eine weitere Selbstbestätigung. Mit "unmodern"
sind Redewendungen und Wörter gemeint wie "mich dünkte", "Fußreise", "Anfechtung", "Flughafengebäude", "schandbare
Unbeholfenheit", "Schmerzensspuren", "begann in mir eine undeutliche Besorgnis aufzuquellen", "mehrere Klafter
tief," "das unvermutete Angerührtwerden", "weil es sich nicht verlohnte", "Der alte Mann, der wenig mehr als vier
Fuß messen mochte", oder: "Das Ausländische des Menschen in der Natur." und so fort. Dieser Sprachstil aber schafft
auch, und ich meine, Sebald beabsichtigt dies ausdrücklich, Distanz, Distanz zwischen Autor und Leser, zwischen einer
vergangenen Vergangenheit, die Sebald beschwört, welche er aber selbst nicht mehr hat kennenlernen können, und unserer
Gegenwart, Distanz schließlich auch zwischen den von Sebald aufgerufenen Figuren und Menschen. Nie gibt es in seinen
Texten die direkte Rede.
Befremdend, dadurch interessant und zugleich eigenartig spannend wird der Sprachstil Sebalds durch die aus dem
englischen Satzbau übernommene Eigenart, das Verb nach vorne zu ziehen. Zur Beurteilung dieser bei Sebald zum Teil
zur Manie werdenden und ihm vorgeworfenen angeblich falschen Handhabung des Deutschen (vor der sich der Autor dieser
Zeilen erkennbar selbst nicht vollständig zu schützen weiß) sei aus dem Gedächtnis ein hervorragender Kenner der
deutschen Sprache zitiert: "Und", wurde Mark Twain nach seiner Deutschlandreise gefragte, "haben Sie auch Hegel auf
Deutsch gelesen?" Antwort: "Ja, viele Bände. Aber ich kann bislang nichts dazu sagen, denn ich warte immer noch auf
das Verb."
Mehr noch als diese sprachlichen Sonderheiten und Wendungen machten mich süchtig die mit dieser Sprache gezeichneten
Bilder des Niedergangs und Verfalls. Das beginnt mit scheinbar so harmlosen Sätzen wie: "Unweit der Küste zwischen
Southwold und der Ortschaft Walberswick führt eine schmale eiserne Brücke über den Blyth, auf dem vor Zeiten einmal
schwere Wollschiffe seewärts gegangen sind. Heute gibt es so gut wie keinen Verkehr mehr auf dem weitgehend versandeten
Fluss." Das schöne Niederziehen des Lesers wird fortgesetzt und verstärkt mit Beschreibungen wie: "Dunwich mit seinen
Türmen und vielen tausend Seelen ist aufgelöst in Wasser, Sand und Kies und dünne Luft. Wenn man vom dem Grasplatz
über dem Meer hinausblickt in die Richtung, wo die Stadt einst gewesen sein muß, dann spürt man den gewaltigen Sog
der Leere."
Solche Sätze nahm ich auf in mich wie ein Schwamm, ohne zunächst auch nur zu ahnen, warum. Nahezu in jedem Ort des
vom Autor durchwanderten englischen Landstriches findet er solche gedanklichen Verbindungen und Spuren der vergangenen
und vergehenden Vergangenheit, seien es (um nur drei Beispiele zu nennen) Hinweise auf Josef Conrad, der in einem
dieser Orte seinen Fuß erstmals auf englischen Boden setzte oder im Zusammenhang mit ihm Roger Casement, der
bekanntlich gehenkt wurde im Londoner Tower im Jahre 1916 wegen Hochverrats, seien es Beschreibungen der schier
unerschöpflichen Heringsernte noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, von der nunmehr nur noch ein kläglicher Rest
oder nichts mehr übrig geblieben ist. Keinem aber ist auch eine traurigere Beschreibung der Allgäuer Berggegend wider
die übliche Postkartenidylle gelungen mit Sätzen wie: "Eine dunkle, ins Schwarzfarbene übergehende Wolkendecke lag
über dem ganzen Tannheimer Tal, das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte."
Sebald versucht, seine Berichte aus den von ihm durchwanderten oder durchfahrenen Landschaften mit eher undeutlichen
und unscharfen Schwarzweiß-Bildern, gelegentlichen Zeichnungen und Skizzen z.B. diverser Festungsbauten gleichsam zu
beglaubigen. Sie ergänzen den Text, der Leser nickt, ja, sagt er sich, da ist, über was geschrieben wird, ja abgebildet.
Die Fotos scheinen allesamt älter zu sein, als sie sind. So gewinnt die Behauptung des Verfalls einerseits den
Charakter des Dokumentarischen, des Glaubwürdigen. Anderseits - und das ist der tiefere Sinn der Verwendung dieses
Mediums - rührt einen, schreibt Sebald, an fotografischen Bildern "das eigenartig jenseitige, das uns manchmal anweht
aus ihnen. …. Und weil das Abbild noch fortdauerte, wenn das Abgebildete längst vergangen war, so lag auch die ungute
Ahnung nicht fern, daß dem Abgebildeten, den Menschen und der Natur, ein geringerer Grad von Authentizität eigne als
der Kopie, dass die Kopie das Original aushöhle, wie es auch heißt, daß einer, der seinem Doppelgänger begegnet, sich
selber vernichtet fühlt." Die Verwendung der Fotografien soll gleichsam den "Schrecken der sukzessiven
Derealisierung" (Sebald) des Gelesenen oder des Geschauten vergegenwärtigen. Wir beginnen zu ahnen, wo die
Wendung "zu Tode fotografiert" ihren Anfang genommen hat.
Die Enttäuschung über das Ende dieses meine Gefühlslage auf eigenartige, mir zunächst selbst nicht klar werdende
Weise unablässig bestätigenden Buches wurde getröstet dadurch, dass ich, nachdem ich den letzten Satz gelesen
hatte ( "…in Holland sei es zu seiner Zeit Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder,
auf denen Landschaften, Menschen oder Früchte der Felder zu sehen waren, mit seidenem Trauerflor zu verhängen, damit
nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick,
sei es durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat"), ohne jegliche Unterbrechung fortgefahren bin mit dem Lesen
und zwar wieder des ersten Satzes des Buches ("Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich
auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluss einer größeren
Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können.") und so weiterlesend mich zum zweiten Mal hineinfügte,
um alles Gelesene noch einmal und wieder neu und noch intensiver zu durchleben.
Kurz nach Beginn der zweiten Runde der Lektüre erstand ich, um mir eine Vorstellung machen zu können von den
traurigen, verfallenden Weilern, Dörfern und Städten Ostenglands, welche der Autor auf seiner Fußreise durchlaufen
oder in denen er sich aufgehalten hatte, und wo ich noch nie gewesen war und seither auch nicht gewesen bin, eine
Landkarte von der Gegend. Nicht hineingefahren bin ich in diese, während der Lektüre immer mythischer werdende
Landschaft. Sondern habe mir eine Landkarte gekauft. Denn sich eine Vorstellung von Orten und Gegenden machen hat
für mich immer schon von Kindesbeinen an bedeutet, sie auf Landkarten und Atlanten zu identifizieren. Dort fand ich
immer schon, durch mehr oder weniger abstrakte Zeichen und Linien, die Straßen, Ländergrenzen, Küstenlinien,
Eisenbahnlinien, Höhenverläufe, Kanäle, Breiten- und Längengrade oder andere geographisch-topologische Wirklichkeiten
repräsentierten, die Existenz der namentlich benannten Orte beglaubigt und als unwiderlegbar dokumentiert. Vielfach
ist es bei dieser Art der abstrakten, risikolosen Überzeugungsbildung nicht geblieben, ich bin tatsächlich
hinausgegangen, gereist, hingefahren, aber in keinem einzigen Fall habe ich die auf Landkarten und in den Atlanten
von mir entdeckten Orte wirklich er - fahren. Ich erfuhr dort immer nur mich als mir selbst Fremden.- Unterwegs,
schreibt Sebald dazu noch, ergeht es mir "nicht selten wie dem Grillparzer. Wie er finde ich an nichts Gefallen,
bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie ich oft meine, viel besser mit meinen Landkarten
und Fahrplänen zu Hause geblieben."
Ich bin zum Kauf einer möglichst genauen Karte des südöstlichen Englands in den Münchner "Geobuchladen" gegangen.
Dieser im innersten München, im offiziell auch so genannten ‚Rosental' gelegene Buchladen ist eigentlich, wenn ich
mich recht besinne und ernsthaft einen Vergleich sogar mit der Buchhandlung Lehmkuhl anstelle, der mir in München
immer im wahrsten Sinne des Wortes liebste gewesen. Denn nur in ihm konnte und kann ich meine mich immer wieder
heimsuchenden Tagträume vom Wegfahren, Reisen, Weglaufen, Fliegen, Schwimmen, Weggehen, von den alles, auch mich
selbst hinter mich lassenden wunderbar gelingenden Fluchten verbinden mit meinen Nacht- und Alpträumen vom nicht
Wegfahren können, vom Aufgehalten werden, von verpassten Zügen, nicht rechtzeitig erreichten Schiffen, fehlenden
Fahrkarten, ausgefallenen Flügen, von Erdrutschen verschütteten Autos, umgeleiteten S-Bahnen, usw. usf., kann nur
dort, in diesem Geobuchladen, diesen Widerspruch zwischen Tag und Nacht, Wunsch und Angst in mir, in einer Art
absonderlicher Vorstellung von mir, widerspruchslos zusammenfügen und ausleben ohne wirkliche Konsequenzen, ohne
scheinbar Verantwortung für das Weggehen-wollen und zugleich Hierbleiben-wollen übernehmen zu müssen.
In diesem "Geobuchladen" habe ich einmal eine der außergewöhnlichsten Karten erstanden, erinnere ich mich, weil
ich eine Kreuzfahrt im Nordmeer plante, die ich dann doch nicht angetreten bin aus Zeitgründen, wie ich mir einredete,
was aber eine Ausrede war. Es war ein Werk, auf dem sowohl das nördliche England mit den Orkney Inseln, Island, die
Insel Jan Mayen, Spitzbergen und das nördliche Norwegen, aber auch Grönland, Nordkanada, Alaska, Nord-Sibirien und
die Beringstraße dargestellt waren. Diese Karte der amerikanischer Air-Force aus dem Jahre 1984, genannt ‚Global
Navigation and Planning Chart' hat in ihrer Mitte den Nordpol - auf der Karte eine Stelle, auf der fast alle
dargestellten Linien sich zu einem Punkt vereinigen. Schon stundenlang bin ich, über die große, ausgebreitete Karte
gebeugt, auf diesem nördlichsten Teil des Planeten herumgereist und habe die vielen, teils entzifferbaren und teils
unbekannten Sonderzeichen und -linien für die Luftnavigation und Berechnungshinweise für den vom geographischen
Nordpol abweichenden magnetischen Nordpol und vor allem auch die Warnhinweise für Piloten, die sich auf sowjetisches
Gebiet verirren sollten, studiert:
"WARNING
Aircraft infringing upon Non-Free
Flying Territory may be fired on
without warning".
Diese mehrmals sich wiederholenden, wortgleichen Hinweise könnten auch aus einem meiner Träume stammen, sage ich mir
und immer wieder starre ich auf diese Warnungen vor dem Eindringen in verbotene Territorien, als habe sie jemand für
mich verfasst.
Auch Jaques Austerlitz, von dem später noch die Rede sein wird, "saß bis in die Abende hinein über Nachschlagewerken
und Atlanten. Nach und nach entstand so in [seinem] Kopf eine Art idealer Landschaft…" und hat so eine weitere von
vielen Eigenschaften mit mir gemeinsam, worüber ich immer wieder staune. Mir selbst ist ein wunderbar großer Atlas
aus dem Jahre 1975, den mir die Französin Micheline B. seinerzeit schenkte, noch heute am liebsten, vermutlich, weil
er Grenzen zeigt, die es heute nicht mehr gibt und mehr noch, weil in ihm Grenzen fehlen, die heute existieren. Hier
also schon, in der damals noch nicht renovierten, dunklen, wunderbar unaufgeräumten, dem finanziellen Ruin
augenscheinlich nicht mehr entkommenden Buchhandlung im Münchner Rosental, war die ideale Vorstellung in meinem Kopf
über die Welt (ohne Menschen, muss ich heute sagen) angeschwollen fast zu einer Krankheit des Geistes. Dass sie
nachher gerettet worden ist vor dem Untergang, erlaubt mir nur die Fortsetzung meiner Besuche dort und die
Aufrechterhaltung meines gespaltenen Daseins, in dem ich von meiner Tageswirklichkeit Abstand nehme und von ihr
absehe. Nur den Atlas nicht existierender Länder, den ich dort einmal fand, habe ich bisher nicht gewagt aufzuschlagen
oder gar zu kaufen, aus Furcht darin nichts weiter zu entdecken als mich selbst.
Als ich damals über Südostengland keine genauere Karte fand als die des mit dem mir zunächst völlig unpassenden, weil
allen geschichtlichen Gegebenheiten Hohn sprechenden Namen ‚Marco Polo' im Maßstab 1:300.000 mit der Bezeichnung
"England Süd, Wales, mit landschaftlich schönen Strecken und Sehenswürdigkeiten, Übersichtskarte zum Ausklappen,
Entfernungstabelle, Ortsregister, Citypläne London, Cardiff", griff ich zu. Ich war aber in Sorge, auf dieser Karte
eines ‚Marco-Polo-Verlages' auch nur einen einzigen der Sebald'schen Orte überhaupt finden zu können. Denn schon
in den Reiseberichten Marco Polos, so weiß der im Reisen wirklich beschlagene Sebald zu berichten, verdichtet sich
die Wirklichkeit "ins Metaphysische und Mirakulöse und der Weg durch die Welt [wird] von vorneherein durchschritten …
im Hinblick auf das eigene Ende." Insofern mag der Name des Kartenverlags ein Omen gewesen sein. Fortan las ich mit
aufgeschlagener Karte den immer unheimlicher, fesselnder und trauriger werdenden Text Sebalds und fand darauf
tatsächlich die Orte Hedenham, Bungay, Southwold, Walberswick, Dunwich, Middleton, Woodbridge, Orford, Single Street,
Bawdsey. Von nun an wusste ich, wo sie lagen, war überzeugt, dass sie tatsächlich existieren. Denn bei Sebald selbst
kann ich ja nicht sicher sein, was erfunden ist von ihm und was nicht. Eingebildet habe ich mir einige Zeit lang,
diese Orte bereisen und besehen zu müssen, bis ich erkannte, dass sie für mich für die Zukunft verloren sind. Denn
sie sind geprägt vom sebaldischen Stempel, vom sebaldischen Prägestock des Verfalls und der Trauer. Und solange sich
wer erinnert an die Texte Sebalds, solange werden diese Orte, als wäre es ihr unabänderliches Schicksal, dem ihnen
von einem ausgewanderten, traurigen Deutschen aufgedrängten Bild des Verfalls nicht mehr entkommen.
Ich habe bald mit Erstaunen erfahren, dass die sebaldische Sicht der Welt als eine verfallende, immer traurig machende,
wenn man sich einlässt auf sie, sozusagen wunderbar funktioniert, auch im banalsten Alltag. Als ich im Mai nämlich aus
beruflichen Gründen nach Berlin flog, nahm neben mir am Fenster eine junge Frau Platz, gekleidet in die Uniform einer
heute so genannten Flugbegleiterin. Zierlich war sie, mit natürlichen, hellblonden, schulterlangen glatten Haaren,
nicht älter als 30. Im feinen Gesicht trug sie eine randlose Brille, die ihr, so bildete ich mir ein, das Aussehen
einer Dozentin für höhere Mathematik mit gerade deswegen gesteigerter erotischer Aura gab. Sie lächelte nur kurz,
als ich aufstand um sie an den Fensterplatz zu lassen. Gerade las ich im Buch, vor mir den wunderbaren Sebaldschen
Satz "Salvatore war mit seinem Bericht zu Ende und die Nacht war aufgegangen" und sagte mir, jeder andere Autor hätte
geschrieben ‚es war Nacht geworden' oder ‚die Nacht war hereingebrochen', Sebald aber schreibt ‚Die Nacht ist
aufgegangen' während dies also umging in meinem Kopf und ich mich begeisterte an der aufgehenden Nacht, da schlug
die zartblonde Flugbegleiterin mit einem raschelnden Ruck ihre für den Platz eines Flugzeugsitzes viel zu große,
unhandliche Boulevardzeitung auf und meine Aufmerksamkeit wurde gelenkt auf die nicht zu übersehende, sozusagen ins
Auge springende, die halbe Seite der Zeitung einnehmende und mit einem Farbfoto eines von schräg hinten aufgenommenen,
weißhaarigen, an einem Schreibtisch sitzenden Mannes, unterlegte Titelzeile:
Gunter Sachs hat sich am Schreibtisch in den Kopf geschossen.
"Ist der Schreibtisch", so wird die von Sebald erfundene Figur des Jaques Austerlitz einmal gefragt, "Ist der
Schreibtisch vielleicht der Platz der Gespenster?"
II.
Sebald hat am liebsten ein solcher sein wollen, wie Austerlitz einer gewesen ist. Und weil er nicht so war, hat Sebald
ihn sich zusammengesetzt aus Versatzstücken erdachter und erfundener, vielleicht auch realer Biographien: Als ideales,
widerstandsloses, ihm ausgeliefertes GESPENST für alle seine Wünsche und Ängste, für alles, was er schon immer einmal
hatte sagen wollen, für alle seine teilweise schon ins Neurotische reichenden Phantasien über die Folgen des Unglücks
der ins Hitlereuropa hineingeborenen und hineingeratenen Menschen, und die durch die Katastrophe der Judenvernichtung
und des zweiten Weltkrieges endgültig untergegangene Zeit, hat er die Geschichte des "Austerlitz" erfunden und doch
nicht erfunden. Der Text trägt daher, wie alle Texte Sebalds, keine Gattungsbezeichnung. Der Name ‚Austerlitz'
(der bei Sebald nichts mit dem Ort der berühmten Schlacht zu tun hat) evoziert lautmalerisch Wörter wie Auschwitz,
Auschowitzer Quellen (in Marienbad), Ausgesetzt, Aussätziger, Ausland, Auswanderer, Ashawer, der Name des ewig wie
Austerlitz herumwandernden Juden. Was aber hat er mit mir zu tun?
Austerlitz ist keine individuelle Romanfigur, so wie alle Figuren in Sebalds Texten keine Individuen sind. Sie sind
noch da figurative Erfindungen immer gleicher Art und gleichen Wesens, wo ihnen möglicherweise eine reale Biographie
eines realen Menschen zugrunde liegt (wie vermutlich bei einigen der in dem Band "Die Ausgewanderten" geschilderten
Figuren). Die sebaldschen Figuren unterscheiden sich bestenfalls durch das, was sie erzählen oder über sie aus
Tagebuchaufzeichnungen und Skizzen gesagt wird, nicht wie sie erzählen oder wie über sie erzählt wird. Das "Wie" ist
immer selbaldisch. Aber auch ihre Erzählungen und das, was der Autor über seine Figuren berichtet und sagt, sind nur
immer Variationen ein und desselben Themas. Die Figur des Austerlitz gewinnt auch nicht etwa deshalb an Individualität,
weil Sebald ihn beschreibt als "beinahe jugendlich wirkenden Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst
nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm." Damit wird der Vorstellung Raum
verschafft, die Sebald darüber gehabt haben mochte, wie sein eigener, ungeliebter und ewiger Soldatenvater sich ihn
als Sohn gewünscht haben mag und wie er doch nie aussah und wirkte. Aber auch hier ist plötzlich wieder der
unwahrscheinlichste und unglaublichste Bezug oder eine von mir selbst mir eingeredete und eingebildete Verbindung
hergestellt zu mir selbst, zu meinen seltsam gewellten, dazu noch blonden Haaren, die ich - Käthe-Kruse-puppenartig,
in den entscheidenden frühkindlichen Jahren identitätsstehlend - vor meinem vierten Lebensjahr trug (eine Zeit, an
die ich mich nicht mehr erinnere). Nichts ist zweifelhafter als der Zufall. Die Übereinstimmung der blonden Haare
mit dem angeblichen Kinderbild jener erfundenen Figur Austerlitz im gleichnamigen Text jedenfalls ist frappierend.
Ausstaffiert wie Puppen sind wir da beide; er als kleiner Prinz, der er nicht war, ich als kleines Mädchen, das ich
nicht war, beide bloße Wunschvorstellungen ihrer Erzeuger, jedenfalls ich aber nicht ich selbst, rede ich mir ein.

Austerlitz redet selbstverständlich den sebaldischen Stil, er ist ständig, wie Sebald es zu sein schien, unterwegs
und macht sich wie dieser an allen möglichen Orten ständig Aufzeichnungen und Skizzen. Austerlitz lebt wie Sebald in
England. Aber - und jetzt beginnen die Wunschphantasien Sebalds - als Vierjähriger wurde Austerlitz von seiner
jüdischen Mutter 1939 mit einem Rucksack versehen, in Prag in einen Zug gesetzt und nach England geschickt, um ihn
vor der sich abzeichnenden Vernichtung zu bewahren. Die Spur der Mutter verliert sich im Konzentrationslager
Theresienstadt, die des Vaters im von den Deutschen besetzten Paris. Als Kind in England wächst Austerlitz in
einem englischen Pfarrhaus auf, kennt seine Identität nicht. Nachdem er seinen Namen erfahren und seine Ausbildung
abgeschlossen hat, macht er sich auf, seine Herkunft zu enträtseln und seine Erinnerung an die verlorene Kindheit
in Prag wieder zu gewinnen. Am Ende des Buches zieht Austerlitz immer noch umher, in Frankreich, um Spuren seines
Vaters zu finden. Erlöst ist er nicht. Weder ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik noch die -
vorangegangene - Zuneigung einer Frau vermochten ihn zu erlösen, d.h. wohl: Von sich selbst zu befreien.
Die Erfindung dieser Figur erlaubt es nun Sebald, Geschehnisse, Erlebnisse und Ereignisse, Gefühle, Gedanken,
persönliche, intellektuelle Eigenschaften, architektonische und landschaftliche Eigenarten und die
unwahrscheinlichsten, wie er schreibt, "keinem vernünftigen Menschen" widerfahrenden Zufälle sich auszudenken
und auszuarbeiten, um seinem Grundthema, Erinnerungsverbot und Schweigen, Verlust und Melancholie Raum zu schaffen
bis hinein in wahnhafte Vorstellungen und sich so seiner abgründigen, aber nicht grundlosen Ängste zu erwehren. Es
handelt sich um eine Kopfgeburt Sebalds, um ein erzählerisches, durchschaubares Konstrukt allein zu dem Zweck, ein
zweifach stigmatisiertes Schicksal exemplarisch darzustellen. Das allerdings ist nicht wenig.
Und je mehr ich als Leser in diese Welten und Ängste, Vorstellungen, unwahrscheinlichen Zufälle und sprachlichen
Vergangenheitsreisen eintauchte, desto mehr gewannen sie für mich eine mit meiner eigenen Biographie und
Lebensmomenten verbundene, mich bald selbst ängstigende, unheimliche Bewandtnis. So intensiv wurde in mir während
des Lesens mitunter das Gefühl, hier sei doch ich gemeint, hier schreibe doch in Wirklichkeit jemand über mich, hier
sei doch einer mit meinen Erinnerungsbruchstücken, meiner Phantasie und Gefühlswelt bestens und besser vertraut als
ich selbst, so sehr, dass ich schon zu zweifeln begann an meinem Verstand. Denn meine äußeren Lebensumstände haben
doch weder mit jenen des Sebald noch erst recht mit jenen seiner Wunschfigur Austerlitz etwas zu tun.
"Seit meiner Kindheit und Jugend," lässt Sebald seinen Austerlitz sagen, "habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit
bin." Dieses Gefühl kenne ich nur allzu gut, und woher es stammt, kann Austerlitz anhand seiner ganz frühen Kindheit
aufklären, nicht aber ich bis zur Niederschrift dieser Sätze. Ich kann nur ahnen. Verbunden damit ist die Gewissheit,
dass alle anderen Menschen um mich herum Lebensregeln kennen, die allein mir selbst nicht offenbar geworden sind.
"Tatsächlich bin ich während all der von mir in dem Predigerhaus in Bala verbrachten Jahre nie das Gefühl
losgeworden, etwas sehr Naheliegendes, an sich Offenbares sei mir verborgen." erklärt Austerlitz. Banale
äußerliche und biographische Ähnlichkeiten mit Sebald und mir, seinem Leser, scheinen solche Übereinstimmungen
zu beglaubigen: Beider Väter geraten im Gefolge des 2. Weltkrieges in französische Kriegsgefangenschaft. Was sie
dort erlebten ist offenbar weder dem Autor von seinem, noch mir, dem Leser von meinem Vater bekannt geworden. Wie
bei Sebald, dem schier ewig Fußreisenden, der ich aber gar nicht bin, ist das Schuhwerk bei mir regelmäßig schnell
"innwendig in Fetzen aufgelöst", und allein dieser übereinstimmende Zustand löste ein Entsetzen in mir aus.
Tiefer gehen und weit beunruhigender sind die von Sebald so genannten "melancholischen Rituale", welche Sebald sich
und Austerlitz zuschreibt und die ich während des Lesens mich teilweise erinnernd entdecke bei und in mir. Da ist
das bereits erwähnte Studieren von Landkarten und Atlanten jeder Art wie eine Sucht. Dabei erinnere ich mich an
dieser Stelle, dass ich schon als Schüler die Zeitschrift "Sterne und Weltraum" abonniert hatte, weil sich mir
offenbar der Planet Erde als zu klein erwies für meinen frühen Wunsch des Verschwindens irgendwohin ins
extraterrestrische. Zu den von mir durchforsteten Atlanten gehörten auch Sternatlanten. In Bäume bin ich mit
einem damaligen Schulfreund, der es nachher gebracht hat zum Gymnasiallehrer für Physik, hinaufgeklettert, um
dort oben stundenlang und tagelang die phantastischen, jede Logik und jedes physikalische Gesetz missachtenden,
so genannten Science-Fiction-Geschichten des "Perry Rhodan" zu verschlingen, ohne mir einen Begriff zu machen
von der geradezu primitiven anthropozentrischen Darstellung von nichts anderem als der Ausübung menschlicher Macht,
der Kolonialisierung, Unterdrückung und Vernichtung des uns Fremden, verlagert in den von uns Menschen noch nicht
beherrschten Weltraum und daher harmlos erscheinend. Anders als letztendlich glücklicherweise in der realen Welt
und noch in der jüngsten realen Vergangenheit, siegt Perry Rhodan als irgendwie bestimmter, machthabender Vertreter
der Menschen im Weltall am Ende immer über die Fremden und das Fremde. Hier setzt sich im Literaturgenre der
sogenannten "science fiction" noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verharmlosend fort, was an
faschistoiden Vorstellungen des reinrassigen Volkes und Führertums trotz oder wegen der Katastrophe des Zweiten
Weltkrieges noch immer im deutschen Gedankengut und in der deutschen Phantasiewelt unbewusst sein Wesen trieb .
Denn dieser ‚Perry Rhodan' war eine rein deutsche Erfindung und ein rein deutscher Erfolg.
Zu den Ritualen der Melancholie, die der Verfasser dieser Zeilen mit jenem Austerlitz nicht zufällig gemeinsam hat,
gehört das Aufsuchen jener "Glücks- und Unglücksorte", von denen Menschen wegfahren, hinausfahren, verschwinden.
Sind es bei Austerlitz Bahnhöfe, vor allem Pariser Bahnhöfe, die er aufsuchte, um "das Einfahren der
Dampflokomotiven in die rußschwarzen Glashallen sich anzuschauen oder das leise Davongleiten der hellerleuchteten,
geheimnisvollen Pullmanzüge, die in die Nacht hinausfuhren wie Schiffe auf die unendliche Weite des Meers," sind
es bei mir tatsächlich Schiffshäfen, gibt es bei mir die Hafenmanie. Immer, wenn ich in eine Stadt am Meer gelange,
suche ich gleichsam manisch angezogen, zuallererst, bevor ich noch irgendwelche sogenannte Sehenswürdigkeiten, wenn
überhaupt, besichtige, ihren Hafen auf und sei er noch so klein und unbedeutend. Unzählige Häfen von Aberdeen und
Alexandria über Bergen, Bremerhaven, Buckey, Cefalu, Cork, Danzig, Dublin, Flensburg, Georgetown, Hamburg, Helsinki,
Kiel, Kopenhagen, Lavrion, Le Havre, Marsa-Matru, Piräus, Pula, Rijeka, Rostok, Tallin, Tanger, Rab, Singapur,
Vergl. zum faschistischen Charakter der Perry Rhodan - Serie z.B. Ronald M. Hahn, Wissenschaft + Technik = Zukunft ,
Geschichte und Ideologie der SF-Hefte in E .Barmeyer, Science Fiction, München 1972, S.219 ff
St. Petersburg, Stockholm, Triest, Trondheim, Venedig, Wilhelmshafen, Wismar, Zadar usw. usw. vermischen sich in
meinem Gedächtnis zu einem einzigen Ort des niemals zu stillenden und gleichzeitig wegen der mir eigenen, tief
im Inneren verankerten Unentschlossenheit und Willensschwäche niemals erfüllten und in Wirklichkeit auch niemals
erfüllbaren Wunsches hinauszufahren aufs Meer, irgendwohin. Denn irgendwohin ist nirgends. Deswegen haben auch
alle Reisen zu diesen Häfen, ihre Durchwanderung und fotografische Beglaubigung keinerlei Folgen gezeitigt für
meinen schon manischen Wunsch, hinauszufahren aus diesen Häfen. Schon als Halbwüchsiger im etwa sechzehnten
Lebensjahr habe ich eine Erzählung geschrieben mit dem Titel "Nach neuen Meeren", (welcher - glaube ich - seinen
Ursprung hat in einem Gedicht Nietzsches) in welcher die Hauptperson ihren Freunden und Bekannten erklärt, dass
und warum er jetzt mit seinem Segelboot aufbricht hinaus aufs Meer ohne Ziel und ohne die Absicht, wiederzukehren.
Wilfried Erdmanns Bericht über seine zweite Einhandweltumseglung mit dem Titel "Allein gegen den Wind" habe ich
wie Sebalds englische Wallfahrt zweimal hintereinander fast unterbrechungslos gelesen. Die Tatsache, dass ich
tatsächlich für kurze Zeit zur See gefahren bin, ändert nichts an der Tatsache, dass ich tatsächlich nicht
hinausgefahren bin, denn diese eigene Seefahrt war eine militärische, letztlich also einer Zerstörung dienende
Fahrt, die ich vor Wiederwillen wieder aufgegeben habe nach einem Jahr. Seefahrt - lege ich mir heute als Ausrede
zurecht - ist schon immer genährt worden vor allem auch von Eroberungswillen, Macht, Unterwerfung, Vernichtung
und Einverleibung des jeweils vorgefundenen Fremden. Die Seefahrt war niemals Heimkehr, ihr Ziel war niemals das
Zuhause, mit anderen Worten: Bei sich selbst anzukommen. So wie jedes Reisen eine vergebliche Flucht vor sich
selbst ist, wie schon der unruhige aber immer an einem Ort lebende Konstantinos Kavavis wusste:
Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße-
Gib die Hoffnung auf. Hast Du dein Leben auf diesem kleinen
Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan.
III
Sebald hat sich mit Austerlitz eine Figur ausgedacht und zusammengesetzt, die, wäre sie in Prag geblieben, aller
Wahrscheinlichkeit gemäß, so sollen wir Leser schlussfolgern, in einem Konzentrationslager ermordet worden wäre.
Diese dramatische Ursituation erlaubt es Sebald, das Zuhause-Bleiben als sicheren Tod zu beschreiben, das Verlassen
des Zuhauses als Mittel des Überlebens darzustellen und als Preis dafür das ‚Sich- selbst- Verlieren' sich und uns
als Rechnung zu präsentieren: Soweit ich zurückblicken kann, sagte Austerlitz, habe ich mich immer gefühlt, als hätte
ich keinen Platz in der Wirklichkeit, als sei ich gar nicht vorhanden. Damit formuliert Sebald/Austerlitz ein mir
selbst wohlvertrautes Gefühl.
Sebald selbst hat sein Zuhause nie gefunden, auch und gerade in seinem Geburtsort Wertach nicht. Zu seinen am meisten
beeindruckenden Texten gehört daher "Il ritorno in patria", worin er seine erste Rückkehr seit Jahrzehnten nach Wertach
schildert. Schon der Titel in italienischer Sprache demonstriert Distanz, vielleicht Angst. In möglicherweise
ironisierender Absicht soll er eher an Opern Händels erinnern, als an den Versuch, die Panik davor zu bannen, dass
er womöglich doch in sein Vaterland (das deutsche Wort meidet der Autor peinlichst) zurückkehrt und sich dort findet.
Sebald formuliert die entscheidende Stelle so: "Obzwar im Verlaufe dieser langen Zeit ….viele der mit W. verbundenen
Örtlichkeiten ….in meinen Tag- und Nachtträumen beständig wiederkehrten und mir jetzt vertrauter schienen, als sie es
vormals gewesen waren, lag das Dorf, wie ich mir bei meiner späten Ankunft dachte, weiter für mich in der Fremde als
jeder andere denkbare Ort." Damit hat er mir aus dem Herzen gesprochen, der ich meinen Geburtsort früh verlassen habe,
weil ich mit ihm nichts zu tun haben wollte. Dann aber entfährt Sebald die erleichternde und zugleich verräterische
Beruhigung darüber, dass er glücklicherweise nicht finden würde, was er angeblich sucht: sein Zuhause, sich selbst:
"In gewissem Sinne war es mir eine Beruhigung, dass ich jetzt, bei meinem ersten Rundgang durch die in einem bleichen
Licht daliegenden Straßen, alles von Grund auf verändert fand."
Wie kaum in einem anderen Text habe ich die mir so vertraute Abwehr des Ortes meiner Herkunft und zugleich seine
stetige Suche so intensiv wiedergefunden, wieder gespürt wie bei Sebald und seinem Homunkulus Austerlitz. Selten
habe ich bei einer Lektüre die eigene, ungewollte ‚Geworfenheit' (Heidegger) in eine mir fremde Welt, die ich mir
ständig aneignen will und doch nicht aneignen kann, so intensiv wieder erlebt wie während der Lektüre der Texte
Sebalds. Die ‚fremde Welt' meint sowohl die geografische ("und also war Deutschland, sagte Austerlitz, für mich
wohl das unbekannteste aller Länder."), als auch die ganze Welt außerhalb meiner selbst. Austerlitz: "Es nutzt mir
offenbar wenig, daß ich die Quelle meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergangenen Jahre
hinweg mit größter Deutlichkeit sehen konnte, als das von seinem vertrauten Leben von einem Tag auf den anderen
abgesonderte Kind: die Vernunft kam nicht an gegen das seit jeher von mir unterdrückte und jetzt gewaltsam aus mir
hervorbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins." Gerade das Fehlen jeder psychologischen Attitüde oder
sogar psychoanalytischen Erklärungsversuches in den Sebaldischen Texten macht ihren Sog für mich aus und öffnete
mir so die Augen für meine eigene, mir zum Teil aufgepfropfte, zum Teil selbst eingeredete Traurigkeit übers eigene
So-Sein.
Austerlitz, diese Fluchtfigur Sebalds, sucht seinen Vater am Ende des Textes noch immer, weil, so erkläre ich es mir,
er von ihm etwas erwartet, was er noch nicht bekommen hat. Und wenn er ihn nicht gefunden hat, dann sucht er ihn noch
heute und kann ihn also - aus der Sicht Sebalds sozusagen glücklicherweise - nicht befragen. Sebald hat an keiner
Stelle berichtet, dass er seinen Vater irgendetwas gefragt hätte. Das Schweigen über die Greul des Krieges und seiner
Opfer, das er der deutschen Nachkriegsliteratur vorwirft, schweigt er selbst in Bezug auf sich. Austerlitz ist für
Sebald auch eine literarisch sorgfältig entworfene und keinen Widerspruch duldende Strategie des Ausweichens vor sich
selbst. Denn wer wollte schon dem Schicksal eines kleinen jüdischen Jungen aus Prag widersprechen, der in seiner
Person das Überleben der Judenvernichtung durch die Nazis und das dadurch auslelöste Sich-selbst-in-Frage-stellen
und ewige Suchen verkörpert.
So ist Sebald auch einer der deutschesten der deutschen - späten - Nachkriegsliteraten: Weil er sich hineinversetzt
in ein jüdisches Opfer des deutschen Faschismus, derart, dass er ihn für sich sogar erfindet, dessen Rolle er
vollkommen an- und übernimmt und in den er seine eigenen Gefühle, Ängste, Aggressionen usw. hineinverlegt als Kind
eines unverbesserlichen Mitläufers des Faschismus und Soldatenvaters, um sich zu entlasten von dieser Herkunft aus
Schweigen und Verdrängen, die uns anhaftet und verbindet. Ich weiß, dass eine solche Entlastung tatsächlich keine
ist.
Sebald, Austerlitz, ich: Ein Triumvirat sich ausgestoßen fühlender, vermeintlich vaterloser alter Söhne, der Mittlere
eine Projektionsfläche für den Autor einerseits und mich als Leser andererseits, so lange, bis der Bann der
Vergangenheit gebrochen ist. Für Sebald ist es dafür zu spät. Es war gemäß seiner Haltung gewissermaßen folgerichtig,
dass am 14. Dezember 2001 unterwegs, auf einer Straße durch einen Autounfall, sein Leben, wie vor ihm diejenigen des
Albert Camus, Antonio Gaudi, Italo Svevo und anderen, unvermittelt abriss. -