1

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

Wer vernünftig ist, denkt immer daran, dass es zwei

Arten und Gründe für die Sehstörungen der Augen gibt,

den Übergang von Licht zum Dunkel und umgekehrt.

Platon, Politeia, Buch VII, 518a

Höhlenausgang

Erste Sitzung.

Wo ich anfangen soll, weiß ich nicht. Am Anfang? Aber wo ist

der Anfang? Ganz vorne? Das dauert doch viel zu lange. Ich

weiß nicht, wann alles angefangen hat. Ich habe das auch gar

nicht bemerkt. Ich komme da aber nicht mehr ohne Hilfe

heraus.

Ich simuliere nicht.

Mir fehlen die Wörter. Um alles auszudrücken. Das ist schwer

zu beschreiben. Die Sprache, verstehen Sie? Ich suche nach

Worten. Wenn ich einen Satz anfange, weiß ich nicht, wie er

endet. Auch jetzt nicht, hier.

Ich habe das Gefühl, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sind,

dass etwas nicht stimmt. Die Wirklichkeit zeigt sich immer

zusammen mit Falschem, Erfundenem, Ausgedachten, wie

alles, was der Breite geschrieben hat. Ich habe auch ständig

das Gefühl, dass alle genau Bescheid wissen, Sie auch. Sie

haben ja studiert. Alle wissen genau Bescheid, nur ich nicht.

Irgendetwas wird mir vorenthalten, von allen vor mir verborgen.

Warum, weiß ich nicht. Meine Eltern haben mir

Entscheidendes nie gesagt und der Breite, der angeblich alles

weiß, erst recht nicht. Wir werden ja sehen, ob Sie mir alles

sagen.

Am liebsten liege ich in einer Blumenwiese und schaue am

Himmel den ziehenden Wolken nach. Dann bin ich eins mit der

Natur.

Verstehen Sie, was ich meine?

Als Kind war ich sehr schüchtern. Wenn jemand Geburtstag

hatte, konnte ich ihm nicht gratulieren, weil ich mich schämte.

Ich bin unter den Tisch gekrochen. Der Breite hat mich höllisch

ausgelacht. Der Breite ist mein Bruder. Ich nenne ihn immer

so. Nie nenne ich ihn bei seinem richtigen Namen. Den nehme

ich nicht in den Mund. Macht die ganze Welt ja auch so. Für

mich hat er auch keinen richtigen Namen.

Ich schaue gerne aus dem Fenster auf die Straße, als

Zuschauer. Ich muss dann nicht bei dem mitmachen, was die

Menschen da draußen tun. Sondern kann mir ein Urteil

2

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

darüber bilden. Im Kopf, verstehen Sie? Das sieht niemand. Ich

habe noch nie meinen Geburtstag gefeiert. Ich verstehe auch

vieles nicht. Z.B. ob ich nicht schon viel zu alt für das hier bin.

Sie sagen ja gar nichts. Hat das überhaupt noch einen Sinn?

Ich habe das Gefühl, nie erwachsen geworden zu sein.

Mir ist jetzt alles zu viel. Ich sehe keinen Ausweg. Ich brauche

professionelle Hilfe. Sie sind der Profi. Ich bin hilflos, das

müssen Sie einsehen. Ich weiß nicht, wie das alles gekommen

ist, und wo ich mich befinde, existentiell meine ich, verstehen

Sie? Natürlich weiß ich, dass ich in Ihrer Praxis bin.

Ich kann doch hier über mich reden, ohne mich schuldig

fühlen zu müssen, oder?

Fünf Jahre mindestens, meinen Sie? Nein, das kann doch nicht

sein. Fünfmal zweiundfünfzig multipliziert mit 50 Minuten. Das

sind ja über 216 Stunden! Minimum, in meinem Fall, sagen

Sie? Oh Gott. Ist es so schlimm?

Ich fühle mich klein. Das kommt vom Breiten, ich hasse ihn.

Sie müssen mich von meinem Bruder befreien. Verstehen Sie,

was ich meine?

Also mehr Systematik erwarten Sie? Systematik war nie meine

Stärke. Und wo sollen wir denn gemeinsam hingehen? Ich

verstehe das nicht. Wildes Denken, das ist es doch. Ich hätte

ihnen jetzt von meinen Träumen erzählt. Worin ich nie

fortkomme, nie dahin gelange, wo ich hinwill. Nein, später?

Ich schildere Ihnen jetzt eine meiner ersten Erinnerungen an

den Breiten, jedenfalls hat sie sich mir so eingeprägt: Ich war

nicht älter als fünf. Was die vorher mit mir gemacht haben,

habe ich vergessen. Mein neunmalkluger, viel älterer Bruder

fragte mich arrogant von oben herab: Na, wie viel ist denn 1

und 1? Verstehen Sie? So ging der schon immer mit mir um.

Immer von oben herab. Auch heute noch. Ich habe ihm aus

Überlegung, so klug war ich damals als Kind schon, die einzig

logisch richtige Antwort gegeben. Eine Antwort, als ob diese

Frage noch nie vorher behandelt worden wäre. Die Antwort

halte ich auch heute noch für richtig. Denn Kindermund tut

Wahrheit kund. Darauf bin ich stolz. Also nicht „Zwei“, denn

das wäre die falsche Antwort. Wenn ich eine „1“ habe und zu

dieser eine weitere „1“ hinzufüge, dann habe ich zwei Einser,

also eine 11. Verstehen Sie, was ich meine? 1+1 = 11. Das habe

ich ihm geantwortet, damals. Das ist auch logisch. Die

Einführung eines weiteren Zeichens, der „2“ nämlich, als

Antwort ist unlogisch und nur reinen Nützlichkeitserwägungen

geschuldet. Also von wegen Erkenntnis a priori oder

analytischer Satz für die Behauptung 1 + 1 sei 2. Nichts da.

Das ist nur ein Trugschluss, weiter nichts.

Der Breite hat damals nicht versucht, mich mit Worten zu

widerlegen, das hätte er ja auch nicht gekonnt und das wusste

3

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

er. Deswegen hat er zugeschlagen, damals, mit der Faust. Ja,

er hat ein kleines Kind – seinen eigenen Bruder! - mit der Faust

zu Boden geschlagen. Stellen Sie sich das doch einmal vor! Er

war ja schon immer ein Schläger. Er schlägert. Später, das

wissen Sie vielleicht, hat er sich ja als Ringer ausbilden lassen

und an Wettkämpfen teilgenommen. Das entspricht

vollkommen seiner Natur. Dabei hätte er bleiben sollen. Dann

wäre der Menschheit viel erspart geblieben.

Verstehen Sie, was ich meine? Diese Geschichte ist in mir drin

und ist da nicht mehr raus zu kriegen. Ich leide unter ihr.

Am liebsten zeichne ich. Ich zeichne im Stillen vor mich hin.

Zeichnen hilft gegen Krankheit und Tod. Als Maler hat er sich

natürlich auch versucht, er konnte ja nichts auslassen. Der

Breite meine ich. Das hat er dann aber wieder aufgegeben, weil

er es eher mit den Worten hat. Er leidet ja an Logorrhö. Das hat

er dem Sokrates zu verdanken. Der hat zu Recht den

Schierlingsbecher bekommen. Doch! Malen hat den Vorteil,

dass man keine Wörter braucht, an denen ja die Bedeutungen

hängen wie schwere Steine und dann gehen sie mit ihnen

unter. Hat der Breite das je begriffen? Was meinen Sie?

Ich soll für die nächste Sitzung ein Bild malen? Was denn für

ein Bild? Für was? Sie geben mir das Stichwort ‚Baum‘ und ich

soll dazu ein Bild malen? Warum? Wir besprechen das dann?

Und das soll mir helfen? Das glaube ich nicht.

Zweite Sitzung

Warum ich ständig diese große Sonnenbrille trage? Weil meine

Augen lichtempfindlich sind. Ich leide an Photophobie. Ja, ja,

das ist ärztlicherseits festgestellt. Seit der Schlacht bei Delion,

wo ich verwundet wurde, weil mich das Sonnenlicht blendete.

Seitdem tut Sonnenlicht mir weh. Ich meide es, wo es nur geht.

Natürlich war ich deswegen schon bei einem halben Dutzend

Ärzte. Eine körperliche Ursache hat keiner feststellen können.

Ärzte können ja nie etwas feststellen. Ich helfe mir eben mit der

Sonnenbrille. Vor allem kann ich mich mit ihr schnell an

dunkle Räume gewöhnen. Ein immenser Vorteil. Ich scheue

das Tageslicht. Ja, ja, denken Sie nur, was Sie wollen. Wie ich

mich jetzt fühle? Du liebe Zeit!

Hier ist das Bild. Es ist mir schwergefallen, weil ich nicht weiß

was das Ganze soll. Ich kann nichts zustande bringen, wenn

ich den Sinn nicht verstehe. Ich bin aber auch drauf, auf dem

Bild. Da, dort. Wenn Sie mich nicht gleich erkennen: Ich liege

im hohen Gras unter dem Baum rechts. Meine Konturen

verschwimmen auf dem Bild mit dem hohen Gras und den

Blumen. Ich bin ja mitten unter ihnen, weil ich eins bin mit

ihnen. Auf dem Bild meine ich. Deswegen sehen Sie mich nicht.

4

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

Ich bin aber drauf. Sie sagen ja gar nichts. Ich wusste gleich,

dass das Bild nicht gut ist und es Ihnen nicht gefällt. Man ist

nicht immer in Form. Sie trauen mir auch nichts zu.

Beim Sokrates gab es einen Schüler, der lief ständig gegen eine

unsichtbare Wand. Wirklich. Es war keine Wand zu sehen,

aber er lief dagegen. So ist es auch bei mir. Nur dass bei mir

die unsichtbare Wand aus Gummi ist. Ich lebe in einer

Gummizelle, verstehen Sie. Die ganze Welt ist eine unsichtbare

Gummizelle.

Die haben mir zu Hause auch nie etwas zugetraut. Das kannst

Du nicht, lass die Finger davon. Hieß es ständig. Deswegen bin

ich auch handwerklich völlig unbegabt. Der Breite hat das

natürlich nicht nur mitgemacht, sondern übertrieben penetrant

bei jeder Gelegenheit losgelassen. Der war ja auch ein

überintelligenter Überflieger. Ich dagegen war ein ungewolltes

Kind. Woraus ich das schließe? Ich bin im Dezember geboren,

wurde also während der Dyonysien gezeugt. Ein Unfall des

Überschwangs beim Feiern, kein Ergebnis der Freude. Das

habe ich immer zu spüren bekommen, von allen, ständig, vor

allem von den Eltern. Das war eine Abtreibung nach der

Geburt, sage ich Ihnen. Doch, doch! Der Breite war immer

besser, in der Schule, überhaupt der Liebling aller. Der wurde

mir mein ganzes Leben lang vorgehalten als leuchtendes

Beispiel. Können Sie das nachvollziehen? Verstehen Sie? Sie

müssen so etwas verstehen, Sie sind vom Fach.

Sie erklären ja gar nichts weiter zu meinem Bild. Dabei müssen

Sie doch herausfinden, wer ich bin. Ich selbst weiß es ja nicht.

Geht das nicht aus dem Bild hervor? Selbstverständlich bin ich

Glaukon, der jüngere Bruder des Breiten und Enkel des

gleichnamigen Vaters meiner Mutter Periktione. Wer soll ich

sonst sein? Meinen Sie, es würde sich jemand freiwillig an

meine Stelle setzen und Ihnen vorspiegeln, er sei Glaukon, der

Bruder des Breiten, also ich, während ich es in Wirklichkeit gar

nicht bin? Das macht doch keiner freiwillig, glauben Sie mir,

denn er hätte davon nichts, gar nichts. Lieber hieße ich auch

Glaukos, das könnte ein männliches Epitheton des Meeres

sein, als ein fischgestaltiger, weissagender Meerdämon.

Ich rede etwas unordentlich, nicht wahr? Aber die Dinge sind

so kompliziert, das müssen Sie verstehen.

Ein Traum kann nicht unmittelbar beobachtet werden.

Trotzdem wissen alle, dass es Träume gibt, weil man schon

selbst welche hatte. Das halte ich für wichtig. Wir sollten uns

über meine Träume unterhalten. Das halte ich für wichtiger als

alles andere.

Ich wäre selbstverständlich viel lieber der andere Glaukon, der

Stratege und Flottenführer bei Samos im Jahre 441. Der war

ein Handelnder, ein Entscheider, ein Macher. Alle gehorchten

ihm. Das Meer hat mich übrigens schon immer angezogen und

5

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

begeistert, seine Bläue, seine Endlosigkeit, seine

Gleichgültigkeit uns Menschen gegenüber. Mit dem Meer

konnte der Breite nichts anfangen. Er hielt alles im Meer als

vom Salz angefressen. Deswegen liebe ich das Meer.

Nein, ich bin nicht gespalten. Die Identität des Strategen

erträume ich mir ausschließlich in Tagträumen, bei vollem

Bewusstsein, das habe ich unter Kontrolle. Wenn ich

tagträume, kann ich nicht handeln. Das ist vielleicht ganz gut

so für alle.

Also: Ich sitze in einer Höhle mit anderen um ein Feuer herum.

Das Feuer gibt Licht und wärmt. Die Wärme spüre ich deutlich.

Die Leute, die mit mir um das Feuer herumsitzen, manchmal

aufstehen, herumgehen und dann Schatten an die Höhlenwand

werfen, sind meine Verwandten. Ich sehe meinen Vater und

meine Mutter, natürlich den Breiten und meinen jüngeren

Bruder, meinen Großvater mütterlicherseits und andere. Sie

rennen herum, werfen Schatten und reden lautlos, ich höre

nichts. Irgendwoher weiß ich, dass ich nach draußen soll oder

will. Der Höhlenausgang liegt oben vor mir, ich kann ihn sehen,

auch das von dort einfallende Licht. Ich will aufstehen, kann

aber nicht. Ich müsste mich aufstützen und aufstehen, um da

hinauf zu gehen. Ich kann aber nicht, weil mich irgendetwas

hindert. Es ist, als ob ich ein schweres Gewicht auf beiden

Schultern trüge, das mich hindert, überhaupt aufzustehen.

Immer werde ich niedergedrückt. Ich komme nicht zum

Höhlenausgang. Als ich, immer noch sitzend, einmal den Kopf

in den Nacken werfe, sehe ich den Breiten über mir,

breitgesichtig lachend, der mit seinen beiden Ringerhänden

gewaltig auf meine Schultern drückt. Da erkenne ich, dass ich

seinetwegen nicht aufstehen und die Höhle verlassen kann. Er

brüllt. Ich erwache.

Wie? Sie geben mir das Stichwort ‚Höhlenausgang` und dazu

soll ich ein Bild malen. Ist das ihr Ernst? Nein? Ihr Todernst?

Das Bild wollen Sie in der nächsten Sitzung mit mir

besprechen? Schon wieder? Warum? Also das verstehe ich

nicht. Glauben Sie meinem Traum nicht?

Dritte Sitzung

Ich erinnere Sie jetzt einmal daran, was der mir alles in den

Mund gelegt hat bei seiner Geschichte, das muss ich jetzt

aufzählen, damit wir hier weiterkommen, nämlich, ich zitiere:

„Ich kann mir das vorstellen. Merkwürdig sind Gleichnis und

Gefesselte, von denen Du sprichst. Natürlich, wenn sie

gezwungen sind, ihre Köpfe unbeweglich zu halten ihr Leben

lang. Gewiss! Notwendigerweise! Ganz so, bei Zeus!

Notwendigerweise! Gewiss! So ist es! Nicht sofort wenigstens!

Natürlich! Notwendigerweise! Klar, so weit würde er allmählich

6

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

kommen! Gar sehr! Lieber wird er alles über sich ergehen lassen

als dort zu leben! Und wie! Sicherlich! Ich stimme zu, soweit ich

das beurteilen kann. Natürlich!“

Im ganzen Buch geht das endlos so weiter. Einmal wirft er mir

sogar vor, dass ich ihm nicht folgen könne.

Was sagen denn Sie nun dazu? Können Sie mir das erklären?

Ist das nicht eine Ungeheuerlichkeit? Ist das nicht bodenlos!?

Was bin ich denn da? Als was bin ich denn da aller Welt

vorgestellt? Als hirnlos bejahende Bruder, als der Claquer ohne

Verstand, als bedingungslos zustimmender, sich vor ihm

hinhundelnder Trottel? Als einer, der ihn nur bestätigt, immer

bestärkt und ihm stets recht gibt. Das ist das Schlimmste. Das

ist wirklich das Schlimmste.

Nein. Ein Bild habe ich Ihnen nicht gemalt. Ein Bild von mir zu

diesem Thema würde über mich nichts erklären. Glauben Sie

mir! Sie haben ja auch zu dem anderen Bild schon nicht viel

gesagt. Eigentlich gar nichts. Mitgebracht habe ich Ihnen

stattdessen einen Screenshot. Hier. Was sehen Sie? Ja! Genau!

Das Bild, das vor jedem auf dem Schirm erscheint, wenn er

Windows 10 öffnet! Einen Höhlenausgang! Einen

Höhlenausgang! Und um die Metaphorik noch zu steigern: Mit

Blick auf das Meer mit zwei Felsen darin! Perfide. Was soll ich

da noch malen? Mir wäre auch nichts anderes eingefallen.

Die Typen von Microsoft usw. haben uns alle im Griff. Mich

auch. Die meisten wissen das nur noch nicht. Ich aber weiß es.

Als ob uns Microsoft aus der Höhle des Platon hinaus führt!

Lachhaft! Das Gegenteil ist der Fall, sie führen uns hinein.

Sehen Sie sich doch nur die Smartphonemenschen an: Alle

laufen und stehen mit gebücktem Hals, Kopf nach unten, wie

Gefangene in Nordkorea, die man zum

Erschießungskommando führt. Hochheben können sie den

Kopf nicht mehr, drehen können sie ihn auch nicht. Und das

bei hellem Sonnenschein. Sie laufen gegen Straßenbahnen oder

fallen in Baugruben oder am Hafen ins Wasser. Sie fesseln sich

am Nacken selbst. Das müssen andere nicht mehr für sie tun.

Das ist das Inferno. Auf den Bildschirmen sehen sie dann die

Schatten, die Leute ihnen liefern, die sich so verhalten, als

seien sie Narren. In Wirklichkeit sind das gefährliche Tyrannen,

die uns steuern und unsere Zukunft beherrschen, verstehen

Sie? Wenn der Breite geahnt hätte, dass es so etwas einmal

wirklich gibt, dass seine Metapher einmal tatsächlich in reale

Wirklichkeit umschlägt.

Das alles führt uns nicht weiter, sagen Sie? Weil ich selbst kein

Bild gemalt habe? Weil auf dem Screenshot nichts ist von mir?

Haben Sie etwa auch ein Smartphone?

Ich selbst brauche ja kein Smartphone.

Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie meine große

7

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

Sonnenbrille irritiert. Sie sind ja ganz blass. Ist Ihnen nicht

gut? Geht es Ihnen schlecht? Soll ich einen Arzt rufen?

Nein, ich verberge nichts.

Ich bin total offen.

Ich bin der Idiot der Familie.

Die Welt ist so kompliziert.

Ich konnte mich nie wehren.

Mehrmals habe ich ihn ironisch „mein Sokrates“ genannt. Er

hat das tatsächlich ernst genommen.

Er hat nichts begriffen.

Ich verstehe nichts.

Ich muss für heute aufhören.

Ich bin total am Ende, wirklich.

Vierte Sitzung

Einmal ist ein Schiff, auf dem ich nach Hause fahren wollte,

kurz nach der Hafenausfahrt gesunken. Ich wurde mit einem

Beiboot gerettet, das wieder zurück in den Hafen gerudert

wurde. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich Angst. Aber gezeigt war,

was mir gezeigt werden sollte: Ich komme gar nicht erst weg. So

ist es immer: Ich habe keine Fahrkarte oder weiß den Weg

nicht oder finde den Koffer nicht, den ich packen muss oder der

Zug ist schon weg usw. Immer die gleiche Struktur der Träume,

immer. Sie zeigen mir: Du kommst nicht weg und erreichst

Dein Ziel nicht.

Was heißt das, frage ich Sie? Da ist doch etwas ganz schief und

tief drin in mir, in meinem Kopf, meine ich, verstehen Sie?

Dazu müssen Sie mir doch etwas sagen können! Wenn nicht

Sie, wer sonst? Dazu bin ich hier, damit Sie mir dazu etwas

sagen, damit Sie herausfinden, wer es ist, der immer solche

und keine anderen Träume hat. Und wie er sie abschalten

kann. Sie sagen ja gar nichts.

Nein, ich schreibe meine Träume nicht auf. Das kann man mir

nicht zumuten, dass ich diese Geschichten und Bilder noch

einmal schreibend wiederhole. Ein schrecklicher Gedanke. Ich

finde es merkwürdig, was Sie von mir alles erwarten.

Er hat sogar einmal gesagt, der Lügner, der fähig ist,

absichtlich oder wissentlich zu betrügen, sei dem Aufrichtigen

überlegen, denn er könne das eine wie das andere. Er hat

deutlich ein lügenhaftes Bewusstsein. Seine zurechtgebogene

Geschichte mit den gefesselten Höhlenbewohnern usw. ist von

Anfang bis Ende erfunden. Ich meine, dass er darüber mit mir

8

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

einen sogenannten Dialog geführt hätte. Das ist frei erfunden,

einfach gelogen! Der hat das mit mir nie besprochen. Er hat

meinen Höhlentraum, dem ich ihm erzählt hatte, genommen

und seine abstruse, völlig unrealistische Höhlengeschichte

daraus gemacht.

Ein solches Gespräch oder wie man das auch immer nennen

mag, wie es jetzt seit damals, als er sie zum ersten Mal

öffentlich machte, im Umlauf und im Weltbewusstsein ist, hat

es nie gegeben. Ich habe auch keine einzige Äußerung, die er

mir – ich muss schon sagen - unterjubelt, getan. Ich habe auch

nie „mein Sokrates“ zu ihm gesagt. Das hat er in seiner

unendlichen Eitelkeit selbst erfunden, um sich zu schmeicheln.

Abscheulich. Wie der mich ausgenutzt hat, meine Naivität.

Ganz böse.

Ich konnte mich dagegen nicht wehren. Nein, nein. Stellen Sie

sich doch mal vor, wie der Breite, breitbeinig und breitgesichtig

wie der ist, der Ringer, auf mich zugekommen wäre und mich

niedergeschlagen hätte. Der schlägt doch zu, wenn er sonst

nicht mehr weiterweiß. Verstehen Sie?

Ich habe mich zurückgezogen und wohne in einem kleinen

Haus an der Küste von Attika. Der ständige Blick aufs Meer,

das ist es, wissen Sie. Ich bin damit zufrieden.

Warum ich mich nicht selbst geschmeichelt fühle, dass er mich

offenbar nötig hatte, um seine Geschichte überhaupt zu

erzählen und mir auch manchmal doch durchaus kluge

Entgegnungen in den Mund legte?

Na hören Sie mal! So etwas ist völlig abwegig. Wollen Sie mich

irgendwie prüfen? Sie wollen mich doch nicht zu irgendeiner

unbedachten Äußerung provozieren? Ich bin jetzt verwirrt.

Dazu müssen Sie mir jetzt aber etwas erklären, sonst verstehe

ich das nicht!

Der Breite hat die Geschichte mit den gefesselten Unwissenden

drinnen in der Höhle und den wenigen Wissenden draußen im

Sonnenlicht doch nur erfunden, um sich bei dem Tyrannen in

Sizilien einzuschmeicheln. Der aber war doch klüger als er, der

Vieldenker und Spekulierer, und hat ihn abserviert.

Machtwillen und die dazugehörige Klugheit erfordern eben kein

Denken und keine Denker.

Hören Sie: Auf den Gedanken, die sichtbare Wirklichkeit sei

eine Scheinwirklichkeit, sie sei voller Schatten und Abbilder der

Ideen, während der unsichtbaren Welt der Ideen wahre

Wirklicht, wahres Sein zukommt, kann man doch nur

kommen, wenn man den ganzen lieben langen Tag nichts zu

tun hat und nichts arbeiten muss, weil andere das für einen

erledigen, und keine Verantwortung kennt und deswegen den

ganzen lieben langen Tag nur denkt. Man kann das Gehirn ja

nicht abschalten. Dann muss man doch Wahnvorstellungen

9

Fassung†vom†14Æ12Æ2017

bekommen, die mit den Tatsachen um einen herum nichts zu

tun haben. Dann muss man die Wirklichkeit um uns herum

für Trug- und Schattenbilder halten. Hören Sie: Jeder der

glaubt, dass diese eingebildete Welt das Wesentliche umfasst,

die Wahrheit und das wahre Echte darstellt, entzieht sich der

Wirklichkeit, dann gilt die Wahrheit nichts mehr und die

Einbildung in den Köpfen regiert die Welt. Und es waren doch

ausschließlich ‚große Denker‘, die jahrtausendelang seine

Höhlengeschichte auf- und ausgesogen haben für ihre eigenen

Zwecke wie einen Schwamm ja wie eine Auster! Das Geheimnis

der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.

Nein, mit dieser Sicht der Dinge disqualifiziere ich mich

keineswegs, vielleicht in einer Runde gewerblicher Denker, also

bezahlter Philosophen, weil die die Wahrheit fürchten, aber

nicht hier, bei uns. Bei uns geht es doch um die Wahrheit,

habe ich recht?

Nein, ich habe keine Wahnvorstellungen.

Ich habe auch noch nie gelogen, das können sie mir ruhig

glauben.

Das habe ich durchgehalten bis heute, sehen Sie mich an.

Ich will nichts wissen. Ich weiß auch nichts.

Ich weiß nicht einmal, dass ich nichts weiß.

Hören Sie: Die Dinge um uns herum sind doch, wie sie sind.

Was wir sehen von den Dingen, sind nur die Dinge, weil es nur

sie gibt. Hinter ihnen ist nichts. Alles andere ist nur in unseren

Köpfen. Bei den Menschen ist auch nichts weiter hinter den

Gesichtern. Da muss man nicht grübeln. Das Gesicht ist keine

Maske. Der Mensch ist das, was man im ersten

Sekundenbruchteil von ihm sieht. Die Umwege übers Denken

und Grübeln kann man sich sparen. Auch bei sich selbst.

Ich verspüre ein ungeheures Glücksgefühl bei dem Wissen,

dass mein Leben keine Bedeutung hat.

Ich bin heute elegisch. Gibt es denn nichts Positives, was Sie

mir sagen können. Dann wäre ich etwas fröhlicher, ja.

Was ist das? Eine Rechnung? Jetzt schon? Damit die

Einzelsummen nicht so hoch werden? Sie wollen kein Bild von

mir, sondern Geld?

©Ulrich Schäfer-Newiger, 2017