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Fassung†vom†14Æ12Æ2017
Wer vernünftig ist, denkt immer daran, dass es zwei
Arten und Gründe für die Sehstörungen der Augen gibt,
den Übergang von Licht zum Dunkel und umgekehrt.
Platon, Politeia, Buch VII, 518a
Höhlenausgang
Erste Sitzung.
Wo ich anfangen soll, weiß ich nicht. Am Anfang? Aber wo ist
der Anfang? Ganz vorne? Das dauert doch viel zu lange. Ich
weiß nicht, wann alles angefangen hat. Ich habe das auch gar
nicht bemerkt. Ich komme da aber nicht mehr ohne Hilfe
heraus.
Ich simuliere nicht.
Mir fehlen die Wörter. Um alles auszudrücken. Das ist schwer
zu beschreiben. Die Sprache, verstehen Sie? Ich suche nach
Worten. Wenn ich einen Satz anfange, weiß ich nicht, wie er
endet. Auch jetzt nicht, hier.
Ich habe das Gefühl, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sind,
dass etwas nicht stimmt. Die Wirklichkeit zeigt sich immer
zusammen mit Falschem, Erfundenem, Ausgedachten, wie
alles, was der Breite geschrieben hat. Ich habe auch ständig
das Gefühl, dass alle genau Bescheid wissen, Sie auch. Sie
haben ja studiert. Alle wissen genau Bescheid, nur ich nicht.
Irgendetwas wird mir vorenthalten, von allen vor mir verborgen.
Warum, weiß ich nicht. Meine Eltern haben mir
Entscheidendes nie gesagt und der Breite, der angeblich alles
weiß, erst recht nicht. Wir werden ja sehen, ob Sie mir alles
sagen.
Am liebsten liege ich in einer Blumenwiese und schaue am
Himmel den ziehenden Wolken nach. Dann bin ich eins mit der
Natur.
Verstehen Sie, was ich meine?
Als Kind war ich sehr schüchtern. Wenn jemand Geburtstag
hatte, konnte ich ihm nicht gratulieren, weil ich mich schämte.
Ich bin unter den Tisch gekrochen. Der Breite hat mich höllisch
ausgelacht. Der Breite ist mein Bruder. Ich nenne ihn immer
so. Nie nenne ich ihn bei seinem richtigen Namen. Den nehme
ich nicht in den Mund. Macht die ganze Welt ja auch so. Für
mich hat er auch keinen richtigen Namen.
Ich schaue gerne aus dem Fenster auf die Straße, als
Zuschauer. Ich muss dann nicht bei dem mitmachen, was die
Menschen da draußen tun. Sondern kann mir ein Urteil
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darüber bilden. Im Kopf, verstehen Sie? Das sieht niemand. Ich
habe noch nie meinen Geburtstag gefeiert. Ich verstehe auch
vieles nicht. Z.B. ob ich nicht schon viel zu alt für das hier bin.
Sie sagen ja gar nichts. Hat das überhaupt noch einen Sinn?
Ich habe das Gefühl, nie erwachsen geworden zu sein.
Mir ist jetzt alles zu viel. Ich sehe keinen Ausweg. Ich brauche
professionelle Hilfe. Sie sind der Profi. Ich bin hilflos, das
müssen Sie einsehen. Ich weiß nicht, wie das alles gekommen
ist, und wo ich mich befinde, existentiell meine ich, verstehen
Sie? Natürlich weiß ich, dass ich in Ihrer Praxis bin.
Ich kann doch hier über mich reden, ohne mich schuldig
fühlen zu müssen, oder?
Fünf Jahre mindestens, meinen Sie? Nein, das kann doch nicht
sein. Fünfmal zweiundfünfzig multipliziert mit 50 Minuten. Das
sind ja über 216 Stunden! Minimum, in meinem Fall, sagen
Sie? Oh Gott. Ist es so schlimm?
Ich fühle mich klein. Das kommt vom Breiten, ich hasse ihn.
Sie müssen mich von meinem Bruder befreien. Verstehen Sie,
was ich meine?
Also mehr Systematik erwarten Sie? Systematik war nie meine
Stärke. Und wo sollen wir denn gemeinsam hingehen? Ich
verstehe das nicht. Wildes Denken, das ist es doch. Ich hätte
ihnen jetzt von meinen Träumen erzählt. Worin ich nie
fortkomme, nie dahin gelange, wo ich hinwill. Nein, später?
Ich schildere Ihnen jetzt eine meiner ersten Erinnerungen an
den Breiten, jedenfalls hat sie sich mir so eingeprägt: Ich war
nicht älter als fünf. Was die vorher mit mir gemacht haben,
habe ich vergessen. Mein neunmalkluger, viel älterer Bruder
fragte mich arrogant von oben herab: Na, wie viel ist denn 1
und 1? Verstehen Sie? So ging der schon immer mit mir um.
Immer von oben herab. Auch heute noch. Ich habe ihm aus
Überlegung, so klug war ich damals als Kind schon, die einzig
logisch richtige Antwort gegeben. Eine Antwort, als ob diese
Frage noch nie vorher behandelt worden wäre. Die Antwort
halte ich auch heute noch für richtig. Denn Kindermund tut
Wahrheit kund. Darauf bin ich stolz. Also nicht „Zwei“, denn
das wäre die falsche Antwort. Wenn ich eine „1“ habe und zu
dieser eine weitere „1“ hinzufüge, dann habe ich zwei Einser,
also eine 11. Verstehen Sie, was ich meine? 1+1 = 11. Das habe
ich ihm geantwortet, damals. Das ist auch logisch. Die
Einführung eines weiteren Zeichens, der „2“ nämlich, als
Antwort ist unlogisch und nur reinen Nützlichkeitserwägungen
geschuldet. Also von wegen Erkenntnis a priori oder
analytischer Satz für die Behauptung 1 + 1 sei 2. Nichts da.
Das ist nur ein Trugschluss, weiter nichts.
Der Breite hat damals nicht versucht, mich mit Worten zu
widerlegen, das hätte er ja auch nicht gekonnt und das wusste
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er. Deswegen hat er zugeschlagen, damals, mit der Faust. Ja,
er hat ein kleines Kind – seinen eigenen Bruder! - mit der Faust
zu Boden geschlagen. Stellen Sie sich das doch einmal vor! Er
war ja schon immer ein Schläger. Er schlägert. Später, das
wissen Sie vielleicht, hat er sich ja als Ringer ausbilden lassen
und an Wettkämpfen teilgenommen. Das entspricht
vollkommen seiner Natur. Dabei hätte er bleiben sollen. Dann
wäre der Menschheit viel erspart geblieben.
Verstehen Sie, was ich meine? Diese Geschichte ist in mir drin
und ist da nicht mehr raus zu kriegen. Ich leide unter ihr.
Am liebsten zeichne ich. Ich zeichne im Stillen vor mich hin.
Zeichnen hilft gegen Krankheit und Tod. Als Maler hat er sich
natürlich auch versucht, er konnte ja nichts auslassen. Der
Breite meine ich. Das hat er dann aber wieder aufgegeben, weil
er es eher mit den Worten hat. Er leidet ja an Logorrhö. Das hat
er dem Sokrates zu verdanken. Der hat zu Recht den
Schierlingsbecher bekommen. Doch! Malen hat den Vorteil,
dass man keine Wörter braucht, an denen ja die Bedeutungen
hängen wie schwere Steine und dann gehen sie mit ihnen
unter. Hat der Breite das je begriffen? Was meinen Sie?
Ich soll für die nächste Sitzung ein Bild malen? Was denn für
ein Bild? Für was? Sie geben mir das Stichwort ‚Baum‘ und ich
soll dazu ein Bild malen? Warum? Wir besprechen das dann?
Und das soll mir helfen? Das glaube ich nicht.
Zweite Sitzung
Warum ich ständig diese große Sonnenbrille trage? Weil meine
Augen lichtempfindlich sind. Ich leide an Photophobie. Ja, ja,
das ist ärztlicherseits festgestellt. Seit der Schlacht bei Delion,
wo ich verwundet wurde, weil mich das Sonnenlicht blendete.
Seitdem tut Sonnenlicht mir weh. Ich meide es, wo es nur geht.
Natürlich war ich deswegen schon bei einem halben Dutzend
Ärzte. Eine körperliche Ursache hat keiner feststellen können.
Ärzte können ja nie etwas feststellen. Ich helfe mir eben mit der
Sonnenbrille. Vor allem kann ich mich mit ihr schnell an
dunkle Räume gewöhnen. Ein immenser Vorteil. Ich scheue
das Tageslicht. Ja, ja, denken Sie nur, was Sie wollen. Wie ich
mich jetzt fühle? Du liebe Zeit!
Hier ist das Bild. Es ist mir schwergefallen, weil ich nicht weiß
was das Ganze soll. Ich kann nichts zustande bringen, wenn
ich den Sinn nicht verstehe. Ich bin aber auch drauf, auf dem
Bild. Da, dort. Wenn Sie mich nicht gleich erkennen: Ich liege
im hohen Gras unter dem Baum rechts. Meine Konturen
verschwimmen auf dem Bild mit dem hohen Gras und den
Blumen. Ich bin ja mitten unter ihnen, weil ich eins bin mit
ihnen. Auf dem Bild meine ich. Deswegen sehen Sie mich nicht.
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Ich bin aber drauf. Sie sagen ja gar nichts. Ich wusste gleich,
dass das Bild nicht gut ist und es Ihnen nicht gefällt. Man ist
nicht immer in Form. Sie trauen mir auch nichts zu.
Beim Sokrates gab es einen Schüler, der lief ständig gegen eine
unsichtbare Wand. Wirklich. Es war keine Wand zu sehen,
aber er lief dagegen. So ist es auch bei mir. Nur dass bei mir
die unsichtbare Wand aus Gummi ist. Ich lebe in einer
Gummizelle, verstehen Sie. Die ganze Welt ist eine unsichtbare
Gummizelle.
Die haben mir zu Hause auch nie etwas zugetraut. Das kannst
Du nicht, lass die Finger davon. Hieß es ständig. Deswegen bin
ich auch handwerklich völlig unbegabt. Der Breite hat das
natürlich nicht nur mitgemacht, sondern übertrieben penetrant
bei jeder Gelegenheit losgelassen. Der war ja auch ein
überintelligenter Überflieger. Ich dagegen war ein ungewolltes
Kind. Woraus ich das schließe? Ich bin im Dezember geboren,
wurde also während der Dyonysien gezeugt. Ein Unfall des
Überschwangs beim Feiern, kein Ergebnis der Freude. Das
habe ich immer zu spüren bekommen, von allen, ständig, vor
allem von den Eltern. Das war eine Abtreibung nach der
Geburt, sage ich Ihnen. Doch, doch! Der Breite war immer
besser, in der Schule, überhaupt der Liebling aller. Der wurde
mir mein ganzes Leben lang vorgehalten als leuchtendes
Beispiel. Können Sie das nachvollziehen? Verstehen Sie? Sie
müssen so etwas verstehen, Sie sind vom Fach.
Sie erklären ja gar nichts weiter zu meinem Bild. Dabei müssen
Sie doch herausfinden, wer ich bin. Ich selbst weiß es ja nicht.
Geht das nicht aus dem Bild hervor? Selbstverständlich bin ich
Glaukon, der jüngere Bruder des Breiten und Enkel des
gleichnamigen Vaters meiner Mutter Periktione. Wer soll ich
sonst sein? Meinen Sie, es würde sich jemand freiwillig an
meine Stelle setzen und Ihnen vorspiegeln, er sei Glaukon, der
Bruder des Breiten, also ich, während ich es in Wirklichkeit gar
nicht bin? Das macht doch keiner freiwillig, glauben Sie mir,
denn er hätte davon nichts, gar nichts. Lieber hieße ich auch
Glaukos, das könnte ein männliches Epitheton des Meeres
sein, als ein fischgestaltiger, weissagender Meerdämon.
Ich rede etwas unordentlich, nicht wahr? Aber die Dinge sind
so kompliziert, das müssen Sie verstehen.
Ein Traum kann nicht unmittelbar beobachtet werden.
Trotzdem wissen alle, dass es Träume gibt, weil man schon
selbst welche hatte. Das halte ich für wichtig. Wir sollten uns
über meine Träume unterhalten. Das halte ich für wichtiger als
alles andere.
Ich wäre selbstverständlich viel lieber der andere Glaukon, der
Stratege und Flottenführer bei Samos im Jahre 441. Der war
ein Handelnder, ein Entscheider, ein Macher. Alle gehorchten
ihm. Das Meer hat mich übrigens schon immer angezogen und
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begeistert, seine Bläue, seine Endlosigkeit, seine
Gleichgültigkeit uns Menschen gegenüber. Mit dem Meer
konnte der Breite nichts anfangen. Er hielt alles im Meer als
vom Salz angefressen. Deswegen liebe ich das Meer.
Nein, ich bin nicht gespalten. Die Identität des Strategen
erträume ich mir ausschließlich in Tagträumen, bei vollem
Bewusstsein, das habe ich unter Kontrolle. Wenn ich
tagträume, kann ich nicht handeln. Das ist vielleicht ganz gut
so für alle.
Also: Ich sitze in einer Höhle mit anderen um ein Feuer herum.
Das Feuer gibt Licht und wärmt. Die Wärme spüre ich deutlich.
Die Leute, die mit mir um das Feuer herumsitzen, manchmal
aufstehen, herumgehen und dann Schatten an die Höhlenwand
werfen, sind meine Verwandten. Ich sehe meinen Vater und
meine Mutter, natürlich den Breiten und meinen jüngeren
Bruder, meinen Großvater mütterlicherseits und andere. Sie
rennen herum, werfen Schatten und reden lautlos, ich höre
nichts. Irgendwoher weiß ich, dass ich nach draußen soll oder
will. Der Höhlenausgang liegt oben vor mir, ich kann ihn sehen,
auch das von dort einfallende Licht. Ich will aufstehen, kann
aber nicht. Ich müsste mich aufstützen und aufstehen, um da
hinauf zu gehen. Ich kann aber nicht, weil mich irgendetwas
hindert. Es ist, als ob ich ein schweres Gewicht auf beiden
Schultern trüge, das mich hindert, überhaupt aufzustehen.
Immer werde ich niedergedrückt. Ich komme nicht zum
Höhlenausgang. Als ich, immer noch sitzend, einmal den Kopf
in den Nacken werfe, sehe ich den Breiten über mir,
breitgesichtig lachend, der mit seinen beiden Ringerhänden
gewaltig auf meine Schultern drückt. Da erkenne ich, dass ich
seinetwegen nicht aufstehen und die Höhle verlassen kann. Er
brüllt. Ich erwache.
Wie? Sie geben mir das Stichwort ‚Höhlenausgang` und dazu
soll ich ein Bild malen. Ist das ihr Ernst? Nein? Ihr Todernst?
Das Bild wollen Sie in der nächsten Sitzung mit mir
besprechen? Schon wieder? Warum? Also das verstehe ich
nicht. Glauben Sie meinem Traum nicht?
Dritte Sitzung
Ich erinnere Sie jetzt einmal daran, was der mir alles in den
Mund gelegt hat bei seiner Geschichte, das muss ich jetzt
aufzählen, damit wir hier weiterkommen, nämlich, ich zitiere:
„Ich kann mir das vorstellen. Merkwürdig sind Gleichnis und
Gefesselte, von denen Du sprichst. Natürlich, wenn sie
gezwungen sind, ihre Köpfe unbeweglich zu halten ihr Leben
lang. Gewiss! Notwendigerweise! Ganz so, bei Zeus!
Notwendigerweise! Gewiss! So ist es! Nicht sofort wenigstens!
Natürlich! Notwendigerweise! Klar, so weit würde er allmählich
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kommen! Gar sehr! Lieber wird er alles über sich ergehen lassen
als dort zu leben! Und wie! Sicherlich! Ich stimme zu, soweit ich
das beurteilen kann. Natürlich!“
Im ganzen Buch geht das endlos so weiter. Einmal wirft er mir
sogar vor, dass ich ihm nicht folgen könne.
Was sagen denn Sie nun dazu? Können Sie mir das erklären?
Ist das nicht eine Ungeheuerlichkeit? Ist das nicht bodenlos!?
Was bin ich denn da? Als was bin ich denn da aller Welt
vorgestellt? Als hirnlos bejahende Bruder, als der Claquer ohne
Verstand, als bedingungslos zustimmender, sich vor ihm
hinhundelnder Trottel? Als einer, der ihn nur bestätigt, immer
bestärkt und ihm stets recht gibt. Das ist das Schlimmste. Das
ist wirklich das Schlimmste.
Nein. Ein Bild habe ich Ihnen nicht gemalt. Ein Bild von mir zu
diesem Thema würde über mich nichts erklären. Glauben Sie
mir! Sie haben ja auch zu dem anderen Bild schon nicht viel
gesagt. Eigentlich gar nichts. Mitgebracht habe ich Ihnen
stattdessen einen Screenshot. Hier. Was sehen Sie? Ja! Genau!
Das Bild, das vor jedem auf dem Schirm erscheint, wenn er
Windows 10 öffnet! Einen Höhlenausgang! Einen
Höhlenausgang! Und um die Metaphorik noch zu steigern: Mit
Blick auf das Meer mit zwei Felsen darin! Perfide. Was soll ich
da noch malen? Mir wäre auch nichts anderes eingefallen.
Die Typen von Microsoft usw. haben uns alle im Griff. Mich
auch. Die meisten wissen das nur noch nicht. Ich aber weiß es.
Als ob uns Microsoft aus der Höhle des Platon hinaus führt!
Lachhaft! Das Gegenteil ist der Fall, sie führen uns hinein.
Sehen Sie sich doch nur die Smartphonemenschen an: Alle
laufen und stehen mit gebücktem Hals, Kopf nach unten, wie
Gefangene in Nordkorea, die man zum
Erschießungskommando führt. Hochheben können sie den
Kopf nicht mehr, drehen können sie ihn auch nicht. Und das
bei hellem Sonnenschein. Sie laufen gegen Straßenbahnen oder
fallen in Baugruben oder am Hafen ins Wasser. Sie fesseln sich
am Nacken selbst. Das müssen andere nicht mehr für sie tun.
Das ist das Inferno. Auf den Bildschirmen sehen sie dann die
Schatten, die Leute ihnen liefern, die sich so verhalten, als
seien sie Narren. In Wirklichkeit sind das gefährliche Tyrannen,
die uns steuern und unsere Zukunft beherrschen, verstehen
Sie? Wenn der Breite geahnt hätte, dass es so etwas einmal
wirklich gibt, dass seine Metapher einmal tatsächlich in reale
Wirklichkeit umschlägt.
Das alles führt uns nicht weiter, sagen Sie? Weil ich selbst kein
Bild gemalt habe? Weil auf dem Screenshot nichts ist von mir?
Haben Sie etwa auch ein Smartphone?
Ich selbst brauche ja kein Smartphone.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie meine große
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Sonnenbrille irritiert. Sie sind ja ganz blass. Ist Ihnen nicht
gut? Geht es Ihnen schlecht? Soll ich einen Arzt rufen?
Nein, ich verberge nichts.
Ich bin total offen.
Ich bin der Idiot der Familie.
Die Welt ist so kompliziert.
Ich konnte mich nie wehren.
Mehrmals habe ich ihn ironisch „mein Sokrates“ genannt. Er
hat das tatsächlich ernst genommen.
Er hat nichts begriffen.
Ich verstehe nichts.
Ich muss für heute aufhören.
Ich bin total am Ende, wirklich.
Vierte Sitzung
Einmal ist ein Schiff, auf dem ich nach Hause fahren wollte,
kurz nach der Hafenausfahrt gesunken. Ich wurde mit einem
Beiboot gerettet, das wieder zurück in den Hafen gerudert
wurde. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich Angst. Aber gezeigt war,
was mir gezeigt werden sollte: Ich komme gar nicht erst weg. So
ist es immer: Ich habe keine Fahrkarte oder weiß den Weg
nicht oder finde den Koffer nicht, den ich packen muss oder der
Zug ist schon weg usw. Immer die gleiche Struktur der Träume,
immer. Sie zeigen mir: Du kommst nicht weg und erreichst
Dein Ziel nicht.
Was heißt das, frage ich Sie? Da ist doch etwas ganz schief und
tief drin in mir, in meinem Kopf, meine ich, verstehen Sie?
Dazu müssen Sie mir doch etwas sagen können! Wenn nicht
Sie, wer sonst? Dazu bin ich hier, damit Sie mir dazu etwas
sagen, damit Sie herausfinden, wer es ist, der immer solche
und keine anderen Träume hat. Und wie er sie abschalten
kann. Sie sagen ja gar nichts.
Nein, ich schreibe meine Träume nicht auf. Das kann man mir
nicht zumuten, dass ich diese Geschichten und Bilder noch
einmal schreibend wiederhole. Ein schrecklicher Gedanke. Ich
finde es merkwürdig, was Sie von mir alles erwarten.
Er hat sogar einmal gesagt, der Lügner, der fähig ist,
absichtlich oder wissentlich zu betrügen, sei dem Aufrichtigen
überlegen, denn er könne das eine wie das andere. Er hat
deutlich ein lügenhaftes Bewusstsein. Seine zurechtgebogene
Geschichte mit den gefesselten Höhlenbewohnern usw. ist von
Anfang bis Ende erfunden. Ich meine, dass er darüber mit mir
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einen sogenannten Dialog geführt hätte. Das ist frei erfunden,
einfach gelogen! Der hat das mit mir nie besprochen. Er hat
meinen Höhlentraum, dem ich ihm erzählt hatte, genommen
und seine abstruse, völlig unrealistische Höhlengeschichte
daraus gemacht.
Ein solches Gespräch oder wie man das auch immer nennen
mag, wie es jetzt seit damals, als er sie zum ersten Mal
öffentlich machte, im Umlauf und im Weltbewusstsein ist, hat
es nie gegeben. Ich habe auch keine einzige Äußerung, die er
mir – ich muss schon sagen - unterjubelt, getan. Ich habe auch
nie „mein Sokrates“ zu ihm gesagt. Das hat er in seiner
unendlichen Eitelkeit selbst erfunden, um sich zu schmeicheln.
Abscheulich. Wie der mich ausgenutzt hat, meine Naivität.
Ganz böse.
Ich konnte mich dagegen nicht wehren. Nein, nein. Stellen Sie
sich doch mal vor, wie der Breite, breitbeinig und breitgesichtig
wie der ist, der Ringer, auf mich zugekommen wäre und mich
niedergeschlagen hätte. Der schlägt doch zu, wenn er sonst
nicht mehr weiterweiß. Verstehen Sie?
Ich habe mich zurückgezogen und wohne in einem kleinen
Haus an der Küste von Attika. Der ständige Blick aufs Meer,
das ist es, wissen Sie. Ich bin damit zufrieden.
Warum ich mich nicht selbst geschmeichelt fühle, dass er mich
offenbar nötig hatte, um seine Geschichte überhaupt zu
erzählen und mir auch manchmal doch durchaus kluge
Entgegnungen in den Mund legte?
Na hören Sie mal! So etwas ist völlig abwegig. Wollen Sie mich
irgendwie prüfen? Sie wollen mich doch nicht zu irgendeiner
unbedachten Äußerung provozieren? Ich bin jetzt verwirrt.
Dazu müssen Sie mir jetzt aber etwas erklären, sonst verstehe
ich das nicht!
Der Breite hat die Geschichte mit den gefesselten Unwissenden
drinnen in der Höhle und den wenigen Wissenden draußen im
Sonnenlicht doch nur erfunden, um sich bei dem Tyrannen in
Sizilien einzuschmeicheln. Der aber war doch klüger als er, der
Vieldenker und Spekulierer, und hat ihn abserviert.
Machtwillen und die dazugehörige Klugheit erfordern eben kein
Denken und keine Denker.
Hören Sie: Auf den Gedanken, die sichtbare Wirklichkeit sei
eine Scheinwirklichkeit, sie sei voller Schatten und Abbilder der
Ideen, während der unsichtbaren Welt der Ideen wahre
Wirklicht, wahres Sein zukommt, kann man doch nur
kommen, wenn man den ganzen lieben langen Tag nichts zu
tun hat und nichts arbeiten muss, weil andere das für einen
erledigen, und keine Verantwortung kennt und deswegen den
ganzen lieben langen Tag nur denkt. Man kann das Gehirn ja
nicht abschalten. Dann muss man doch Wahnvorstellungen
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bekommen, die mit den Tatsachen um einen herum nichts zu
tun haben. Dann muss man die Wirklichkeit um uns herum
für Trug- und Schattenbilder halten. Hören Sie: Jeder der
glaubt, dass diese eingebildete Welt das Wesentliche umfasst,
die Wahrheit und das wahre Echte darstellt, entzieht sich der
Wirklichkeit, dann gilt die Wahrheit nichts mehr und die
Einbildung in den Köpfen regiert die Welt. Und es waren doch
ausschließlich ‚große Denker‘, die jahrtausendelang seine
Höhlengeschichte auf- und ausgesogen haben für ihre eigenen
Zwecke wie einen Schwamm ja wie eine Auster! Das Geheimnis
der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.
Nein, mit dieser Sicht der Dinge disqualifiziere ich mich
keineswegs, vielleicht in einer Runde gewerblicher Denker, also
bezahlter Philosophen, weil die die Wahrheit fürchten, aber
nicht hier, bei uns. Bei uns geht es doch um die Wahrheit,
habe ich recht?
Nein, ich habe keine Wahnvorstellungen.
Ich habe auch noch nie gelogen, das können sie mir ruhig
glauben.
Das habe ich durchgehalten bis heute, sehen Sie mich an.
Ich will nichts wissen. Ich weiß auch nichts.
Ich weiß nicht einmal, dass ich nichts weiß.
Hören Sie: Die Dinge um uns herum sind doch, wie sie sind.
Was wir sehen von den Dingen, sind nur die Dinge, weil es nur
sie gibt. Hinter ihnen ist nichts. Alles andere ist nur in unseren
Köpfen. Bei den Menschen ist auch nichts weiter hinter den
Gesichtern. Da muss man nicht grübeln. Das Gesicht ist keine
Maske. Der Mensch ist das, was man im ersten
Sekundenbruchteil von ihm sieht. Die Umwege übers Denken
und Grübeln kann man sich sparen. Auch bei sich selbst.
Ich verspüre ein ungeheures Glücksgefühl bei dem Wissen,
dass mein Leben keine Bedeutung hat.
Ich bin heute elegisch. Gibt es denn nichts Positives, was Sie
mir sagen können. Dann wäre ich etwas fröhlicher, ja.
Was ist das? Eine Rechnung? Jetzt schon? Damit die
Einzelsummen nicht so hoch werden? Sie wollen kein Bild von
mir, sondern Geld?
©Ulrich Schäfer-Newiger, 2017