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Schmetterling
Wehte leichtfüßig im leichten Hemd den Weg entlang, über ein Wiesenstück hin und
mitten durch den reifen Weizen zurück auf den Weg. Noch immer tänzelnd, doch beinah
schon schreitend in ihrem edlen hochhackigen Schritt mit hohen ragenden Beinen, deren
Nacktheit von winzigen Rändern weißer Säckchen, die aus den Pumps schauten, eher
betont als begrenzt wurde; deren hoheitsvolle Würde an den weißen Shorts noch nicht
zu Ende war. Denn über den Shorts reckte sich, wie ein kräftiges drittes Bein, ihr
schlanker Oberkörper tief in den goldenen Abendhimmel. So wandelte sie ihm entgegen,
kraftvoll, naiv, gelassen, als könnte sie leichten Herzens sich jeden Augenblick
himmelwärts schwingen auf ihren Schwingenbeinen. Da fing er sie ein.
Oder flog sie, flatterte sie schon aus freiem Willen ins ersehnte Netz, noch eh er es
ganz öffnen konnte? Denn sie war hurtiger als er, von wieselnder Bewegung immerzu
durchflutet, auch wenn sie nach außen nur langsam Schritt um Schritt zelebrierte; auch
wenn sie stillstand. Er fing sie, dachte er, mit bloßen Händen; doch ihr war, als stürzte
sie in die Fallgrube seines bloßen Herzens, das er ungeschützt auf der Zunge trug. Er
öffnete den Mund, öffnete das Herz, die Worte „Ich will Dich. Ich nehm Dich mit!" fielen
heraus, und hinein fiel ... sie. So nahm er sie mit sich.
Er schwang sich aufs Rad, warf sie vorn über die Querstange, und sie beschwerte
sich nicht, beschwerte nicht ihn, nicht das Rad, im Gegenteil, sie erleichterte. Ihr
Gewicht drückte nicht zu Boden, es zog himmelwärts. Da flogen sie, aus Beinen und
Armen ein wüstes Geschlinge, heim in die kuschlige Enge der Mauern, wo die Luft
kaum hinkam; wo man sich, wie er sagte, Luft erst machen mußte, künstlich, aus
Worten und aus Gesten, aus Bildern und Statuen, aus Ideen, die den verbauten
Horizont weiteten. Dorthinein rasten sie bremsenlos, dorthin schrieen sie sich ihren Weg
frei. '
Sie machte alles so leicht. Auch ihn würde sie leicht machen. In seiner kleinen
Mansarde war nie soviel Platz gewesen wie jetzt, da sie umherstolzierte, ohne die
Wände zu sprengen und durch die Decke zu stoßen. Stattdessen weitete sie den Raum
und weitete seinen Blick, so daß er sehen konnte, wie sie ihn magisch umschlang, nicht
mit Armen und Beinen, nur mit der Faszination vor jenem Aderngeflecht unter ihrer
Haut, das ihr den Glanz und die Würde von Marmor verlieh.
In dem weiten Raum glitt sie spielerisch überallhin, betrachtete alles, zuweilen auch
ihn, mit einer zarten Neugier.
Und machte ihn so leicht! Würde er gleich abheben? Seinen Geist erleichterte sie um
unnütze Fragen nach ihren Gefühlen; solche Fragen müßten zu Mühlsteinen um den
Hals jeglichen Gefühls werden. Sein Herz erlöste sie von der Angst zu leben, indem sie
vor seinen Augen die Freude zu leben verkörperte. Und sie machte es ihm leicht, auf
sein „Gewicht" in der menschlichen Gesellschaft zu verzichten, weil es sich ohnehin
verflüchtigte, hier, im Angesicht ihres Leichtsinns, der hell und zart wie Bodennebel über
dem fetten Erdenleben hing ... Allerdings würde auch sie sich ebenso leichten Sinnes
wieder auflösen. Doch er wußte, sie käme wieder. Sie würde sich von neuem
herausbilden aus seinem Herzen, würde es ausweiten und würde es noch sehr weit
bringen, mit ihm ...
Er hob nicht ab, denn nun hielt sie ihn fest, umschlang ihn leibhaftig für den Hauch
eines Augenblicks, dann glitt sie wieder im Raum umher; so hatten sie ihre Duftmarken
ausgetauscht und damit Spuren gelegt, so daß keiner mehr spurlos verschwinden
könnte. Wie ihre Düfte ihnen anhingen, hingen sie aneinander, leicht, doch unablösbar;
und schwer wiegend wie ihr volles Fleischgewicht, das nun doch noch ernsthaft auf ihn
prallte, im Sturzflug ihn zu Boden riß und umherwälzte und beinah plattwalzte, eh er zu
Atem kam und sie umwälzte und mit den Knieen klammerte und mit den Händen
kunstvoll knetete, als formte er sie neu, nach seinen Wünschen.
Als sie am Ende zerknautscht und ausgepumpt wieder vor ihm stand, war dennoch
scheinbar nichts wirklich verändert. Die Haut straffte sich bald, die Glieder füllten sich
mit neuer Glut, als sei nichts gewesen; als sei die lästige Leidenschaft fürs Kneten des
Fleisches nie dagewesen. Denn davon hatten sie einander gründlich befreit, hatten sich
buchstäblich das Leiden vom Hals geschafft.
So konnte er mit leichten Sinnen, durchlüftet von ihrem Duft, es hinnehmen, wie sie
sich leise löste, schwerelos die Treppen hinabhuschte, aus dem Haus schwebte, mit
weiten wehenden Schritten in immer fernere Gassen einsank wie Flamingobeine in
sumpfige Wiesen. Er nahm es hin, denn ihr Duft hing ja an ihm, zirkulierte wohl schon in
seinen Adern. Ihre Spur. lebenslang.
Aber da schoß schon die Angst in sein Hirn, die Angst um sie, um dieses Leben, das
nun auch sein Leben war. Ihr kostbarer Leib, ihr schwereloser Sinn in den Fängen
dieser Stadtkrake, im Sog dieser sumpfigen Menschenwildnis ... wie könnte sie da
überleben?! Schon sah er ihre Unschuld bruch,landen auf den Stoppeläckern geiler alter
Männer, sah ihre himmelstrebenden Elfenbeine ausgerissen von rohen Elfenbeinjägern;
fühlte schon den beißenden Geruch verbrannten Opferfleisches in seine Nase steigen;
hörte den lieblichen Ton ihres singenden Herzens, unerhört und unerwidert, über den
Dächern verwehen. Und riß sich los aus der Mansarde, deren Decke immer tiefer
herabsank, so daß er glaubte, nur noch auf Knieen den Ausgang erreichen zu können.
Auf dem Rad jagte er durch die Straßen, zerteilte das Menschenge wimme! wie Moses
das Rote Meer; nichts konnte ihn berühren, nichts ihn halten. Allein dem Ton ihres
Herzens folgte er, und dem Pfad ihres Duftes. Doch verhedderte er sich in seinen
Gedanken von Sehnsucht, von sehnendem Suchen, süchtig nach ihr ... lag denn nicht
ein Flehen in ihrem Entfliegen? Wars nicht ein flehentliches Fliehen ... vor ihm? ... oder
nur näher hin zu ihm, dorthin, wo er selber erst noch hinkommen müßte? ... Schnell!
Beeil dich! Flieg! ... Und da sprang er vom fahrenden Rad und lief befreit wie auf
Luftballen leichten Fußes über Kreuzungen und Ausfallstraßen und war fast schon in
den Feldern, als ihr Gesang ihn schmerzhaft am Ohr zupfte und ihr Duft ihm die Nase
langzog: ,,Nach links!"
Also nicht aus der Stadt ins Freie? Nicht in Feld Wald Wiese lag sein Schicksal? Noch
leicht verwirrt, stürmte er in die neue Richtung, in ein dichtes altes Wohnviertel, wo die
Menschen nicht einzeln lebten wie er, sondern sich ballten, so daß es eng und lästig
werden konnte, oder schön warm und lebendig ... Er bremste scharf. Und dann mußte
er sich noch einmal bremsen, um nicht aus dem Stand von neuem loszustürmen, nicht
wie ein heißer Windstoß auf sie loszugehn...
Die Notbremsung gelang nur halb, denn sein Herz, ohne Sicherheitsgurt, stürzte ihm
vorn aus dem Körper heraus und kollerte ihr vor die nackten Füße. In dem kleinen Hof,
wo sie auf dem Boden hockt , mit angezogenen Knien. Im Kreise von ein paar
gleichaltrigen Jungen und Mädchen, deren Herzen er nicht singen hörte, deren Duft er
nicht in sich trug. Fremde also. Für ihn. Für sie aber Freunde, vertraute gute Freunde.
Mit denen sie sprach. Mit denen sie lachte. Mit denen sie schwieg. Wesen wie sie
selbst.
Als er in ihren Hof geschossen war, hatten sie nur kurz aufgeschaut, sich aber nicht
stören lassen. Man gab ihm Zeit, sich zu beruhigen, bevor sie schließlich, von unten
herauf, erst ihre Augen und dann ihre Worte an ihn richtete: ,,0 wie schön, daß Du
wirklich kommst. Ich hab es mir schon immer so ausgedacht. Na los, setz Dich!"
Als ob er schon ewig dazugehörte. So einfach. Sich zu ihren Füßen niederlassen, sein
vorwitziges Herz aufheben und wieder einstecken. Warum nicht? Er nahm seinen Platz
in ihrem Kreis ein. Es war schon dunkel. Ob sie wirklich dieselbe war, die er kürzlich
erst aufgefunden, die er eingefangen, die er hatte entfliegen lassen? Dies hier war doch
eher ein normales Mädchen wie alle anderen... Aber nein! Sieh nur ihre Glieder, von
Mondschein überglänzt, von Lebensfreude durchflutet... doch es war falsch, so hinzusehen.
Es stimmte ... sie war das Elfenkind! Nur fiel das hier nicht weiter auf. Hier
strahlte sie nicht grenzenlos aus, nahm den Raum nicht für sich ein, teilte ihn mit den
anderen; behielt für sich, was ihre Fr unde ohnehin wußten.
Klar. Auch er fiel ja hier nicht weiter auf. Und war dennoch derselbe, der kürzlich erst
mit ihr geflogen war, als wären sie allein auf der Welt. Nun waren sie nicht allein, und
flogen nicht mehr, und es war gut so. Denn Fliegen, soviel verstand er jetzt, Fliegen
wird erst schön, wenn man auch landen kann, windgeschützt, bei guten Freunden.
Morgen könnte dann gern wieder ein anderer Wind wehen.