Amerika
Er ist so warm, der Schnee. Nur kurz verschnaufen. Gleich gehe ich weiter. Keine Angst, Johannes, ich bringe dich nach Hause.
Töte mich, Alois! sagte Johannes. Ich habe es noch im Ohr.
Meine Augen sind geschlossen, doch es ist so hell um mich herum und da sehe ich den Bruder vor mir, den Wurzelteller, den eingeklemmten Arm, sehe das Blut im Schnee.
Lass' mich so nicht zurück, die Wölfe, sagte mein Bruder Johannes.
Ich wusste über die Wölfe Bescheid, wusste, was sie mit Wehrlosen anstellten. Ich hatte Köhler gesehen. Die Wölfe hatten zuerst die warmen Därme und Organe gefressen, sie fraßen immer zuerst das Innerste. Bauch- und Brusthöhle waren wie ausgeleckt, so sauber. Gesicht und Schenkel hatten sie nur leicht angenagt. Ich kannte die Wölfe, die mit dem Schnee von den Bergen kamen. Köhlers Rippen sahen aus wie zersplittertes Holz.
Amerika!
Mein Freund Tobias war außer sich gewesen.
Sie geben dir Land in der Neuen Welt, viel Land! sagte Tobias. Dazu zwei Ochsen, einen Karren und Werkzeug, gutes englisches Werkzeug! Zwei vom Nachbardorf sind gestern aufgebrochen - nach Amerika! sagte Tobias.
Und du, hatte ich gefragt, warum gehst du nicht?
Meine Augen, hatte Tobias gesagt, die weißen Stellen werden größer. Hier finde ich mich zurecht. Aber du bist gesund. Du hast einen Bruder, er führt den Hof. Du kannst gehen! Das hatte Tobias gesagt.
Geht in das Holz, hatte der Vater gesagt, der Mond nimmt ab, jetzt könnt ihr schlagen.
Dann saßen wir schweigend, aßen die dicke Suppe.
Amerika, dachte ich, sie geben dir zwei Ochsen, den Karren und Werkzeug dazu. Wenn der Winter vorüber ist, werde ich gehen! Sie sollen hier bleiben in ihren modrigen Hütten, in ihren feuchten Betten und zusehen wie das Dach verfault. Johannes soll den Hof machen.
Mutter hatte mich kurz angesehen, ich habe es bemerkt, fast ängstlich, als hätte sie meine Gedanken erraten. Aber sie kann nicht in meinen Kopf sehen. Sie tut mir Leid, wird immer krummer, aber meine Gedanken kann sie nicht lesen! Hör auf, Alois, sinnlos! sagte Johannes zu mir.
Ich versuchte mit einer Fichtenstange die Last von Johannes’ Arm zu hebeln. Wir hatten im Windwurf einen umgestürzten Stamm nahe der Wurzel zersägt, dabei hatte der Wurzelteller Johannes erwischt und seinen linken Arm unter sich zerquetscht. Stützt die Wurzelteller ab, hatte Vater immer gesagt. Doch wir wussten es besser. Jetzt hatten wir's! Wärst du doch mitgekommen, Vater! Aber du musstest immer am Fenster stehen und in den Schnee schauen. Oder deine dicke Suppe löffeln.
STEFAN MÜLLER
Weizenfelder, so weit du blicken kannst, hatte Tobias gesagt, fruchtbare, steinlose Erde, dachte ich, als wir in's Holz gingen. Kurze Winter, und ein langes Frühjahr. Keine Wölfe - hatte Tobias gesagt. Keine Wölfe!
Höre Alois! Johannes hatte mir den Weg verstellt, als wir in's Holz gingen. Ich gehe nach Amerika. Du machst den Hof. Das sagte er zu mir. Ich schwieg. Auch er wollte nach Amerika!
Ich schwieg.
Mein Bruder packte meinen Arm, hörst du? Ich gehe nach der Neuen Welt, bald!
Er schrie. Er, der sonst nie schrie.
Ich riss ihn um, da hätte ich ihn umgebracht. Aber Johannes ist stark. Wir wälzten uns stumm, ächzend im Schnee.
Ich gehe, Johannes, ich gehe nach Amerika! Mein Bruder wand sich aus meinem Arm, ich hätte ihn umgebracht. Er drückte mein Gesicht in den Schnee, du willst nach Amerika? sagte er.
Dann hielt er inne, lachte, lachte über den Schnee hinweg. Beide können wir nicht gehen. Lass’ Vater entscheiden. Das sagte Johannes.
So setzten wir unseren Weg fort in’s Holz.
Magda, ich wäre mit dir gegangen. Warum konntest du dich nicht entscheiden. Köhler! Er stand vor mir im Wald, letzten Winter. Mit der Axt in der Hand. Er wollte die Entscheidung. Er war stark und er hatte eine Axt in der Hand. Und er wollte dich, Magda. Doch ich war flinker und hatte den Stein. Wie das Beil auf gefrorenem Holz, so klang der Stein auf seiner Stirn. Und ich schlug immer wieder zu, Magda, er hatte doch eine Axt! Ich schlug, bis die Haut vom Kopf platzte und der Knochen freilag. Der Schnee, voller Blut. Als ich ging, lebte Köhler noch. Tags darauf fanden wir ihn, Magda, die Wölfe hatten ihn zuvor gefunden. Er lebte noch, als ich ging. Mich trifft keine Schuld. Ich musste kämpfen, doch getötet haben ihn die Wölfe.
Die Suppe wärmt nicht mehr. Ich werde gehen und ihr könnt eure Rübensuppe ohne mich essen. Diese dicke Suppe, die die Därme zernagt. Ich kann nicht mehr an diesem Tisch mit euch sitzen, wo das Schweigen meine Seele auffrisst. Amerika! Wenn du nur mit mir gehen wolltest, Magda. Weshalb bist du weggelaufen, als wir Köhler fanden, nachdem ihn die Wölfe fanden? Ist es wahr, dass du ein Kind in dir trägst?
Ist es wahr, Magda? Ist es mein Kind? Oder ist Köhler der Vater?
Hört ihr, ihr Rübensuppenfresser? Hört ihr die Wölfe heulen? Sie wollen mich holen! Doch ich gehe nach Amerika, wo es keine Wölfe gibt.
Ich bekomme zwei Ochsen und Werkzeug. Englisches Werkzeug! Töte mich, sagt Johannes, lass’ mich nicht den Wölfen!
In Amerika gibt es keine Wölfe. In Amerika sind die Winter kurz und mild. Ich lass’ dich nicht den Wölfen, mein Bruder!
Er schreit, als ich das Fleisch bis zum Knochen durchtrenne.
Hör’ auf zu schreien, Johannes, die Wölfe hören dich!
STEFAN MÜLLER
Ich schneide den Arm bis zum Knochen, rundherum. Der Schnee ist voller Blut. Es fließt wie ein Bach im Frühling, das Blut.
Johannes schreit nicht mehr. Er ist still.
Alles ist so still im Wald. Kommen die Wölfe?
Ich drücke die Messerspitze in das Gelenk. Die Haut direkt um das Gelenk ist zäh. Soviel Blut. Blut im Schnee. Beim Schneiden drücke ich Johannes weg von seinem Arm. Er ist schwer. Da ist der Gelenkkopf, ganz weiß in all dem Blut. Er glänzt fast blau. Eine weißblaue, glänzende Kugel, der Gelenkkopf. Noch ein Band hält ihn an der Schulter und - durch. Der Arm ist für euch. Ihr könnt ihn euch ausgraben, ihr Bestien.
Tobias’ Augen wurden ständig schlechter. Die weißen Flecken werden immer mehr, hatte er gesagt. Alois, du bist mein Freund, hatte er gesagt, ich habe wieder geträumt, Alois, von Sperlingen im Dorf und ihrem warmen Kot in meinen Augen, du musst fort, ein Unglück kommt in’s Dorf, bald, hatte Tobias gesagt. Wenn ich erst im Bauch des Schiffes sitze, kann das Unglück kommen in dieses verfluchte Dorf. Hier hält mich nichts mehr, seit Magda weg ist. Warum willst du nicht mitkommen, Magda? In der Neuen Welt ist viel Platz und es gibt keine Wölfe.
Sie heulen hinter uns im Wald. Ich trage Johannes. Seinen Körper halte ich über meine Schulter gezogen an seinem Arm. Der andere liegt im Wald unter einem Wurzelstock. Für die Wölfe.
Ich muss ausruhen. Hinter uns eine rote Spur im Schnee, so werden sie uns leicht finden. Sie riechen das Blut. Komm, Johannes, mach’ dich nicht so schwer. Blute nicht so viel. Hörst du nicht die Wölfe heulen?
Es fängt an zu schneien. Mit dem Schnee kommt die Dunkelheit früher, hörst du, Bruder? Das ist nicht gut, wenn die Dunkelheit früher kommt, dann kommen die Wölfe!
Vater steht sicher am Fenster, er schaut in den Schnee, siehst du den roten Schnee, Vater?
Mutter sagt Maria-hilf und wird noch ein bisschen krummer, hörst du die Wölfe heulen, Mutter?
Es wird dunkel, es schneit stärker, das ist nicht gut, Johannes, du wirst immer schwerer, ich kann nicht mehr rasten. Die Wölfe.
Meine Hose ist ganz warm von deinem Blut, mein Bruder, sie klebt an meinem Bein. Die Wölfe heulen.
Halt aus, Johannes, wir sind bald im Dorf. Keine Angst, du wirst auch mit einem Arm den Hof führen können. Nach Amerika lassen sie nur gesunde Männer! Da steht Einer! Köhler! Du bist tot! Was stehst du hier im Schnee? Was willst du? Die Wölfe haben dich zerrissen!
Ein Busch! Nur ein Busch! Und ich dachte, da steht Köhler im Schnee und wartet auf mich!
Vorsicht! Ich bin gestürzt, Johannes, nur kurz verschnaufen, gleich gehe ich weiter, der Schnee ist so warm, ich habe die Augen geschlossen, doch es ist so hell um mich herum, und warm, gleich, Johannes, gehen wir weiter, so warm, so muss Amerika sein, bald bin ich dort.,
Wischt Mutter mein Gesicht? Eine Zunge ist es, eine Zunge leckt mein Gesicht. Ich blicke in zwei gelbe Augen. Bist du Amerika?