Alexej Moir

 


Der Garten der Mörder

                                Esoterik und Terror im Islam

 

 

Mutu qable en temutu - sterbt, ehe ihr sterbt

 

Ein mächtiger alter Mann besaß den größten und herrlichsten Garten, den es auf der ganzen Welt gab. Darin befanden sich die prächtigsten Paläste, künstlich angelegte Bäche, die außer Wasser auch Wein, Milch und Honig führten, sowie junge Mädchen von berückender Schönheit, die unablässig musizierten, sangen und tanzten. Niemand konnte diesen Garten betreten außer jenen, denen der Alte selbst den Zutritt gewährte. Wollte er einen jungen Mann für sich gewinnen, so flößte er ihm einen einschläfernden Trank ein und ließ ihn sodann in den Garten bringen. Sobald der Jüngling aus seinem Rausch erwachte, sah er sich von wunderschönen Wesen umringt, die ihm zu Willen waren und ihn auf jede Weise verwöhnten. Er glaubte sich deshalb ins Paradies versetzt. Denn seine Umgebung war das genaue Abbild jenes himmlischen Gartens, den der Koran dem gläubigen Muslim nach dessen Tod verheißt. Wenn nun der Alte die Dienste seines Schützlings brauchte, ließ er ihn wiederum durch einen Trank betäuben und zu sich in seinen Palast tragen. Dort erteilte er ihm den Auftrag, irgendeine bestimmte Person zu töten. Kehre er Iebendig zurück, so werde er ihn darauf durch seine Engel wieder ins Paradies bringen lassen. Komme er jedoch ums Leben, so dürfe er für immer in diesem Garten verweilen. Aus Sehnsucht nach dem vermeintlichen Paradies befolgten die Hassisins - so hießen die Jünger des selbsternannten Propheten - blind die Befehle des Alten. So übte dieser über weite Teile des Orients seine Schreckensherrschaft aus.

Dieser fast idyllische Bericht stammt von Marco Polo, der 1296 in genuesischer Gefangenschaft seine Reiseerlebnisse diktierte. Persische Gewährsleute hätten ihm von einem männerbündischen Orden erzählt, der durch Selbstaufopferung und blinden Gehorsam eine Welt von Feinden in Schach hielt. Was daran Legende und was Wahrheit ist, übt seit über 700 Jahren eine unheimliche Anziehungskraft auf Orientalen und Europäer gleichermaßen aus. Der französische Orientalist Sylvestre de Sacy sah in den Mitgliedern dieses Ordens weniger Menschen aus Fleisch und Blut, als vielmehr ferngelenkte Geschosse, die nur ein einziges Ziel kannten: ihren hochgestellten Gegner unter Aufopferung des eigenen Lebens zu vernichten.

Ein Schleier der Geheimnisse umgibt die fida'iyun, die »Opferbereiten«, bis heute. Ihre muslimischen Gegner nannten sie verächtlich haschischijun,»Haschischesser«. Denn nur unter Drogen könne man sich zu solchen bestialischen Taten hinreißen lassen. Durch die Kreuzfahrer gelangte die arabische Bezeichnung als assassini in die meisten europäischen Sprachen. Die franz. (assassin) , ital. (assassino) und span. (asesino) Wörter für Meuchelmörder gehen auf den Namen dieses Ordens zurück.

Indes ist die landläufige »Haschisch-Theorie« kaum zu halten. Die von den haschischiyun angewandte Taktik - diese genauestens und von langer Hand vorbereiteten Mordanschläge - verlangte das geduldige Abwarten des hierfür günstigen Zeitpunktes, die Präzision des zugleich eiskalten und blitzschnellen Zuschlagens. Und das erfordert einen klaren Verstand.

Die Assassinen selbst nannten sich nizari. Sie vertraten die Ansprüche Nizars, des ältesten Sohnes des Fatimidenkalifen al-Mustansir, gegenüber seinem Bruder Musta'li. Und damit gehören sie zu der geheimnisvollen schiitischen Gemeinschaft der Ismailiten, die von 899 bis 1171 Ägypten beherrschten. Obwohl sie in einem Kraftakt ohnegleichen ihre Missionare und Agitatoren in die gesamte islamische Ökumene vom Atlantik bis nach Indien ausschickten, konnten sie nur eine begrenzte Zahl von Anhängern gewinnen. Zu komplex erschien der Mehrheit der Muslime ihre Lehre, in der sich naturwissenschaftliche, astrologische, alchimistische und kabbalistische Elemente mit gnostischen Vorstellungen vermischten. Der einfache Gläubige - zumindest im arabischen Raum - blieb dem orthodoxen Islam, der Sunna, treu, verlangte dieser doch nur das Bekenntnis zu dem Einen Gott und seinem Propheten Muhammad.

Bereits wenige Jahrzehnte nach dessen Tod spaltete sich die islamische Urgemeinde, die umma, im Streit um die wahre Autorität, um die Person ihres rechtmäßigen Oberhauptes (imam). Die unterlegene Gruppe respektierte nur Ali, den Vetter und Schwiegersohn Muhammads, als dessen Nachfolger (halifa).Nach dessen gewaltsamen Tod kürte die schi'a, die »Partei« Alis, dessen Sohn Husain zum Kalifen. In der Schlacht bei Karbala im heutigen Irak wurde er am 10. Muharram 61 der Hidschra, d. h. am 10. Oktober 680, von omaijadischen Truppen erschlagen. Der Tod Husains bescherte den Schiiten ihren ersten Märtyrer. Ihre weitere Geschichte kennt eine endlose Serie von Paradigmen des Leidens und der Revolte. Daraus resultiert die politische Sprengkraft namentlich des schiitischen Islams, der sich immer als Vorkämpfer der Sache der »Erniedrigten« (mustad'afun) gegen die Mächtigen (mustakbirun) verstand. Die Utopie einer gerechten Herrschaft wird an die Wiederkehr des Verborgenen Imams, des Mahdi, geknüpft. Er wird »die Erde mit Gerechtigkeit und Billigkeit erfüllen, so wie sie jetzt erfüllt ist von Ungerechtigkeit und Tyrannei«. Nach Ansicht der schiitischen Mehrheit lebt der 12. Imam Muhammad ibn 'Ali at-Taqiy in der gaiba, der Verborgenheit. Diese sogenannte Zwölfer-Schia ist seit Anfang des 16. ]hds. Staatsreligion im Iran. Eine andere radikalere Richtung glaubt, dass in dieser Nachfolgekette bereits der 7. Imam Ismail in der Verborgenheit weiterlebt, bis er eines Tages als mahdi oder qa'im wiederkehrt. Man nennt sie deshalb Siebener-Schia oder Ismailiten. Obwohl sich gerade einmal 10% der Muslime zur Schi'a bekennen, kennt die Forschung über 70 verschiedene Gruppierungen dieser Glaubensrichtung. Vielleicht ist es ein der Schi'a innewohnender unersättlicher Erkenntnisdrang, der seine Anhänger zu immer gewagteren Spekulationen trieb, die mit dem orthodoxen Islam kaum noch etwas gemein haben.

Zu einer folgenreichen Spaltung der Isma'iliya kam es, als man 1094 dem Fatimiden Nizar den ägyptischen Thron streitig machte. Als dieser nach einer misslungenen Revolte gefangengenommen und beseitigt wurde, ergriffen namentlich die iranischen Ismailiten - vielleicht aus dem ihnen eigenen Märtyrerkomplex - die Partei des Unterlegenen. An ihre Spitze trat der weitgereiste Hasan-e Sabbah aus dem persischen Qom. Er emigrierte in den Iran, wo es ihm gelang, am Oberlauf des Schah-Rud südlich des Kaspischen Meeres die Burg Alamut zu erobern. Bis zu seinem Tode im Jahr 1124 soll er sein Zimmer nur zweimal verlassen haben, und das auch nur, um vom Dach der Burg die Sterne zu betrachten. Binnen kurzer Zeit konnte er durch gezielte, raffiniert durchdachte Handstreiche sich eines ganzen Netzes von befestigten Stützpunkten bemächtigen. Diese schwer zugänglichen »Ordensburgen« bildeten das Rückgrat seiner Bewegung.

Um sich in einem Meer von Andersgläubigen behaupten zu können, durfte Hasan-e Sabbah sich nicht auf den offenen Kampf einlassen. Er und die Handvoll seiner Getreuen wären von ihren Gegnern im Nu aufgerieben worden. So griff der listige da'i (»Rufer«) - wie er sich nannte - zum Mittel des politischen Mordes. Auf seinen Wink hin schwärmte eine straff organisierte Elite von jungen Männern aus, um Kalifen, Sultane, Wezire, Fürsten und Grafen mit dem Dolch zu »bestrafen«. Es bedeutete ihnen nichts, dafür ihr eigenes Leben zu opfern.

Über 150 Jahre versetzten Hasan-e Sabbah und seine Nachfolger das Kalifat von Bagdad, das Großseldschukische Reich und die Kreuzfahrerstaaten in Angst und Schrecken. Es wurde unter den Mächtigen dieser Reiche zur Gewohnheit, einen Brustpanzer unter dem Gewand zu tragen. Fast könnte man die Mordtaktik der Nizariten als human und gerecht bezeichnen. Denn ihnen war nichts daran gelegen, möglichst viele ihrer Feinde zu töten, sondern nur deren Führer, die für das Unrecht verantwortlich und deshalb in ihren Augen schuldig waren. Dem Gehirn des Feindes, nie seinem Arm galten ihre Schläge. Sie waren unsichtbar und allgegenwärtig, verschwiegen und verschlagen, eiskalt und tollkühn: Adler und Schlange in einem. So heißt Alamut - noch heute findet man die Trümmer dieser imposanten Festung im Elburz-Gebirge - nichts anderes als »Adlerhorst«. Daneben kann man das Wort in der arabischen Schrift als al-mout lesen. Und das bedeutet »Tod«.

Seit etwa 1100 versuchten die Da'is aus Alamut ihre Lehre in die Bergdörfer des nordsyrischen Dschabal as-Summaq zu tragen. In diesem unzugänglichen Bergland konnten sie einen kleinen Territorialstaat errichten, dessen berühmtester Herrscher Raschid ad-Din Sinan war. Ihn lernten die benachbarten Kreuzfahrer fürchten, die ihn vetulus de montanis, den »Alten vom Berge« nannten. Von ihm erzählt wohl auch Marco Polo in seinem Reisebericht.

Was den muslimischen und christlichen Staaten des Vorderen Orients über mehrere Generation nicht gelang, das vollbrachte der Mongolen-Chan Hülägü. 1256 eroberte er Alamut und ließ die Festung schleifen. Sein Wesir, der Historiker ’Ata Malik-e Dschoveini, durfte die riesige Bibliothek von Alamut noch für sein Geschichtswerk benutzen, bevor sie verbrannt wurde. Knapp 20 Jahre später brachte der MamlukensuItan Baibar die syrischen Burgen der Assassinen in seinen Besitz. Die überlebenden Nizariten verstreuten sich über die ganze islamische Welt. Mord und das politische Attentat hatten sie aus ihrem Repertoire gestrichen. In Syrien leben noch ca. 15 000 Nachfahren der Assassinen als friedliche Hirten und Bauern. In Indien konnten sie die Hindu-Kaufmannskaste der Lohanas für ihren Glauben gewinnen. Nach wie vor ist die ununterbrochene existentielle Präsenz des Imams (heutzutage in der Person des Agha Khans) von höchster Bedeutung. Dieser verhält sich zur Gottheit wie das Sonnenlicht zur Sonne. Den jeweiligen Imam kennen und schauen heißt Gott selbst kennen und schauen.

Von Beginn an bemühten sich die »Herren von Alamut« darum, die absolute Wahrheit zu ergründen. Der Schlüssel dazu sei einzig und allein das Wissen um die rechte Autorität. Allerdings führe das intellektuelle Wissen, das die Philosophen praktizieren, das lern- und lehrbar ist, zu einem Chaos von lauter verschiedenartigen »Wahrheiten«. Nur das existentielle Wissen bringe die wahre Erkenntnis. Die einzige Möglichkeit, dieses Wissen zu vermitteln, sei die stufenweise Initiation des Adepten. Worte müssten, um in die Wirklichkeit einzutreten, nicht gehört oder gelesen, sondern »gegessen« werden. Der Kosmos bestehe aus dem zahir, dem der Allgemeinheit zugänglichen Äußeren, und dem batin, dem Inneren, das nur der Eingeweihte begreift. Auch der Garten, das Paradies, unterliege dieser Dichotomie. Im Grunde ist er der »Ort«, wo sämtliche religiöse Gesetze und Gebote aufgehoben seien. Arbeit und Krankheit hörten auf. Das Ende aller Taten und Worte sei gekommen.

Mehrfach haben die Imame von AIamut den Anbruch dieser qijama und die Abschaffung des Gesetzes proklamiert. Dass sie dafür zum Mittel des Mordes griffen, war in ihren Augen nur akzidentiell. Letztlich sind sie an dem Versuch gescheitert, grundsätzlich Unvereinbares zu verschmelzen: militärische Methoden und politischen Machtanspruch mit esoterischer Geistigkeit.

 

 


ALEXEJ MOIR