Epiphanien
Zu den Erdichtungen Rudolf Borchardts
I
Denken Sie sich das unbekannteste, fremdeste, entfernteste, einfallsreichste, findigste, phantasierteste Deutsch, das imaginierteste Deutsch, vor allem das musikalischste Deutsch, ein Deutsch, das es nicht gibt, nie gab und nie geben wird, ein erfundenes, von alten, vergessenen Sprachwurzeln zum Teil extrapoliertes, zum Teil aber eingebildetes Deutsch, und schon sind Sie mitten in der Sprach- und Sprechwelt von „Dantes Comedia Deutsch“ des Rudolf Borchardt. Es handelt sich nicht einfach um eine Übertragung aus dem Italienischen des Dante Alighieri. Sondern um eine Nach- und Neudichtung in eine ideale Sprache, von der Borchardt meinte, sie hätte zu Dantes Lebzeiten in Deutschland gesprochen werden können, ja sollen. Denn, so war Borchardt überzeugt: „Die neuhochdeutsche Sprache ist ein Geschöpf des Flachlandes und der sinnenfremden Schreibstube … Neuhochdeutsch ist eine Kolonistensprache emporgearbeiteter Stände, und daher aus pedantischer Conservierung des vermeintlich standesgemäßen Herkommens geboren, mit dem Auge auf Korrektheit und uniformen Anzug … mit der Todesangst vor dem popularen, aus dem man wider Willen stammt, eine Buchsprache ohne Ohr und ohne Stimme.“ Was Borchardt meinte, können Sie leicht erfahren, wenn Sie sich die geradezu grausame Verneudeutschung einer Auswahl von Gedichten Walther von der Vogelweides durch den professoralen Germanisten Peter Wapneski ansehen. Jede Musikalität, jeder sprachliche Rhythmus, jedes dem Original innewohnende Sprachleben ist konsequent dem Ziel einer auch für den dümmsten Germanistikstudenten noch möglichen Verständlichkeit geopfert. Für den sprachempfindlichen Borchardt war so etwas eine Tragödie der nationalen Kultur. Er wollte deswegen ein von diesen Grundmängeln befreites Deutsch und erfand es sich. Korrektheit nach der heutigen Orthographie, Grammatik und Syntax dürfen Sie nicht erwarten. Bei Borchardt lauten die Anfangsverse der Comedia: „In mitten unseres lebens an der fahrt / erfand ich mich in einem finsteren hagen, / dass ich der rechten straße irre ward: // Ach harter pein und weg er glich zu sagen, /der hagen, ein wild wald rauch und ungeheure,/ der an gedanken mir erneut das zagen! // Tod ist viel saurer nicht denn seine säure! / doch kund zu thun, was heils ich dort empfieng, / sag ich, was mehr mich traf von abenteure.“
In Borchardt entstand eine auf die im deutschen Sprachraum älteste klassische Sprache, dem Alemannischen, gestützte ideale, neue Sprache. Er nannte sein Vorgehen die „Rückgebärung, rinascimento, der eigenen Nationalantike, des europäischen Mittelalters ...“ Damit ist das Motiv der Borchardtschen Absicht, die angestaubte neuhochdeutsche Sprache gänzlich umzupflügen, gekennzeichnet. Eine größere Kluft zwischen gesellschaftlicher und dichterischer Sprache ist im Deutschen nicht hergestellt worden. Die von Borchardt erdachte Sprache gab es nie, sie entstand erst jetzt, rückgeboren, durch ihn. Als – wie Adorno urteilt – erträumte Wiedergutmachung der Sprache durch seine Dichtung.
Sie werden berechtigte Zweifel hegen, sich heute mit einer solchermaßen begründeten Dichtung befassen zu sollen. Denn diese Begründung der dichterischen Absicht Borchardts ist durch die historischen Entwicklungen in Deutschland genügend diskreditiert, scheint obsolet und mit einer Handbewegung abgetan werden zu können. Eine solche Geste wäre verfrüht. Denn was jenseits aller Begründungsversuche bleibt und beständig fasziniert, ist eben – die Sprache, ist die Gabe, das Talent, die Fähigkeit Borchardts mit einer Sprache zu sprechen, welche nicht in die Zeit passt, damals nicht und heute nicht, auch in Zukunft nicht. Wenige weitere Beispiele mögen dies veranschaulichen. Die ersten Verse des II. Gesanges lauten im üblichen Neuhochdeutsch: „Der Tag verging: das Dunkel brach herein / Und nahm auf Erden den lebendigen Seelen / Die Last des Tages ab …“ Borchardt erfindet sich dazu: „Der tag nahm urlaub, und das düster brauen / entlies, was wesen bein zur erden biegen, / aus arebeit; …“
Eine Stelle im VIII. Gesang lautet im uns vertrauten Deutsch: „Wie viele, die einst große Herren schienen, / Siehst du den Säuen gleich im Kote stehn,“ ... Wieder Borchardt: „Wie mancher dort bedünkt sich sein nichts mindre / denn krone, und wird hie stehn wie säu in breige, …“
Die Lektüre des Borchardtschen Dante lässt vergessen, dass es sich eigentlich um die Übertragung aus einem Original handelt. Die Originalität der Übertragung steht der Originalität des Übertragenen in nichts nach. >
Auch ein merkwürdiger Zwiespalt tut sich auf: Einerseits verzichtet der Autor nicht auf eine synthetische Sprache, bleibt sie organisierter Träger organisierten Sinns, entbehrt seine Verserzählung nicht der Rationalität der ihr zugrundeliegenden Handlung. Die Formvorgabe Dantes wird vollständig eingehalten: Die jambischen Elfsilber werden in Terzinenketten aneinandergereiht, das Reimschema a-b-a; b-c-b usw. streng beibehalten. Andererseits missachtet diese Dichtung aber sprachliche Konventionen, Wörter werden ihres gewohnten Sinnes beraubt, Schreibungen passen sich dem erforderlichen Rhythmus an, sprachliche Phantasie betätigt sich als Kalkül, Wortneuschöpfungen und Assoziationen greifen Platz; es entstand eine Dichtersprache „ipsu actu des Werkes“ (Borchardt). All dies sind Elemente moderner, analytischer Suche nach reiner Form, nach den Grundlagen der (in diesem Fall: deutschen) Sprache. Insofern können Sie Borchardts „Dantes Comedia Deutsch“ als einen modernen, ja als einen avantgardistischen Text lesen. Seine auf einer vermeintlich vorneuzeitlichen Sprachtradition fußende Sprache zerstört die kulturkonservative Vorstellung über die deutsche Sprache und ihren Gebrauch. Bürgerliche Literatur ist das nicht. „Tief unbewusst regte in ihm sich die Ahnung, das unverwechselbare Jetzt und Hier trage nicht länger“ (Adorno).
Es gibt zu Borchardts Sprachorgie eine verblüffende Parallele in der deutschen Literaturgeschichte: Etwa dreihundertzwanzig Jahre vor ihm hatte ein Anderer sich die Aufgabe gestellt, einen fremdsprachigen Text ins Deutsche zu übertragen und war dabei in ein labyrinthisches Universum nie gekannter und nachher wieder vergessener deutscher Wörter geraten, das seinesgleichen später nicht mehr gefunden hat. Die Rede ist von Johann Fischarts „Affenheuerlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung“ (Verstehen Sie den Sinn dieses Titels auf Anhieb?). Auch dieser Text, Ende des sechzehnten Jahrhunderts entstanden, dünkt uns Heutigen dadaistisch, expressionistisch und vieles mehr, jedenfalls nicht verständlich, zu schwierig, zu fremd, viel zu viel Zeit fordernd, will man ihn lesen. Fischart wollte eigentlich Rabelais‘ ‚Gargantua‘ übersetzen. Aber das bis dahin bekannte Lutherdeutsch reichte nicht, war viel zu beschränkt (wer hat je böser gegen Luther gedichtet als Borchardt?). Geworden ist Fischart daraus wie Borchardt eine eigenständige, nie dagewesene, zu allen Zeiten unzeitgemäße deutsche Dichtung. Und noch eine Parallele: Kaum einer kennt diese Dichtungen. Borchardts 'Comedia‘ wurde einmal 1930 veröffentlicht und ein anderes Mal 1967. Borchardt tat ungerührt: In einem nie abgeschickten Brief teilte er hochmütig mit: <„Ich bin mir selbst vollkommen berühmt genug.“Und an anderer Stelle:„Was lag mir daran, ob man das einmal lesen würde?“Aber: Er meinte natürlich das Gegenteil.
II
Befremden wird Sie an der Dichtung Borchardts die willentliche, unbedingte, ausnahmslose, unzeitgemäße Formstrenge. Schon einige Titel seiner Gedichte verweisen auf sie: „Sestine der Sehnsucht“, „Idyllische Elegie“, „Pathetische Elegie“, „Saturnische Elegie“, „Sonett auf sich selbst“ oder „Ode mit dem Granatapfel“ oder einfach: „Klassische Ode“. Alle denkbaren Versformen, Metren, Stile und Reimarten sind ihm nicht nur so vertraut, dass er sie spielerisch nach Belieben und Willen einzusetzen und zu benutzen vermag. Sie sind ihm vor allem notwendige Mittel seiner bildungsvollen „hochdisziplinierten Gedicht-Ausschweifungen“ (Martin Walser); notwendig für den gewollt antimodernen Gegenentwurf zeitgenössischer deutscher Literatur, welcher seine Dichtung sein sollte. Strenge Form muss hier verstanden werden als Beharren auf dem je Eigenen, Besonderen, Anderen, als Widerstand gegen die Geläufigkeit, Korrumpierbarkeit, Verdinglichung (Adorno) des modernen Deutsch, seine Schwäche, seinen Zerfall, soll sein die Aufhebung der Niederlage der modernen deutschen Sprache als adäquate und daher notwendige Ausdrucksform. Dieses Borchardtsche Bedürfnis ist in der Gegenwart, in der Massenmedien den „Iconic Turn“ als letzte Stufe immer sprachärmer werdender Massenkommunikation feststellen (und damit auch Recht haben), notwendiger und aktueller denn je. Borchardts antimodernistisches Formbeharren erinnert an den Malstil Magrittes: Wie dieser bietet jener einen scheinbar jeder Individualität enthobene, schon immer gültige klassische Form, die im krassen Gegensatz zu den formalen Neuerungen seiner Zeit steht und dennoch oder gerade deswegen verwirrt und Interesse weckt.
Hinzu kommt noch: Als einzige Möglichkeit, den „menschlichen Entgängnissen“ etwas entgegenzusetzen, seine „Differenz mit dem Leben“ auszugleichen, gilt Borchardt die Dichtung. Hier nun zeigen die beim ersten Lesen altmodischen, auf zunächst unergründbare Weise zwingend schon bekannt von Alters her wirkenden Dichtungen zur Moderne, zur Gegenwart ihrer Entstehung hin. Als Schlüsseltext dazu mögen Ihnen die siebenundreißig Strophen der „Bacchischen Epiphanie“ dienen. Gerade dieser Text wirkt in seiner antikisierenden Formstrenge und seinem altertümlichen Inhalt ungeläufig und fremd, wird doch da von einem „Rosen Übergossenen“ erzählt. Aber Sie werden sich erinnern, dass die Rose jahrhundertelang als Sinnbild für die Dichtung galt. Und der von ihnen Übergossene ist eben Bacchus, über den Sie folgende Verse entdecken können: „Zwischen Tod und Lebend brausend / Meisternd das ins Eins Geschloßne / Tanzt der Rosen Übergoßne / Ins Geschick der Welt – / Haut den Zauber aus der Traube / Stampft sich Wildernis zur Laube / Strahlt aus jedem Einen Tausend, - / Einverleibt, erschlägt // Leiht dem Tode unabwendigen / Schoß und Küsse des Lebendigen.“
Dieses längere Zitat macht Ihnen zweierlei deutlich: Dichtung hat für Borchardt etwas mit Rausch und Berauschen zu tun, sie ist immer an die „Feste meines Rausches gebunden“; und sie ist zugleich ein oder das einzige Mittel, dem unabwendbaren Tod etwas Lebendiges entgegenzusetzen. Für Joseph Brodsky – um nur einen noch recht gegenwärtigen modernen Dichter zu nennen - war Dichtung die einzige Möglichkeit, dem Druck der Existenz stand zu halten. Wir kennen vergleichbare Erklärungen anderer Dichter.
Die eben zitierten Verse aus der „Bacchischen Epiphanie“, der Erscheinung des Weingottes, führen direkt zu dem berühmten Gedicht „Brot und Wein“ Hölderlins, in dem dieser, an seinen Freund Heinze gerichtet, dichtet: „So zu harren und was zu thun und zu sagen, / Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? / Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester, / …“Dürftig war die Zeit, in welcher Borchardt schrieb, im doppelten Sinne: Einmal wegen Gottes Tod, den Nietzsche feststellte. Vergleichen Sie zum Götterverlust aber schon Schillers klagendes Gedicht ‚Die Götter Griechenlands‘ von 1788. Mit diesem Gottesverlust war verbunden der Untergang des alten, seit Jahrtausenden vertrauten Menschenbildes, des sicheren Ichs, war die Mythe entlarvt als Lügnerin (Benn), die Unkenntnis und das Unvermögen der eigenen Sterblichkeit (Heidegger) und somit der eigenen Lebendigkeit. Der übersensible Borchardt nahm diesen Gegenwartszustand überdeutlich wahr. Ihm selbst half die Vorstellung des Dichters als Priester des berauschten und berauschenden Gottes nicht, wie seine Biographie belegt. Die formgestrenge Darstellung des Bacchus ist in Wirklichkeit ein Lamento über dessen längst festgestellten Tod. Sein Beharren auf radikal rhythmischer, pulsierender Form ist ein letztes unbedingtes Aufbäumen gegen das Chaos des längst atomisierten, unübersehbaren, unverstehbaren, zerbrochenen Daseins. Dürftig war Borchardts Zeit auch wegen des schon lange zurückliegenden Verlustes einer nach seiner Vorstellung authentischen, eigenen, lebendigen Nationalsprache. Nicht für Leser schrieb er deswegen, sondern weil er seine eigenen Schmerzen darob heilen wollte, „mich wollte ich belehren, die Wunden meiner Nationalbiographie lindern oder schließen, meiner ersten großen verschollenen Nationalliteratur ihren Tod nicht hingehen lassen...“
III
Solche verstiegenen und verdächtigen Begründungen mögen Sie vorsichtig sein lassen mit einem Sich-Einlassen auf Borchardts Dichtungen, mit einem Eindringen in seine erdichtete Phantasie. Bestärken in dieser Vorsicht mag Sie diese Überzeugung Borchardts: Natürlich und selbstverständlich hat der Dichter (nicht mit einem Literaten zu verwechseln) eine herausgehobene, besondere Stellung inne, welche unter einem „Götterschutz“ steht, weil nur der Dichter den Rausch, die Besessenheit, Benommenheit, den Götterbesuch „erfahren“ hat. Borchardt setzte ihn ohne Zögern und mit ernstestem Ernst gleich mit dem Priester, dem Gesetzgeber, dem König. Und weil Borchardt ausgewiesener Monarchist und tiefster Verächter der Demokratie und der Massenkultur war, ist für ihn ein solchermaßen auserwählter Dichter auch von der Gemeinschaft „examiniert“, er ist deren sprachliche Inkarnation.
Soweit die Phantasien Borchardts zur Stellung und Eigenschaft des Dichters. Nicht minder sonderbar waren seine im Zusammenhang damit stehenden, bereits angedeuteten, politischen Vorstellungen.
Borchardt selbst musste wider Willen diese Vorstellungen als bloße Phantasmagorien erfahren. Denn das Volk, welchem er angehören wollte, nämlich das deutsche (obgleich er ständig in Italien lebte), schloss ihn aus, weil er halber Jude war. Seine Dichtung wahrzunehmen, war dem Volk, dem er so sehr anzugehören beabsichtigte, verboten. Aber es wollte seine Literatur ja ohnehin nicht, verstand seine Sprache nicht und den zum Regieren untüchtigen und unfähigen Kaiser gab es längst nicht mehr. Borchardt reagierte auf seine Art: Ungläubig ob seiner zerplatzten Phantasmagorien und mit Gedichten. Lesen Sie aufmerksam sein „Unterwelt hinter Lugano“ oder „Urlaub“. Über den Lorbeer, den er der allzu lange sich sträubenden Muse doch endlich abgerungen hatte, heißt es dort: „Und trug ihn dass Deutschland säh / Gefeit sei meine Stirn vor seinen Belohnungen. / Was hier sich anhebt, lohnt nicht mehr.“ Maßlos enttäuscht war der als Dichter des Volkes sich Wähnende, gekränkt, die Zeit nicht mehr verstehend, wenn er sie denn je verstanden hat. Wir müssen uns Borchardt als tragische Gestalt vorstellen. Wir müssen ihn uns als Sprechenden, Schreienden, als Sprachtier vorstellen, das nicht gehört wurde. Dabei wollte er seine Poesie als Axt verstanden wissen, er fühlte sich „immer anredend, streitend, mich wehrend ... abgrundlustig, reinigungssüchtig, dramatisch.“
IV
Wozu Borchardts sprachliche Phantastereien und Erdichtungen in heutiger Zeit? Können sie mehr bedienen als historisches Interesse anlässlich seines im vergangenen Jahr wiedergekehrten 125sten Geburtstages? Zum historischen Zusammenhang sei immerhin angemerkt: Sie werden feststellen, dass es in der deutschen Lyrik und Dichtung des 19. Jahrhunderts etwa seit den 48er Aufständen und der darauf folgenden Restauration bis etwa zur Wende des 20. Jahrhunderts ein auffallendes Schweigen gab. Während in Frankreich der rückwärts gewandte Staatsstreich des Louis Bonaparte 1851 der Literatur gleichsam einen Schub versetzte, in dessen Gefolge Flaubert, Rimbaud, Baudelaire, Verlaine und später Mallarmé Grundsteine für die literarische Moderne legten, fehlen solche Schriftsteller und Dichter in Deutschland. Mehr noch: Es gibt in Deutschland zu jener Zeit auch keinen Poe, keine Emiliy Dickinson, keinen Walt Whitman. Erst nach der Jahrhundertwende, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, gewahren auch Deutsche, dass die alte Vorstellung vom Menschen, das alte Ich, alle alten Selbstverständlichkeiten über Gott und Staat im Gefolge der Aufklärung, der industriellen Revolution und der beginnenden Massengesellschaft unwiderbringlich dahin sind: Georg Heym, Stefan George, Rilke, Benn (um nur die Bekanntesten zu nennen) ja – und eben auch Borchardt. Allen diesen verspäteten Dichtern gemeinsam ist das Lamento über den verlorenen Gott und dem damit verlustig gegangenen Menschen- und Eigenbild, der bis dahin vertrauten Eigenerkenntnis. Diese Entfremdung hat Borchardt sehr wohl wahrgenommen: „In einen Spiegel starrt ich lang hinein, / und wusste nicht von mir, und sah mit Pein, / ein fremdes Haupt feindlich aus tiefem Glas,/ ...ich betete: ich möchte dies nicht sein.“Gemeinsam ist allen dieses Dichtern die Gewissheit der Einsamkeit. Schon eines der Jugendgedichte Borchardts trägt den Titel „Gesang im Dunkeln“.Als eines der zentralen Motive Borchardtscher Dichtung klang es schon an. Diese Erfahrung transzendentaler Obdachlosigkeit wurde bei ihm noch durch seine eigene Lebensform und seine wirklichkeitsfremden Ansprüche an Sprache und Literatur und Staat und Gesellschaft bis ins nahezu Unerträgliche potenziert.
Borchardt hat von allen genannten Dichtern den schwierigsten, missverständlichsten Weg gewählt, um dem oben skizzierten Verlust sprachlichen Ausdruck zu verschaffen. Nur wenige oder vielleicht sogar niemand konnte und wollte diesen Weg mit ihm gehen, der erst einmal scheinbar zurück führte: Zu einer vorneuzeitlichen, vermeintlich unverdorbenen deutschen Sprache, zu einer überstrengen Form, die der moderne Leser als Formzwang empfinden muss. Aber nur so konnte Borchardt den Maschinenrhythmen von Kanonen und Fließbändern, dem Grundgeräusch des zwanzigsten Jahrhunderts, einen eigenen, lebendigen Rhythmus entgegensetzen. Nur so konnte er nach seiner Vorstellung die Sprache selber sprechen lassen, jenseits alles Gemeinten und Intendierten. Nur so konnte er das unerwartete „Wahnsinnigwerden des Sprechens in einem sich Losreißen von Bezeichnung und Ausdruck“ für sich (und doch auch für den Leser) Wirklichkeit werden lassen. Damit war er Mallarmé näher als er wusste und wollte. Sie, die Sprache, war ihm das Überlebensmittel gegen den Zerfall der Sprache, der menschlichen Ausdrucksmöglichkeit überhaupt, gegen die Einsamkeit. Borchardt gibt uns vergesslichen Gegenwärtigen ein Beispiel für das, was Sprache vermag.
Kein Deutscher vor ihm und nach ihm hat deswegen zum Beispiel das Pflücken widerspenstiger Margariten als Auseinandersetzung des sich selbst nicht vertrauenden Ichs mit dem ihm Äußeren, mit dem, was die Natur ihm entgegensetzt, die gewaltsame Bündelung und Zähmung der Blumen zu einer für ihn gerade noch tragbaren aber sich wehrenden Last eindrucksvoller, intensiver, durchdringender zum Ausdruck gebracht als er:
„Also kam ich den Berg
mit Musen und Bienen hinunter,
Dicht an die Blüte gedrängt, dass sie mir nickte im Takt,
Fremde Musik von Wonnen und Zorn bezwingend, im innern
Maße die bäumende Flut, und ich bezwang sie schon nicht,
Etwas zerriß mit den Mund und wallte mir über den Aufblick –
Zwischen Entzücken und Pein schrie mir das zitternde Herz.“
V
Entgegen dem nun vielleicht entstandenen ersten Eindruck ist Borchardt – soweit man davon überhaupt sprechen kann – ‚namhaft‘ geworden nicht durch seine Dichtungen (deswegen sind sie Gegenstand dieser kleinen Einführung). Eine gewisse Berühmtheit erwarb er sich schon zeitlebens vielmehr sehr zurecht durch seine essayistische Prosa. Seine mit ernster Italomanie erstaunlich präzise verfassten Abhandlungen z. B. über Volterra oder Pisa oder die italienische Villa gehören zum Besten, was deutsche Prosa in den letzten zweihundert Jahren hervorzubringen vermochte. Nicht minder zu beurteilen sind seine großen Essays über Dante oder seine Prosaausschweifung über die amerikanische Lyrikerin Edna St. Vincent Millay. Erwähnung verdienen die schier unzähligen kleinen Prosastücke, die nie zu Ende gebrachten Anfänge großer und großartiger sprachlicher Phantasien. Diese Bruchstücke widerspiegeln das Bruchstückhafte seines Lebens eindrücklicher als alle seine vollendeten Sprachorgien. Auch in dieser Hinsicht ist Borchardt – wie überhaupt - noch zu entdecken.