Königskinder
Ist es mein Bruder, der spricht?
Bist du es, mein Bruder, der spricht?
Es ist dunkel auf dem Flur und ich kann nichts erkennen, wie lange schon ist kein Licht mehr auf dem Flur, wir müssten jemanden kommen lassen, wir sagen es jeden Tag und dann vergessen wir es wieder, denn am Tage machen wir uns ja nichts aus dem Dämmerlicht und wenn es Nacht wird, ist es längst zu spät, noch jemanden zu rufen -
Höre ich nicht eine Stimme? Hörte ich nicht die Stimmen meines Bruders murmeln?
Er plagt sich wohl mit einem Vers, da darf ich ihn nicht stören beim Murmeln, es kann, ich weiß, die ganze Nacht dauern; es dauert so lange bis es am Ende nicht mehr holpert, so lange, bis der Vers sich geschmeidig gemacht hat im Murmeln und Murmeln; es ist ein Kampf, den mein Bruder nicht zugeben mag: ein Kampf, um den nur ich alleine weiß; ich verrate ihn aber nicht, meinen Bruder, und stelle ihn nicht bloß vor sich selbst und vor seiner einzigen Schwester und lasse ihn glauben, ich schlafe bei Nacht.
Ich schlafe aber niemals bei Nacht.
Das Murmeln meines Bruders ist ein verführerisches Wiegenlied, es hält mich wach und so bin ich noch bei ihm, auch dann, wenn er es nicht mehr weiß und koche am Morgen den Kaffee für ihn, als sei ich eben erst aufgestanden und lege mich nieder erst dann, wenn auch er endlich einschläft. Erschöpft vom Versemurmeln, ganz und gar zerbrochen an sich selbst und an den Worten, mit denen er hadert wie mit einem gleichwohl ebenbürtigen Feind. Zerfallen mit mir, seiner Schwester, deren Hingabe er verachtet wie nichts sonst auf der Welt - wenn er um meine Nächte wüsste !
Zum Glück bin ich keine gute Köchin, es würde seine Verachtung noch steigern, was er gerade noch erträgt ist ein Kaffee am Morgen, drin aufgelöst Stücke rabenschwarzen Brots, und zu Mittag ein Pfund gekochter Kartoffeln, nachlässig geschält, am Sonntag ein Stück Rindfleisch dazu; ich weiß, mein Bruder hasst den Mund, mit dem er Speisen zu sich nimmt und zu grauem Brei zerkaut, er will seinen Mund nur zum Versemurmeln, und o, wie gut ich ihn verstehe!
So gut versteh ich ihn, meinen Bruder, dass er tot umfallen würde, wenn er wüsste, dass ich weiß.
Dass ich alles weiß. Und seine Verse geduldig murmele mit ihm in der Nacht bis sich alle Ecken und Kanten verlieren und sie am Ende geschliffen daherkommen wie der kostbarste Edelstein, federleicht wie ganz junge Engel -
In der Nacht, wenn er denkt, dass ich, wie alle außer ihm allein, schlafe. Wie kann denn aber Eine schlafen und essen und Rüben verziehen, wenn der Bruder ein Dichter ist?
Stefanie Golisch
Muss man denn da nicht nachlässig werden mit allem, was kein Gedicht ist, mit allem, was niemals ein Gedicht werden kann, mit allem, was roh und ungeschliffen daherkommt wie ein lächerliches Pfund Kartoffeln zum Mittag, eine ausgebrannte Glühbirne im Flur?
Eine Schlampe schilt man mich wohl im Ort, eine schlechte Hausfrau und eines solchen Bruders nicht würdig, ich ahne es nicht nur, ich weiß es genau, es ist mir gleichgültig, denn wenn ich schon keine Verse machen kann wie er, dann will ich die Welt doch wenigsten genauso schlimm verachten wie er es tut -
Und sind schließlich die Verse, die ich Nacht für Nacht mit ihm murmele, bis die finstere Anstrengung sich endlich in hellem Klang verliert, nicht ein wenig auch meine Verse? Habe nicht auch ich durch das Opfer meiner schlaflosen Nächte das heilige Recht erworben, hinabzublicken auf alles, was nicht Vers ist? Auf die Stadt, in der wir geboren sind und die wir niemals verlassen haben, auf das Elternhaus, in dem wir beide sterben werden, der Bruder und die Schwester: er, Verse schmiedend, sie, seine Verse nur mitmurmelnd -
Es ist, huscht es mir bisweilen flüchtig durch den Kopf, einerlei, ganz einerlei; er, mein Bruder mag es anders betrachten -
Genug, natürlich war es die Stimme meines Bruders, die ich hörte. Wessen Stimme sonst sollte es gewesen sein?
Weder empfangen wir Besuche noch gehen wir selber aus. Meinem Bruder sind die Menschen ein Gräuel, er erträgt die grellen Farben ihrer Kleider nicht und nicht ihre zufällige Berührung und mir genügt es, mich in meinen Kleidern selber schön zu finden. Sieben Spiegel hängen im meinem Zimmer, fünf auf dem Flur und vier im Speisezimmer; in den Räumen meines Bruders gibt es keine Spiegel, doch wirft er beim Essen oft einen Blick in jenen, der ihm, nicht zufällig, genau gegenüberhängt. Seine Schultern straffen sich unmerklich dabei, ich sehe es aus den Augenwinkeln; er weiß, dass er immer noch ein schöner Mann ist. Ich weiß, dass ich ein schöne Frau bin und schreite am Nachmittag in den ausgefallensten Toiletten vor den sieben Spiegeln in meinem Zimmer auf und ab und bewundere meine Anmut und kann gar nicht genug bekommen von meiner unbeschreiblichen Grazie und schleiche mich vorsichtig hinaus auf den Flur und betrachte mich mit leicht geneigtem Kopf im melancholischen Dämmerlicht, werfe mir Blicke zu, bei denen ich beinahe schwach werde, verweile einen Augenblick nur auf Zehenspitzen und den Atem anhaltend vor der geschlossenen Tür meines Bruders und lausche seinem regelmäßigen Atem im Schlaf und bin glücklich, wenn ich an die kommende Nacht denke -
Welch ein Leben, mein Leben!
Besitze ich nicht die wunderbarsten Kleider in der ganzen Stadt? Schimmern sie nicht in allen Farben und habe ich nicht Fäden aus Gold einwirken lassen, um ihren Glanz noch zu steigern, um sie kostbarer erscheinen zu lassen als die Kleider der allervornehmsten Damen von Paris?
Mache ich mich nicht schön nur für ihn allein?
Für ihn, meinen Bruder, den Dichter, der achtlos an seiner Schwester vorübergeht, für ihn, der um seiner Verse willen beschlossen hat, sich dem Zauber zu entziehen, den meine sieben Spiegel mir verkünden an jedem Nachmittag.
Stefanie Golisch
Wie eine Königin, flüstern sie mir zu, einer nach dem anderen, wie eine Königin -
So vergehen die Stunden bis zum Abendbrot, das ich ihm serviere mit hocherhobenem Haupt: Hafergrütze. So hat er es mir aufgetragen vor langer Zeit. Er wünscht keine Änderungen und ich füge mich in seine Ordnung; nie habe ich mich im Mindesten überwinden müssen, ihm zu Willen zu sein. Es ist mir im Gegenteil eine reine Freude, ihm zu dienen wie eine Magd: ich setze mich neben ihn und betrachte, während er nachtmahlt, unser strahlendes Bild im Spiegel und zittere vor Erwartung unserer langen gemeinsamen Nacht, von der er, mein Bruder, nichts ahnt -
Ein Teller Hafergrütze ist schnell gegessen und auch die Kerzen, die ich anzünde Abend für Abend, um unser Spiegelbild zu verschönen, halten ihn nicht bei Tisch; so rasch, wie er das Speisezimmer betritt, so rasch ist er wieder verschwunden aus ihm, mir eine gute Nacht wünschend, mitunter, mich unversehens anblickend als sei es das erste Mal, einen Traum, ganz so, als wisse er, wie nötig ich sie habe, meine schwerfälligen und meine leichtsinnigen Träume - Er, mein Bruder, hat die Schwester nicht nötig. Er würde ihr gerne raten, ihn einfach zu vergessen, doch scheut er sich, die Worte auszusprechen und so wünscht er ihr bisweilen, in einem Anflug von Milde, einen Traum, an dessen Inhalt ihm gleichwohl nicht gelegen ist. Nie ist Zeit für eine regelrechte Aussprache, ein Teller Hafergrütze ist rasch verzehrt, es ist, sie sieht es ein, besser, er geht zu seinen Versen; die Schwester möchte den Bruder schließlich nicht erbleichen sehen im warmen Schein der Kerzen! Eine Erschütterung! Das kann sie seinen Versen nicht antun!
Wie recht er doch hat, mein Bruder, wie klug er ist, wie genau er die Dinge durchschaut: er kann nichts für mich tun.
Was sind die gleichgültigen Träume der Schwester schließlich gegen die aufregende Einsamkeit des Studierzimmers, gegen die unmenschliche Anstrengung, die ganze Wirklichkeit zum Verschwinden zu bringen in einem einzigen Vers!
Hasst mein Bruder auch mich?
Hasst er auch seine Schwester weil sie doch, so sehr sie sich auch um Nachlässigkeit bemüht, immer noch Teil ist jener Wirklichkeit, deren Berührung ihn schmerzt wie eine Wunde, die nicht heilen will?
Natürlich hasst mich mein Bruder.
Wie könnte er mich, die ich mein Leben mit ihm teile, die ich alles von ihm weiß, nicht hassen? Er hasst mich ebenso inbrünstig, wie er seinen einzigen Freund hasst, dessen Briefe von fernher er nur mit einem Paar seidener Handschuhe bekleidet öffnet und liest. Und wieder liest. Und schließlich wegschließt in alle Ewigkeit in jene kostbar gearbeitete Schatulle aus Ebenholz, in der schon meine Mutter ihre Korrespondenz aufzubewahren pflegte. Wegschließt, wenngleich er sie am liebsten sofort verbrennen würde -
Keinen der Briefe des Freundes, der sich, seit er sich entschlossen hat, die Welt zu bereisen, Frédéric nennt, habe ich je gelesen, aber ich ahne, je geschickter mein Bruder sie in wechselnden Verstecken vor mir geheim hält, ihren Inhalt, als seien sie an mich selbst gerichtet.
Wenn mein Bruder wüsste!
Stefanie Golisch
Wenn er wüsste, dass er ganze Nächte lang die Abenteuer und Ausschweifungen seines besten Freundes besprechen könnte mit seiner Schwester, sie besprechen und nachleben könnte, die aufregenden Gelegenheiten des Freundes der, anders als wir, die Wirklichkeit nicht geflohen war und unsere Vaterstadt verlassen hatte vor vielen Jahren.
Welch ein Leben, denke ich bisweilen, wenn ich die Augen schließe und mir eine blühende Oase in der marokkanischen Wüste vorstelle, wenn ich die unvorstellbare Hitze Afrikas in mir aufsteigen spüre, wenn ich unverzüglich aufspringen und das Fenster zum Garten öffnen muss, um nicht zu zerbersten vor Verlangen nach einem anderen Leben -
Was für ein Gerede!
Was für ein ganz und gar sinnloses Geschwätz!
Ich kenne den Inhalt der Briefe Frédérics an meinen Bruder nicht.
Ich weiß nichts von jenen sagenhaften Nächten mit ebenmäßig gebräunten, wohlgeformten Araberknaben, nichts von blühenden Oasen, und einem Meer, dessen unvorstellbare Bläue denjenigen, der an seiner Küste steht, unverzüglich dazu bringt, sich selbst zu vergessen.
Ich weiß nicht, was es bedeutet, sich selbst zu vergessen in einer Umarmung.
Mein Bruder hat mich niemals umarmt.
Wenn ich mich am Abend niedersetze in den zierlichen Sessel am Fenster, wenn ich beobachte, wie nach und nach die Lichter verlöschen, wie es dunkel und dunkler wird, still und stiller, wenn schließlich nur noch das Murmeln meines Bruder aus dem Zimmer nebenan die Totenstille der Nacht zerbricht und ich immer noch reglos am Fenster sitze, betrogen um meinen Schlaf, aber nicht um meine Träume, dann fühle ich auf meiner Haut den Seidenstoff, aus dem all meine Unterkleider geschneidert sind und die meines Bruders, dann fühle ich die Glätte des Stoffes und seine Kühle als Verheißung und Erfüllung zugleich, ist es doch derselbe erlesene Stoff, den auch er, mein Bruder, auf seiner Haut spüren muss als zärtlich-melancholische Erinnerung an eine mutig gebannte Gefahr.
Wie gut, dass mein Bruder ein Dichter ist!
Welch ein unglaubliches Glück für uns beide, seine vielgerühmten, preisgekrönten Verse! Wir haben die Welt nicht nötig und nicht die Umarmung eines anderen, wir spüren, Verse murmelnd, auf unserer eigenen Haut die Verheißung und die Erfüllung zugleich.
Armer, bedauernswerter Frédéric, keiner seiner wohlgestalteten Geliebten vermag, so lese ich zwischen den Zeilen der schwach nach Veilchen duftenden Briefe, seinen Hunger zu stillen, keine noch so leidenschaftliche Umarmung sein übermächtiges Verlangen zu beruhigen; seine Verse sind gewöhnlich, aufgepeitscht und angestachelt von allerlei unerfüllten Sehnsüchten des Fleisches: Du, mein Bruder, bist der Größere von beiden. Deine Verse werden leben. Sie werden noch leben, wenn die leiblichen Reste der hingebungsvollen Geliebten des unglücklichen Frédéric längst vermodert sein werden in der Erde; sie werden leben noch dann, wenn die letzte Erinnerung an die wütende Umarmung der Körper ausgelöscht sein wird durch sein qualvolles Sterben; das Fleisch stirbt, anders als die Träume, langsam und schrecklich.
Stefanie Golisch
Das Opfer des Bruders soll aber nicht umsonst gewesen sein und nicht das der ihm und seiner Kunst ganz und gar ergebenen Schwester, die den Bruder, ohne dass er es weiß, als seidenes Unterkleid auf der Haut trägt durch ihre Tage und Nächte. Deine Verse, Bruder, Deine Verse, sie werden leben: sie werden dann noch leben, wenn auch der letzte meiner leichtsinnigen Träume gestorben sein wird. Ein gleichgültiger Tod, ich weiß, ein ganz und gar gleichgültiger Tod, ich höre bisweilen, wenn das Murmeln des Bruders für Sekunden verstummt, ein helles Lachen.
Es ist, ich weiß, das Lachen eines Gottes, der das Mitleid vergaß, das Mitleid mit Bruder und Schwester, über dem ruhelosen Wandern in einer schrecklichen Welt.
Lang sind, ich mag es nicht länger leugnen, meine Tage und lang meine Nächte. Ihre Gleichförmigkeit stimmt mich zu Zeiten melancholisch, dann wieder zornig; das unablässige Murmeln aus dem Zimmer meines Bruders, es erfüllt mich mit Ehrfurcht und Sorge und - Hass.
Ach wären da nicht diese gewissen Tage im Frühjahr und im Herbst, die Tage, an denen ich den Schneider ins Haus bestelle!
Ich liebe die Tage, an denen der Schneider ins Haus kommt mit seinen Journalen, aus denen ich lerne, wie die Dame von Welt das Haar frisiert in der kommenden Saison und welche Kleider man trägt in Paris etwa zum nachmittäglichen Tee. Die Abendroben überblättre ich rasch; ich will es nicht übertreiben, ich weiß, ich würde verrückt werden vor meinem eigenen Spiegelbild -
Der Schneider, ein zierlicher Mann namens Valentin Mondschein, wirft mir die Stoffe über, federleichten moosgrünen Taft aus Paris, einen burgunderfarbenen schweren Winterkrepp aus England, purpurn schimmernden, golddurchwirkten Brokat aus dem fernen Orient; wir bewundern meine Schönheit in den sieben Spiegeln und schreiten den Flur auf und ab vor den restlichen fünf. Dann geht es ans Maßnehmen und ich stehe vor Herrn Mondschein in meinen seidenen Unterkleidern, ich stehe vor ihm, den Bruder auf meiner Haut, und ich spüre bei geschlossenen Augen seine hingebungsvollen Hände mit Maßband und Stecknadeln hantieren. Er tut seine Arbeit geschickt, er ist ein gefragter Schneider in den besten Häusern der Stadt, und ich drehe und wende mich so, wie er es befiehlt, so wie es seiner Arbeit, die mir erscheinen will als ein müheloser Tanz, eben dienlich ist. Mit äußerster Präzision und einer Geschwindigkeit, die mich stets aufs Neue verblüfft, drapiert er die Stoffe um meinen makellosen Leib, legt hier und dort eine weiche Falte, markiert mit rosafarbener Schneiderkreide noch rasch einen ganz unerlässlichen Abnäher, zeichnet mit seinen schlanken Händen schon einmal das vollendete Gebilde auf mein Spiegelbild, so dass ich mich tatsächlich im Augenblick sehe in meinem neuen Kleid, und ist schließlich fertig.
Ich mache ihm, ungeübt in gesellschaftlichen Angelegenheiten wie ich es nun einmal bin, ein ungeschicktes Kompliment und er errötet tief, während er seine Schneiderutensilien in einem mit maulbeerfarbenem Satin ausgeschlagenen Köfferchen verstaut.
Nun schließe ich die Fensterläden und die schweren Vorhänge; Herr Mondschein, er kennt sich längst bei mir aus, entzündet inzwischen den silbernen Kandelaber auf dem Vertiko am Fenster. Mit berufsmäßiger Akkuratesse legt er die Bügelfalten seines mausgrauen Beinkleids fein säuberlich aufeinander, bevor er es bedächtig über die Lehne meines zierlichen Sessels hängt; ein schwacher Duft von Moschus breitet sich langsam in meinem Zimmer aus.
Mich fröstelt in der dünnen Seide. Doch nicht lang, denn schon spüre ich Mondscheins geschickte Hände mir den Bruder mit einem Ruck vom Leibe reißen.
Im Zimmer drüben wird das Murmeln laut und lauter. Wörter wie Rose und Seele und Unsterblichkeit dringen von fernher an mein Ohr.
Ich höre mich selbst hell auflachen.
Dann sinke zu Mondscheins Füßen hin.