Arwed Vogel

Ein Text! Sie können ihn mit Inhalt füllen, verschieben, kopieren oder löschen.

 

 


An der Straße nach Marigat


Bui stand zwischen den Häusern von Mogotio und sah die roten Punkte der Rücklichter

des Busses Richtung Marigat kleiner werden. Die flachen Häuser rechts und links der

Straße, die im vorbeihuschenden Scheinwerferlicht des abfahrenden Busses noch kurz zu sehen waren, verschwanden in der Dunkelheit.

Bui schaute sich vorsichtig um. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, aber jetzt
dachte er daran, daß er der einzige Weiße hier war, er dachte, daß es doch besser gewesen
wäre, zur Polizei zu gehen oder schon vorher etwas zu tun.
Bui stand am Straßenrand und wußte, daß er hier nicht länger stehenbleiben durfte, er
mußte zwischen den Lehmhäusern hindurch auf den Weg, der zu seinem Hof führte.
Als er losging, rechnete er jeden Augenblick mit einer Stimme, die hinter ihm seinen
Namen rufen würde, Charles Stimme vielleicht, die -Bui- rufen würde oder -Mister Bui oder
irgendetwas anderes. Zwischen den Häusern gab es nur lehmige Pfade, die Wände
waren Zentimeter von seinen Schultern entfernt; er spürte die Menschen dahinter oder er
glaubte, daß er es spürte.
Bui spürte sein beschleunigtes Herz, er schaute geradeaus, dabei wußte er, daß sie ihn
von hinten niederschlagen würden. Immer wieder sah er sich um. Immer längere Schritte
machte er, um endlich aus dem Dorf herauszukommen. Aber er wußte, daß er hinter den
Häusern nicht sicherer war.
Niemanden hörte er in den Maisfeldern, als er sie endlich erreicht hatte, nichts in der
nachtklaren Luft, keinen Lastwagen auf der Straße, selbst seine Schritte schluckte der
zentimeterdicke rote Staub.
Die Männer mußten wissen, daß er am Abend zurückkehren würde, sie hatten gesehen,
daß er alles gesehen hatte, sie wußten, wo er wohnte, weil es Charles wußte, sie warteten
auf Bui, irgendwo. Bui keuchte, als er den schwach bergan führenden Weg hinaufstieg, er
fühlte sich alt, zu alt für das alles hier. Er blieb stehen, horchte, hörte nichts.
Alles, dachte er, hatte mit dem Morgen begonnen, als Charles seinen Bruder
mitgebracht hatte, es hatte begonnen mit dem unseligen Gedanken, diesen Weg vor der
Regenzeit noch ausbessern zu lassen. Bui sah sich um und dachte, irgendwo warten sie
hier. Es war nicht mehr weit, er ging wieder einige Schritte; er mußte nur noch zwischen
den Bäumen hindurch, dann war er bei Mugwe, seinem Watchman, der das Gehöft
bewachte. Bui blieb wieder stehen, er überlegte, ob er Mugwe vertrauen konnte. Manchmal
machten Watchmen mit den Einbrechern gemeinsame Sache, unbestechliche Watchmen
über1ebten ntcht.
Die Männer hätten genügend Zeit gehabt, Mugwe Geld zu geben oder ihm zu drohen,
vielleicht lebte Mugwe gar nicht mehr.
Bui ging weiter, er mußte ja weitergehen. Er nahm sich vor, nicht gleich in sein Wohnhaus

zu gehen, sondern erst ins Büro und dort zu warten. Die Idee beruhigte ihn, und
er atmete langsamer.
In den Bäumen war niemand, und hinter den Bäumen sah er Mugwe vor dem Büro
liegen. Langsam ging Bui näher heran, die Augen immer auf den Platz zwischen den
Häusern gerichtet. Mugwe hatte über seine Uniform einen schwarzen Mantel gezogen, der
sich mit Mugwes Atem hob und senkte. Sie hatten Mugwe also nichts getan. Manchmal,
dachte Bui, ist ein schlafender Watchman nicht schlecht. Bui hob wieder den Kopf und
schaute nach vorne.
Das Haus, vor dem Mugwe schlief, war der Stall, in dem Bui Schweine und im hinteren
Teil Hühner hielt. Dahinter lag sein Büro und gegenüber das Wohnhaus, das er vom Büro
aus beobachten konnte.
Bui entschloß sich, weiterzugehen, dicht am Stall entlang ging er, aber als er merkte,
daß Mugwe aufgewacht war, -Mister Bui- hörte Bui ihn hinter sich rufen, es klang wie die
schon im Dorf erwartete Stimme, und Bui dachte, das ist die Falle, und ging schneller
weiter und drehte sich nicht um.
Nach dem Frühstück war er durch den roten Staub zu den vier Arbeitern, die er
angeworben hatte, hinausgegangen. Es war keine schwere Arbeit, die sie zu tun hatten,
aber zu schwer für ihn. Der Weg, der nach Mogotio hinunterführte, mußte vor der
Regenzeit an den Rändern befestigt, die Schlaglöcher sollten aufgefüllt werden. Bui hatte
die Arbeiter begrüßt, indem er eine Hand vor die Brust gehoben hatte, und aus dem Büro
die Schlüssel und aus dem Maschinenhaus Werkzeug geholt. In den Bäumen waren die
kreischenden Vögel zu hören. Die Arbeiter hinter ihm schulterten die Schaufeln und Hacken
und folgten Bui; nichts war zu hören, außer dem Aneinanderschlagen des Werkzeuges.
Der Weg fiel in weitem Schwung nach Mogotio ab, man konnte das Dorf am Fuß des
Weges sehen: das Rotbraun der Lehmwände und stumpfe Grau der Wellblechdächer,
dazwischen das schwarze Band der Straße, die von Marigat nach Nakuru führte,
schnurgerade durch das Dorf gelegt. Dahinter, bis zum Horizont, bis zu dem Strich Hügel,
den er morgens blau und mittags braun sah, streckten sich die Sisalplantagen, eingestreute
Gehöfte wie seines, und kleine Fabriken, von denen Laster über Staubwege wie diesen die
Sisalballen über die Straße nach Nakuru und Nairobi zur Küste brachten. In der langsam steigenden Sonne brachten blinkende Peugeots die Arbeiter aus Mogotio auf der Ladefläche zu den weiter entfernten Sisalfeldern. Bui war stehengeblieben. Er ließ die Arbeiter das Werkzeug fallenlassen, nahm eine Schaufel und begann, vom Rand Sand in die Löcher zu schaufeln. Er winkte einen der Arbeiter heran, erklärte, was er wollte, gab ihm die Schaufel, suchte Steine und kantete sie am .Rand in einem Schlagloch aneinander. Er richtete sich auf. Er schwitzte schon. Es war keine Arbeit mehr für ihn. Er legte das Werkzeug hin und
ging zu Charles. Charles war der einzige der Arbeiter, den er kannte. Er war der einzige aus
Mogotio. Einer kam aus der Gegend nördlich von Marigat, einer aus Meru und einer, der
Oyango hieß, vom Viktoriasee. Sie alle standen etwas unsicher mit dem Werkzeug in den
Händen Bui gegenüber und wußten nicht genau, ob sie jetzt anfangen sollten.
Bui lief von den Schläfen Schweiß. Er fragte Charles, ob er begriffen habe, sie sollten
sich Richtung Mogotio vorarbeiten, Charles nickte, und Bui stieg langsam den Weg zu den
Häusern zurück.
Ellen saß im Büro und schob mit ihrem Bauch die Schreibtischschublade zu, indem sie
sich vorbeugte. Die hellrot lackierten Fingernägel ihrer linken Hand zeigten auf die Zigarettenschachtel neben der Schreibmaschine. Sie hatte nicht viel Platz zwischen Wand und Schreibtisch, das Büro war zu klein, in den Regalen an der Wand standen nicht nur die
Geschäftsbücher, sondern auch Dinge wie zwei Verbandkästen, die nirgendwo anders
hinpaßten oder verschwunden wären. Ellen führte die Geschäfte, sie bezahlte die Arbeiter
aus, schrieb Rechnungen, sie war bei ihm, seit er vor zwei Jahren hier angefangen hatte.
Sie war in Nairobi geboren und sagte das jedem, der ihr widersprach.
Bui war nicht verheiratet, als er das Land gekauft hatte. Er hatte sich überlegt, eine
Afrikanerin zu heiraten, aber noch nicht die richtige gefunden und wendete dazu wenig
Energie auf. Ellen sorgte dafür, daß die Hausangestellten sich um seine Wäsche und das
Haus kümmerten, sonst nichts. Bui pflanzte auf den Feldern Sisal wie jeder hier, die
Arbeitskräfte waren billig, und Bui hatte Reserven, er hätte noch fünf Jahre ohne
Einnahmen überstehen können.
Ellen zeigte Bui die Post. Der einzige Brief kam vom Reverend der Lutheraner in Nakuru,
der ihn zum Sonntagsessen einlud. Die Sonntagsessen waren eigentlich nicht angenehm,
aber es waren andere Farmer und oft der District Commissioner da, und es war nicht gut,
nicht dabeizusein, es war nie sicher, ob ein Regierungserlaß besprochen wurde, und wie er
umgangen werden könnte. Bui legte keinen besonderen Wert darauf, mit anderen Weißen
zusammen zu kommen. Er gehörte unter ihnen zu den wenigen, die versuchten, es egal
sein zu lassen, mit wem sie zusammen waren.
-Sagen Sie zu-, sagte Bui nach kurzer Überlegung zu Ellen, die ihm die Zeitung gab. In
der Zeitung stand immer dasselbe: Hinter Nairobi hatte sich ein Matatu überschlagen, vier
bis sechs Tote, ein verdächtiger Rechtsanwalt war in der Ouko-Affaire verhaftet, die Schüler
des Egerton-Colleges waren wegen Unruhen ausgesperrt worden, und in Kisumu standen
zwölf Männer vor  Gericht, die einen Mann, den sie als Dieb verdächtigt hatten,
totgeschlagen hatten. Was in Europa passierte, Nachrichten von Erdbeben, Flugzeugabstürzen und irgendwelchen Wahlen, hatte für Bui keine Wichtigkeit mehr, es hatte ihn in Afrika zu langweilen begonnen, es wurde austauschbar, bedeutungslos.
-Sie arbeiten?- fragte Ellen.
-Ja-, sagte Bui, -ich hoffe es.-
Sie hatten die Arbeiter am Monatsanfang angeworben. Für jede Arbeit mußten neue
Arbeiter angeworben werden, weil nach dem Gesetz nach einem Monat die Arbeiter fest
hätten übernommen werden müssen. Es war an jedem Monatsersten dasselbe: Die Männer kamen aus Mogotio, aus dem Norden, aus Nakuru, sogar aus Kisumu, manche waren tagelang gelaufen und so schwach, daß sie kaum arbeiten hätten können. Es wurden jeden Monat mehr. Sie saßen auf dem Platz zwischen den Häusern und unter den Bäumen. Sie kamen bereits ein oder zwei Nächte vorher und schliefen in den Maisfeldern.
Bui wartete vor dem Büro auf Ellen. Ellen drückte ihre Zigarette aus, schloß die Bürotür hinter sich ab, in der Hand hielt sie ein Schreibheft. Die Männer auf dem Platz sahen sie an. Sie wußten, daß es nicht mehr lange dauern würde. Ellen rief über den Platz, daß sie sich hinsetzen sollten, aber die meisten hockten bereits im roten Staub.
-Wieviel brauchen wir?- fragte Ellen.
-Nur vier-, sagte Bui mißmutig, vier waren wenig, bildeten ein schlechtes Verhälnis zu der
Zahl der Wartenden. ·
Sie stiegen über die Sitzenden. Es war ein Ritual, das eingehalten werden mußte, denn hätte
er diejenigen genommen, die dem Büro am nächsten saßen, wäre das nächste Mal um diese
Plätze gekämpft worden.
Er hatte bereits zwei Arbeiter ausgewählt, als er Charles sah. Charles hatte schon
zweimal für ihn gearbeitet, Charles war aus Mogotio, und es war gut, bei jeder Arbeit auch
jemanden aus dem Dorf zu beschäftigen. Bui deutete auf Charles, und Ellen notierte seinen
Namen im Schreibheft und sagte ihm, wann er kommen sollte. Als Ellen vier Namen
aufgeschrieben hatte, gingen sie zurück vor das Büro.
Lächerlich, dachte Bui, als er die riesige Zahl der immer noch Wartenden sah. Aber er
konnte keine siebzig Erntearbeiter im November gebrauchen, es gab diesen Monat wirklich nichts zu tun. Ellen schloß die Tür zum Büro auf, die Männer blieben oft noch den ganzen Tag, manche gingen erst am nächsten Morgen.


Bui hatte sich angewöhnt, am Morgen nach dem Frühstück zu den Arbeitern zu gehen. Je
länger er am Morgen zu gehen hatte, desto weiter waren sie gekommen. Bui war erschöpft, wenn er bei ihnen anlangte, er fühlte den Schweiß an den Haarwurzeln und Schultem.
Aber es war keine Woche vegangen, als er beim Näherkommen statt vier Arbeitern fünf sah,
die den Boden aufhackten, Steine trugen und Sand schaufelten. Bui sagte nichts, als er die
Arbeiter erreicht hatte, er wartete, sah auf die fünf Afrikaner, auf Mogotio hinter ihnen, das trotz der jeden Tag verschobenen Perspektive immer gleich aussah. Bui hatte den fünften Mann noch nie gesehen, er betrachtete ihn, bis er und auch Charles zu arbeiten aufhörten und zu Bui gingen.
-Hallo,- sagte Charles, als sie sich gegenüberstanden, - das ist mein Bruder Reuben.-
Reuben nickte. Charles sagte: -Wenn Sie wollen, kann Reuben mitarbeiten, er ist ein guter
Arbeiter, er braucht nicht viel.- sagte Charles und legte seinem Bruder die Hand von hinten auf die Schulter. Bui sah Reuben lächeln und die Finger von Charles auf dessen Sdlulter.
Bui dachte, wie einfach es wäre, 'nein' zu sagen, im Englischen ein Wort, das aus zwei
Buchstaben bestand.
-Hallo Reuben!- sagte Bui.
-Du bist der Bruder von Charles.- sagte Bui und Reuben lächelte.
-Warum bist Du nicht zur Anwerbung gekommen?- fragte Bui, und Reuben schaute
Charles an, als würde er kein Englisch verstehen.
-Er hatte noch einen anderen Job-, sagte Charles, -er arbeitet viel.- Bui überlegte, und er
ärgerte sich, daß die anderen sahen, daß er überlegte. Es war egal, ob er vier oder fünf
Arbeiter bezahlte, aber er spürte eine Ungerechtigkeit in der ganzen Sache, die ihn davon
abhielt, Ellen einfach zu sagen, sie hätte jetzt jeden Tag fünf Arbeitern Lohn zu zahlen.
-Es ist nicht korrekt.- sagte er dann, und es war ihm egal, ob Charles seine Worte richtig
verstehen würde. Er drehte sich um und wollte zurückgehen, als Charles plötzlich neben
ihm war:
-Aber es ist gut, diese Leute von woanders zu nehmen, Diebe und Einbrecher, warum
nehmen sie nicht Leute von hier?- sagte Charles und zeigte auf die anderen Arbeiter, die
das Werkzeug abgelegt hatten und herüberschauten. -Das ist unser Land.- sagte Charles,
und Bui, der wiederholen wollte, daß es nicht korrekt sei, sagte unsicher -es tut mir leid-,
ging dafür aber um so entschlossener weiter und ließ Charles, ohne sich umzusehen, hinter
sich zurück.
Die sollen, dachte Bui auf dem Weg zurück, zum Teufel, ihre Arbeit tun. Er ärgerte sich
über Charles, über den Unwillen, sich an Regeln zu halten. Er wußte, daß Charles nicht so
schnell aufgeben würde, und in plötzlicher Wut entschloß sich Bui, ihn nie wieder zu
beschäftigen, ihn das nächste Mal bei der Anwerbung einfach zu übersehen. Es war
schwierig hier zu leben. Die Ebenen im Norden waren überweidet und die Tugen trieben ihr
Vieh bis hierher. Es gab von allem zuviel, vor allem von Rindern und Menschen. Nirgends
im Land gab es soviel Diebe, soviele, die auf der Straße schliefen, wie in Nakuru. Nach
Nakuru mußte er am Sonntag. Aber der Reverend hatte einen umzäunten Parkplatz und
verläßliche Watchmen. Bui dachte, als er am Büro anlangte, daß es nicht schlimm werden
würde, er würde dorthin fahren und wieder zurück, es war eine Abwechslung, mehr nicht.
Wegen Charles ging er die nächsten Tage nicht mehr zu den Arbeitern. Er begnügte sich
damit, aus einiger Entfernung zu sehen, ob sie alle gekommen waren, ob sie arbeiteten und
wieviele Meter sie hinter sich gebracht hatten. Bui sah, daß es vier Arbeiter waren, daß er es
geschafft hatte, sich durchzusetzen, nichts war so gefährlich, als wenn das nicht gelang.
Dennoch ging es langsamer voran, als er gedacht hatte. Es begann jetzt am Nachmittag zu
regnen: Jeden Tag dauerte der Regen etwas länger, aber es war noch der warme Regen,
der die Regenzeit ankündigte. Der Staub schluckte ihn noch völlig. Wo die Tropfen
aufkamen, blieben am Rande des Weges kleine, trockenen Löcher, die der Wind am
nächsten Vormittag wieder einebnete. Die Sache mit Charles, so unwichtig sie auch sein
mochte, ging Bui nicht aus dem. Kopf. Er wachte am Morgen verdrossen auf und
frühstückte ungern, nahm die angetrockneten Ränder des Papayastreifens wahr, die
braunen Flecken an der Banane und den öligen Nachgeschmack der Butter. Das
Schlimmste war, daß am Samstag sein Pickup nicht ansprang, als er zur Sisalfabrik nach
Mogotio fahren wollte. Es war nicht schlimm, daß er nicht zur Sisalfabrik konnte, aber er
wußte, daß er es nicht schaffen würde, den Wagen bis zum nächsten Tag zu reparieren.


Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit einem Matatu oder Bus nach Nakuru zu fahren,
Bui haßte es. Aber absagen konnte er nicht, und nicht hingehen ohne Absage war
unmöglich.
So stand er mit seiner Tasche vor dem Haus und sah die Vögel im Staub des Platzes
nach Ameisen picken. In der Hitze stand der Geruch von gebratenem Huhn. Der Staub am
Rande des Weges war so tief, daß er bei jedem Schritt bis zu den Knien aufwirbelte. Es
waren kaum Leute unterwegs, sonntags war der Weg ruhig, auch zwischen den
Lehmwänden der Häuser von Mogotio war niemand zu sehen, nur die Luft stand träge
zwischen ihnen.
Neben der Straße stand schräg das Matatu, das nach Nakuru fahren würde, und Bui
kletterte über die schmalen Stufen hinein.


Später drückte der Fahrer immer wieder kurz das Gaspedal, um vorzutäuschen, daß er
gleich fahren würde, und immer mehr Männer und Frauen stiegen in das Matatu, drängten
Bui an die vibrierende Metallwand, die den Raum von der Fahrerkabine trennte. Einer der
letzten, der einstieg, war Charles, und Bui sah sofort zu Boden, als er ihn erkannte. Nicht zu
sehen, heißt nicht gesehen zu werden. Eine Frau, die einen Säugling auf den Rücken
gebunden trug, verdeckte Bui vor den anderen. Bui sah nach unten, auf seine Schuhe, den
roten Staub an ihnen, nahm die Tasche von seinen Schultern und stellte sie auf den Boden.
So hatte er mehr Platz, aber nicht genug, um bequem zu sitzen.
Das Matatu schaukelte über die Schlaglöcher, über den ausgefransten Asphaltrand auf
die Straße, fuhr schneller, ließ die letzten Häuser hinter sich. Bui sah am Rücken der Frau
vorbei durch die staubschmierigen Scheiben: Die letzten Sisalfelder, die stacheligen, in den
Himmel gereckten Baumeuphorbien, Gebüsch. Ein dummer Zufall, daß auch Charles mit
diesem Matatu fahren mußte, aber Bui tröstete sich mit dem Gedanken, daß Charles ja
irgendwann aussteigen würde, ohne noch ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Bei jeder
Bodenwelle schlug der Kopf des Säuglings gegen seine Schulter, aber das Kind wachte
nicht auf.
Das letzte, was Bui im halbwachen Hoffen auf die Ankunft wahrnahm, war die
Polizeikontrolle,- einen Polizisten, der mit dem Gewehr in der Hand um den Wagen ging.
Kurz darauf, als sie wieder fuhren, hörte er jemanden laut reden und das Matatu hielt an.
Bui erkannte Charles Stimme. Die Männer beeilten sich, aus dem Auto zu kommen,
standen draußen, redeten und lachten und deuteten auf einen Mann, der nicht weit von
ihnen am Straßenrand stand und herübersah. Bui sah den Mann, den alle schon vorher
gesehen hatte, erst, als die Männer zu laufen begannen. Bui dachte einen Augenblick, daß
es einer seiner Arbeiter sei, Oyango, aber er war sich nicht sicher, die hellbraune Hose, das
weiße Hemd waren vielleicht dasselbe, aber Bui hatte das Gesicht nicht gesehen. Bui sah
den Mann nur noch von hinten, wie er ein Stück parallel an der Straße entlang und dann ins
Gebüsch lief, als er gemerkt hatte, daß die Verfolger ihn meinten.
Bui sah die Frauen an, die im Wagen geblieben waren und den Männern hinterhersahen.
Bui stand auf, um etwas zu sehen, der Fahrer war ausgestiegen und grinste durch das
Fenster. -Ein Dieb-, sagte er; Bui dachte, das Wort 'Dieb' ist ein harmlos komisches Wort,
und erinnerte ihn an einen Gemischtwarenladen oder an die blauschwarzen Zeichnungen
seines Englischbuchs. Bui dachte, jetzt erlebst du es auch einmal, er dachte, es ist alles
ganz nah, und blickte auf das Muster des Tuches, in das der Säugling eingewickelt war, auf
die leere Holzbank, aus dem Fenster hinaus ins Gebüsch. Bui hatte sich das immer so
vorgestellt, wenn er in der Zeitung davon las: Die Männer laufen hinter dem Dieb her,
werfen Steine und holen ihn ein, einer bekommt ihn zu fassen, der Verfolgte stolpert, fällt,
bleibt liegen, die anderen stehen um ihn herum, treten ihn in die Seiten und gegen den
Kopf, bis er sich nicht mehr rührt.
Bui dachte, daß er vielleicht doch hätte mitlaufen sollen, einfach nebenher, ihm hätten
sie nichts getan, und dem Flüchtenden dann vielleicht auch nichts, er hätte mit ihnen reden,
vielleicht sogar drohen können. Bui setzte sich wieder auf die Holzbank. Wahrscheinlich war
es zu spät.
Er sah die Männer zurückkehren. Sie lachten und redeten, als sie die Straße entlangkamen.
Einer blutete am Arm. Bui dachte, es ist selten, daß sich Diebe wehren. Bui sah
plötzlich, wie die Männer, bevor sie einstiegen, diskutierten, lauter und lauter redeten. Bui
merkte, daß es um ihn ging. Er spürte die Holzbank hart unter sich und hielt sich am Metall
fest, suchte einen Augenblick lang Charles Gesicht unter den anderen Gesichtern, fand es
nicht, sah aber wie sich die Männer einigten, sah ihnen beim Einsteigen zu, es wurde ruhig
im Wagen und das Matatu fuhr weiter und Bui sah, wie vorne der Scheibenwischer den
Staub auf dem Glas verschmierte, weil es zu regnen begann.


Erst vor dem Haus des Reverend merkte er, daß er seine Tasche im Matatu vergessen
hatte. Vor seinen Augen sah er noch immer den Mann, wie er zu laufen begann und in die
Büsche abbog. Bui spürte den Kopf des Säuglings an seine Schulter schlagen, er erinnerte
sich, die Tasche nach unten gestellt zu haben, an mehr nicht. In einem kurzen Moment von
Panik klopfte er seine Hosentaschen ab, ob er noch Geld hatte. Es war unmöglich: Er
konnte jetzt nicht zum Reverend gehen, er wollte es nicht. Er konnte nichts besprechen und
nicht zuhören. Er lief durch die Straßen, in denen das Wasser stand, auf denen der rote
Staub schmierte. Bei der Polizei dauerte es immer Stunden, und hätte doch keinen Sinn.
Bui schüttelte erschöpft den Kopf. Er mußte überlegen, sich beruhigen, immer noch sah er
die Männer vor sich.


Auf der Rückfahrt starrte er aus den staubigen Scheiben. Es war fast dunkel, als sie an die
Stelle kamen, wo der Tote liegen mußte. Bui erkannte sie nicht mehr genau. Er hatte die
Männer vor Augen, wie sie auf ihn deuteten, redeten, wie sie einstiegen. Er hatte es
gesehen und sie kannten ihn. Die schwachen Lampen im Bus beleuchteten die glänzenden
Gesichter um ihn. Es konnte immer wieder passieren. Die Männer mußten denken, daß er
sie angezeigt hatte. Charles konnte es für möglich halten. Es gab keine Freundschaft
zwischen ihnen, keinen Grund, warum er Charles nicht hätte anzeigen sollen. Bui hatte
Angst, als er zwischen den unbeleuchteten Häusern von Mogotio ausstieg.
Wie ein Verbrecher hielt sich Bui dicht an den Häusern, so daß er die Wärme spürte, die
die Mauern tagsüber gespeichert hatten. Oder die Menschen hinter ihnen. Mugwe rief
immer noch nach ihm. Bui holte aus seiner Hosentasche den Schlüssel und schloß das
Büro auf. Vor dem hellen Holz der Tür sah er seine Hände zittern. Er trat in den dunklen
Raum, er konnte nichts sehen. Leise drückte er gegen die Tür, damit sie nur noch spaltbreit
offenstand. Sein Atem beruhigte sich, er wischte sich den Schweiß ab. Hier würde er
warten. Er hatte nur Durst, aber das war jetzt nicht wichtig. Und seine Hände hätte er gerne
gewaschen, sie waren klebrig von all den Dingen, die er den ganzen Tag über angefaßt
hatte. Bui lehnte sich gegen den Schreibtisch, auf dem die kleine Schreibmaschine stand.
Er überlegte, ob er sich hinsetzen sollte.
Er hätte dann den Mann fast übersehen, der über den Hof auf sein Wohnhaus zuging,
quer über den Platz. Bui dachte zuerst an Mugwe, aber der Mann dort trug etwas bei sich,
etwas Großes, das auch schwer sein konnte. Dann war der Mann vorbei, und Bui spürte
wieder sein Herz. Der Mann mußte jetzt an seinem Wohnhaus sein. Bui dachte, ich hab
Recht, und eine Art von wilder Freude mischte sich in seine Angst. Weiter dachte er nicht,
er strengte seine Augen an, aber er sah nichts, er hörte auch nichts. Der Mann draußen
müßte jetzt feststellen, daß Bui nicht in seinem Zimmer schlief. Nein, so einfach kriegen die
mich nicht tot, dachte Bui.
Dann sah er den Mann langsam auf das Büro zugehen. Bui wich zurück. Vielleicht hatte
der Mann die halboffene Tür gesehen. Bui sah seinen Fehler ein. Gelähmt sah er, hörte er
die Schritte. Vielleicht war es Mugwe, aber selbst wenn: nichts zu riskieren war sein
einziger und in der Angst ihm vernünftig erscheinende Gedanke, und als die Tür
aufgedrückt wurde, riß er die Schreibmaschine hoch und schleuderte sie in den sich immer
mehr öffnenden Spalt. Er hörte etwas wie einen Schrei, aber nur halb, weil er über den
Schreibtisch kletterte, nach einem neuen Wurfgegenstand suchte. Auf der anderen Seite
hörte er nichts mehr. Und von hier hinten konnte Bui nicht mehr sehen, was draußen war.
Er hatte jetzt keine Kraft mehr zu stehen und ging in die Hocke. Sein Atem beruhigte sich,
aber es blieb ein Rauschen in den Ohren von der Anstrengung, als sei durch die plötzliche
Bewegung das Blut im Kopf zum Stillstand gekommen. Dann hörte er wieder etwas, ein
Schleifen, unbegreiflich und fast unheimlicher als der vorhin auf das Büro zulaufende
Mann. Aber Bui war zu erschöpft, um noch zu überlegen, was es sein konnte. Er saß da,
und als das Schleifen nicht mehr zu hören war, setzte er sich auf den Boden und nickte ein,
und als er kurz darauf wieder aufwachte, tat ihm alles weh und er verließ das Büro, ohne
sich noch einmal umzusehen.
Er stand, als er am Morgen aufwachte, sofort auf und trat ohne Schuhe vor das Haus. Er fühlte die Sonne auf dem Gesicht und auf den Armen jetzt schon brennen. Getrieben von den Erinnerungen, die immer stärker und bildhafter vor ihm standen, holte er seine Schuhe und lief über den Platz.

Vor dem Büro lag im Sand die Schreibmaschine, wenig verbogen, bis auf ein paar heruntergedrückte und verklemmte Tasten. Das Metall fing die Sonne an einigen Stellen und reflektierte sie. Bui konnte sich nicht entschließen, was er zu tun hatte. Eine unüber- windbare Scheu hielt ihn ab, die Schreibmaschine aufzuheben und ins Büro zurückzu- tragen. Es war ein ungewohntes Bild, in einer gewissen Weise, die Bui bemerkte, schön. Dann sah er die Spur, die von der Schreibmaschine wegführte. Bui folgte ihr, sie führte an dem Stall, an Mugwes Platz vorbei zu den Bäumen, wo sie am Abhang, der dahinter zum Bach führte, nicht mehr zu sehen war. Auf der anderen Seite sah Bui Mogotio, die blinkenden Peugeots, den Weg. Er sah die Arbeiter. Er zählte vier, aber das beruhigte ihn nicht, im Gegenteil: Mit jedem Schritt, den er näherkam, fiel es ihm etwas schwerer zu atmen, und als er sah, daß der Bruder von Charles unter den Arbeitern war, setzte das Herzstechen ein, und Bui wunderte sich, wie gleichzeitig das geschah, und er blieb stehen. Nicht aufregen, dachte er, als Charles ihm entgegenlief.
-Ich habe Reuben mitgebracht.- sagte Charles. -Damit wir nicht zuwenig Männer haben, sie brauchen doch vier Arbeiter- und Bui nickte, ohne es zu wollen. Es stimmte also: Sie hatten einen seiner Arbeiter umgebracht, und Charles hatte es veranlaßt, damit sein Bruder Arbeit bekam. Bui wich einige Schritte zurück, die Arme hingen schlaff an seinen Schultern, es war vorbei: Er war nicht mehr sicher, nicht mehr hier oben, nicht mehr im Dorf, er konnte aufgeben.
Er drehte sich um und begann zurückzugehen. Er zuckte zusammen, als Charles hinter ihm herlief und ihn am Arm kurz festhielt.
-Haben Sie Ihre Tasche?- fragte Charles, -Sie haben ihre Tasche im Matatu vergessen-, sagte er, -ich habe sie nach oben gebracht, aber Sie waren nicht da. Es war Geld drin und ich habe Mugwe gesagt, er soll sie Ihnen in jedem Fall noch geben, haben Sie sie bekommen?- fragte Charles.
Bui stand, ohne sich zu rühren. -Ja-, sagte er willenlos, -danke Charles-, sagte Bui und ging langsam, und als das Stechen nachließ, etwas schneller weiter. Er wußte nicht, was er denken sollte, er wußte nur; was immer auch war, daß es besser wäre, die Schreibmaschine zurück ins Büro zu stellen, bevor Ellen kommen würde.