TORSO - Interview
Urs Widmer
Werkstattgespräch
TORSO
Während Ihrer Frankfurter Zeit als Lektor bei Suhrkamp haben Sie sich in Ihrer Erzählung Alois mit Vergnügen den Trivialmythen der Moderne gewidmet.
WIDMER
Das war 1968. Mein erstes Buch.
TORSO
Was war der Auslöser?
WIDMER
Ich hatte schon halbe Ewigkeiten lang versucht, so etwas wie ein Schriftsteller zu werden. Man kann sagen, dass ich damit die geheimen Hoffnungen meines Vaters zu erfüllen versuchte. Der wollte wohl den großen Roman schreiben, hat es aber - zu meinem Glück - nie getan. Vor Alois habe ich also allerhand geschrieben, von dem ich aber stets wusste: das war es nicht. Alois wurde möglich, als ich von meiner Heimatstadt Basel weg war, also kein Sohn mehr. Und das Buch ist ein Kind von 1968.
TORSO
Inwieweit hat Sie da auch Ihr vorausgegangener Aufenthalt in Paris und Montpellier beeinflusst?
WIDMER
Frankreich und seine Literatur waren für mich von Anfang an sehr wichtig, wichtiger zuweilen als die deutsche Literatur. Mein Gott war Diderot. Und Camus und Sartre, weil die so toll aussahen im Café, mit ihrer Gauloise im Mund. Ich war verzaubert und hatte dennoch nichts begriffen. Die Surrealisten! Auch Beckett schrieb ja französisch.
TORSO
Wen haben Sie sich denn als Mentor ausgesucht?
WIDMER
1965 habe ich Hans Carl Artmann kennengelernt. Es hat sich bald eine enge literarische und persönliche Freundschaft ergeben. Artmann ist ein Vater von Alois. Ich lernte mit ihm zum ersten Mal einen Dichter kennen, der im Leben identisch mit dem war, was er schrieb. Und ich lernte bei ihm - kein Widerspruch - die Sprache und mich und meinen literarischen Vorwurf mit jener Distanz zu sehen, die die Form erst möglich macht. Er ist ja ein Meister der Verwandlung und Sprachmasken, spricht gleichermaßen Wiener Vorstadtslang und ein Deutsch des Barock. Er hat mich gelehrt, dass die vermeintlich ureigenste Empfindung nicht zu Dichtung führt. Nur zu ureigenstem Empfinden, formlos.
TORSO
Verliebtheit in Methoden kennzeichnet nicht nur Ihre ersten Dichterjahre...
WIDMER
Ein junger Autor, ein beginnender, muss sich für die Form interessieren. Wenn ich aber einen Sechzigjährigen sehe, der immer noch nur aus Methode besteht, dann bin ich misstrauisch. Denn das Was, das zum Wie gehört, sollte sich mit wachsender Lebenserfahrung schon einstellen.
TORSO
Wenn es nicht Ecriture automatique ist oder der Lauf der Gestirne: Wie funktioniert denn Kreativität bei jemandem, dessen Werkeverzeichnis demnächst den Umfang einer Orchesterpartitur sprengen könnte?
WIDMER
Das ist ein Zauber. Das ist eine Gabe der Götter. Denn es steht nirgendwo geschrieben, dass nach dem ersten Buch ein zweites kommen muss. Phantasie, Kreation hat mit Leiden zu tun. Ohne Leiden keine Kunst, das ist ihr Preis. Aber ohne Freude, ohne Lust, ohne Rivalität mit den Göttern auch nicht. Es reicht eben nicht, sich irgend eine action auszudenken. Wenn ein Buch nicht auch ein Geheimnis hat, eine Notwendigkeit, dann befindet es sich ausserhalb der Literatur.
TORSO
1968 ist ein Schlüsseljahr. Auch für Sie.
WIDMER
Ich war 1968 schon dreißig, mir begann man also schon nicht zu trauen. Aber '68 hat mich dennoch voll erwischt. Ich habe die Ziele von '68 unterstützt, solange sie nicht fundamentalistisch waren, rein ideologisch, und solange sie ohne Gewalt durchgesetzt werden sollten.
TORSO
Haben die denn jetzt überhaupt noch Geltung?
WIDMER
Manche sagen, dass '68 gescheitert sei. Das kann man nur sagen, wenn man eine Revolution gewollt hat, mit all ihren Folgen. '68 hat die Kurve zur Reform gekriegt. Und die war notwendig. Sie können sich nicht vorstellen, wie dumpf, wie ideologisch, wie gedankenunfrei das allgemeine Lebensklima vorher gewesen war. Natürlich war der Kern der Fragen der Achtundsechziger das Verhalten der Väter im Dritten Reich. Der institutionellen Väter auch. Aber Hand in Hand damit wurde manch anderer Staub weggepustet, dem Herrn sei Dank.
TORSO
Hängt die Entstehung des genossenschaftlichen Verlags der Autoren mit '68 zusammen? Sie sind Mitbegründer. Ihre Theaterstücke erscheinen nach wie vor in diesem Verlag, auch der Kassenschlager Top Dogs.
WIDMER
Der Verlag der Autoren ist aus einem Konflikt bei Suhrkamp entstanden. 1968, bezeichnenderweise. Ich war damals Mitglied des Lektorats von Suhrkamp, und wir Lektoren wollten alle den Verlag transparenter machen. Das war kein Wunder, schließlich wurden unter unserer Regie die, wenn ich das so sagen darf, Gebrauchsanweisungen für die '68er-Revolte herausgegeben. Luchterhand und Suhrkamp hatten, in der Hauptsache, die entscheidenden Bücher im Programm. Es wäre erstaunlich gewesen, wenn deren Inhalte nicht auch auf uns zurückgewirkt hätten. To make a long story short: die Mehrheit der Lektoren hat dann gekündigt und den Verlag der Autoren gegründet, der den Autoren des Verlags gehört.
TORSO
Top Dogs lief vergangene Spielzeit auf über vierzig Bühnen. Sie sind einer der Wenigen, die von ihren Tantiemen leben können.
WIDMER
Ich lebe seit 1968 von dem, was ich schreibe. Das muss mir zunächst einmal einer nachmachen, das ist realistisches Schreiben. Am Anfang hatten wir null Geld. Aber ich kann mich an keine Sekunde des Leidens, an keine Armut erinnern. 1968 war eine ausgesprochen optimistische Zeit. Wir waren so gut gelaunt! Eigentlich schön, nicht?
TORSO
Gute Laune ist immer was Feines. Aber auf Dauer...
WIDMER
Jetzt, mit Top Dogs, verdiene ich gut. Ich finde, dass ich das verdiene.
TORSO
Wie kam es zu Top Dogs?
WIDMER
Es war eine Art Auftrag. Volker Hesse, einer der beiden damaligen Intendanten des Neumarkt Theaters in Zürich, war Anfang 1996 auf die Idee gekommen, von der Entlassung von gut verdienenden Managern zu sprechen. Dass ganze Managements- Ebenen wegrationalisiert wurden, das hatte damals noch einen News-Wert. Wir haben in sogenannten Outplacement-Büros recherchiert, wie zwei Ethnologen. Während ich recherchierte, schrieb ich, während ich schrieb, probten wir. Alles in allem eine heiße Zeit. In drei Monaten waren wir fertig.
TORSO
Und dann lief das Stück an?
WIDMER
In Zürich entwickelte es sich zu einer Art Theatermythos. Wir haben es, glaube ich, etwa achtzig Mal gespielt und hätten es weiterspielen können. Wie The Mousetrap.
TORSO
Sie schreiben, das Problem vieler Theater sei, daß sie nicht wissen, was sie wollen. Wollen im emphatischen Sinne des Wortes: wirklich und heftig und mit einem ästhetischen, moralischen und politischen Ziel.
WIDMER
Ich denke, das Theater sollte noch vermehrt und noch intensiver versuchen, ein sozialer Ort zu werden, an dem die Dinge verhandelt werden, die uns betreffen, und es muss diese Auseinandersetzung auch wirklich ernst meinen. Etwas wollen, politisch, emotional. Das einfache Ansetzen eines noch so schönen Spielplanes, bei dem auf Brecht Anouilh folgt, und dann vielleicht ein schöner Labiche und zum Schluss vielleicht ein Stück von Heiner Müller, das genügt nicht mehr, um diese Erregung zu schaffen.
TORSO
Welche Erregung muss das denn sein?
WIDMER
Die Theaterleute müssen erregt sein über die Schrecken der Welt, ihre Ungerechtigkeiten; nicht aufgeregt. Und sie sollten sich Gegenmodelle zutrauen, leichte, luftige Utopien.
TORSO
Den öffentlich subventionierten Bühnen haben Sie in den letzten Jahren ja auch den Rücken gekehrt. Ihre Regiearbeit konzentriert sich auf die freien Theater, wie beispielsweise das Theater am Sozialamt in München.
WIDMER
Na ja, ein bisschen bin ich da auch wie der Fuchs mit den sauren Trauben. Das Burgtheater hat mich eben nicht gespielt, und die Schaubühne auch nicht. Und ich habe ja nicht nur mit freien Theatern gearbeitet. Auch das Neumarkt Theater ist eine subventionierte Bühne.
TORSO
Haben politische und moralische Ziele für Ihre Arbeit jetzt noch eine Bedeutung?
WIDMER
Es gibt keine Kunst ohne eine Moral. Ich will an dieser Welt teilnehmen, und ich nehme, wie die Dinge so liegen, leidend an ihr teil. Mein Lachen ist zur einen Hälfte Utopie und zur anderen Hälfte der verzweifelte Versuch, die Schrecken auszuhalten. Politisch ist insofern jede Zeile von mir, als sie eine Lebenshaltung zeigen, eine Glückshoffnung. Die immer mächtigeren Großkonzerne sind heute durchaus in der Lage, alle Errungenschaften der Demokratie auszuhebeln, ohne diese formal abzuschaffen. Bei den Faschisten, einst, waren die Schlüsselworte "Größe" oder "Sieg" oder "Macht" oder "Kraft". Heute heißen die Siegerbegriffe "Shareholder Value" und "unfriendly takeover". So groß sind die Unterschiede nicht.
TORSO
Findet man in der Schweiz so viele Beispiele für Schriftstellerengagement, weil alle Schweizer Autorinnen und Autoren Demokraten und deshalb tugendhaft sind?
WIDMER
Seit Gottfried Keller ist uns diese Rolle zugewiesen worden. Seit Max Frisch müssen wir diese Rolle übernehmen. Ich selber mische mich ganz gern ein. Einmischung ist aber eine Temperamentsfrage. Sie können von Markus Werner nicht das Gleiche wollen wie von Adolf Muschg. Im übrigen bin wohl nicht nur ich in dieser Frage ambivalent.
TORSO
So ambivalent wie das Schweizverhältnis der Schweizer Autoren an sich.
WIDMER
Wir Schweizer neigen sehr zur präventiven Selbstabwertung. Es hat noch keiner etwas gesagt, und schon schimpfen wir über uns selber.
TORSO
Dazu kommt, daß in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte um die Rolle der Schweiz im Holocaust eingesetzt hat.
WIDMER
Jede Generation seit dem Ende des Krieges hat diese Frage auf ihre Weise diskutiert. Gleich nach 1945, dann die Diskussion gegen Ende der Fünfziger Jahre (mit Alfred Häslers Das Boot ist voll), und nun erneut. Neu ist, dass die Diskussion auch jene ergreift, die man weder intellektuell noch politisch überwach nennen kann.
TORSO
Die Schweiz ist aber doch nach wie vor ein verhältnismäßig ruhiges Land. Seit hunderten von Jahren kaum Veränderung. Kein Krieg. Keine Trümmer. Somit gibt's doch eigentlich keine Probleme, die die Literatur groß aufzuarbeiten hätte.
WIDMER
Auch ein kleines Land hat Geschichte. Auch wir haben das Zwanzigste Jahrhundert nicht nur träumend und lächelnd überlebt. Trotzdem haben wir natürlich Glück gehabt. Und Glück macht nicht nur glücklich, sondern auch ein bisschen dumm. Auf der Habenseite schafft es aber eine sichere Identität.
TORSO
Gibt es denn eine Deutschschweizer Literatur, auch jenseits von Gattungs- und Vermarktungsbegriffen?
WIDMER
Es gibt nur eine deutsche Literatur. Aber Texte, die in der Schweiz entstehen, haben eine andere Geschichte als solche aus, sagen wir, Magdeburg. Die Schweizer privilegieren ihre eigenen Autoren. Das ist sehr freundlich von ihnen, wenn auch ein wenig rätselhaft. Wir gehören wohl irgendwie zur Familie, und da kauft man unsere Bücher auch, wenn sie nicht so doll sind.
TORSO
Aber Sie greifen in Ihrem Werk häufig Themen und Mythen der Schweiz auf.
WIDMER
Natürlich. Es sind meine Mythen.
TORSO
Die Theaterstücke Frölicher und beispielsweise auch Jeanmaire - ein Stück Schweiz handeln von konkreten historischen Persönlichkeiten.
WIDMER
Das sind, neben ihrer "Kunst", politische Polemiken. Jeanmaire spricht von einem Skandal, dessen Schuldige sich damals eben erst aus Amt und Würden verabschiedet hatten. Und Frölicher behandelt genau das, was jetzt so lebhaft diskutiert wird: Unser Verhalten im Zweiten Weltkrieg. Hans Frölicher war der Schweizer Gesandte in Berlin.
TORSO
Haben Sie sich inzwischen also doch zum Schweizer Nationaldichter gemausert?
WIDMER
Na ja, Nationalmannschaften interessieren uns nicht mehr so sehr. Ich fühle mich an der Literatur der Welt beteiligt. Die Weltliteratur, von der Goethe so intensiv sprach, weil sie nicht einmal am Horizont erkennbar war, ist heute eine Realität.
TORSO
In Ihren Grazer Poetikvorlesungen haben Sie noch gesagt, Sie wollten der erste Schweizer Schriftsteller nach Hartmann von Aue werden, der nie über die Schweiz schreibt oder spricht.
WIDMER
Wie Sie sehen, bin ich glorios gescheitert.
TORSO
Sie haben manche Stücke in Baseler Dialekt geschrieben, wie Nepal und Dr neu Noah. Das Hin- und Herpendeln zwischen Mundart und Hochsprache, gerade in der Literatur, das ist doch ein ganz schöner Drahtseilakt.
WIDMER
Dialekt ist so großartig, weil er nicht geschrieben wird. Er eignet sich also für die Dramatik und hat dort einen ganz frischen Zauber. Kam dazu, dass ich mir am Anfang nicht sicher war, ob ich, der Schweizer, die deutsche Alltagssprache schon so sicher drauf hatte, dass ich mich an heutige Sprachtexte wagen konnte. Ich habe damals versucht, "E" und "U" zu versöhnen. Sahnetorten flogen bei uns im Dialekt, und die ernsten Dinge des Lebens wurden hochdeutsch verhandelt. In einer Sprache, die nicht die unseres Alltags ist.
TORSO
Herr Widmer, Sie waren bis vor kurzem Dozent an der ETH Zürich und haben gemeinsam mit Adolf Muschg, Heinz Schafroth und Friederike Kretzen die Nachwuchsautoren-Lesereihe Holozän betreut. Ist in der jungen Literatur der Schweiz derzeit ein bestimmter Trend auszumachen?
WIDMER
Jahre, jahrelang habe ich gedacht, was ist nur los, wo sind die Jungen, die die Väter umbringen wollen? Niemand. Aber nun, plötzlich, sind da eine Reihe junger Autorinnen und Autoren. Das freut mich. Sie wetzen die Messer.
TORSO
An was arbeiten Sie zur Zeit?
WIDMER
Prosa. Kurz. Möglichst gut.
TORSO
Dann können wir jetzt ja gespannt sein...
WIDMER
Ich bin gespannt. Es ist sehr erregend. Ich kann schlecht abschalten, schreibe auch mitten in der Nacht, wälze mich im Bett. Na ja, das gehört wohl auch dazu.
TORSO
Herr Widmer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview mit Urs Widmer führte Mark Tanner.