Ruth Erat


 

Und für Petersburg Türkis

 

Petersburg drüben, drüben Riga und Karelien. Auf der Karte, abgegriffen von Fingern, die beim Schein der Küchenlampe mit der Sorgfalt und dem Leichtsinn steter Kopfreisen auffalten und zusammenlegen, die Linien der Fährschiffe. Da war die Stadt. Da war das Wort. Da trieb Kopenhagen in den Farben einer ruhigen See. Und in allem hatte eine heitere Ordnung Strassen und Häuser zu Plätzen, Pärken und Fassadenreihen gefügt. Da hatten keine Menschen mit Einkaufstaschen bei den Schnellbooten nach Malmö gestanden, keine Frauen, die an den Armen ihrer Kinder reissen, und nicht hinausschauen auf das Wasser oder die Schiffe oder den Kai. Sie war an einem dieser windig-sonnigen Tage angekommen, an denen die Autotüren mit lautem Knall zugeworfen werden, Papierfetzen über Parkflächen treiben, die Menschen eilig und schief nach vorn stürzend voranzukommen suchen, den Blick an die Gerade vor den Schuhspitzen geheftet. Man hatte sich in Zürich an den bunten Kofferetiketten erkannt, hatte im Flugzeug mit Sekt auf eine Erlebnisreise angestossen, auf eine Folge von Stationen und Grenzüberschreitungen und sich gegenseitig die Vornamen der Reiseteilnehmerliste zuzuordnen versucht: Hans? Eisi? Ernst? Martha?, hatte sich in freudiger Erwartung ganze Lebensgeschichten erzählt und Fotos hingehalten von Kindern und Enkeln, Geburtstagen und Häusern und Campingplätzen, hatte mit dem Farbbild in einer Plastikhülle die Geschichte vom Elsi, dem in Rimini eine Gaskocherstichflamme Stirnfransen, Brauen und Wimpern versengt hatten, weitergereicht. Man war im Bus zum Hotel gefahren, hatte sich im Foyer mit verschwörerischem Einverständnis in den herumschweifenden Augen zu Kleingruppen gefunden, war noch in der Nacht losgelaufen zu den Strassencafés und hatte Irishcoffee bestellt, die Stadt gelobt, den Entschluss hinzufahren und ausgetauscht, was man als Vorsichtsmassnahme für die Weiterfahrt eingepackt hatte: Zigaretten, Dollars, Strümpfe, Reiseapotheken mit dem roten Kreuzzeichen und Schweizer Taschenmesser mit weisser Kreuzprägung.

 

 
RUTH ERAT

 

 

 

 

 


 

 

Nun fuhr sie hin und her. Immer wieder rückwärts gezogen auf dem Pendelwegband wie auf einer einzigen Schiene, den Blick an die kleine Insel geheftet. Ein namenloses Landstück, weil nichts ausgerufen wurde dazu, menschenleer, wie sich immer wieder feststellen liess. Ein angespültes und festgewehtes Sediment, eine aufgehäufte Tafel, wie sie sich sagte und dazu, dass weiter drüben Malmö "auf Sand gebaut" heisse, und all das wahrscheinlich gleichgültig sei.

Es war ein Weg. Und man fuhr ihn in wechselnder Gesellschaft, sass vorläufig da, wie alle, hockte auf den blauen Sesselbezügen im gefilterten Licht, das durch getönte Scheiben fällt. Toastbrote mit Schinken und Schmelzkäsescheiben wie überall und grosse Plastikbehälter mit bunten, weichen Bären und solche mit Lakritz. Es war dieses alte Wort mit seinem strengen Geschmack, das man ihr vorgesagt hatte, als sie beim Jahrmarktverkäufer gestanden hatten, die Mutter mit der Magenbrottüte in der Hand, sie mit der um das Handgelenk geknüpften Ballonschnur. Lakritz gab es nicht. Magenbrot reicht, hatte die Mutter gesagt. Vor der offenen rosa Papiertüte mit den braunen Brocken hatte das Kind den Kopf geschüttelt, das Wort Lakritz geschrien, und die Mutter hatte sich weggedreht, war im Gewimmel weggetaucht.

Sie sass da. Die gleichmässige Vibration der Motoren im Körper. Vorläufig hinübergezogen auf dieser kurzen Linie von Küste zu Küste. Auf ihren Knien der Oresund, die Ostsee, das Mare Balticum, das ostwärts liegende Land. Auf den Knien eine blaue Fläche und Namen. Es gab Reisezeiten und Seemeilen. Es gab Unmöglichkeiten. Nach Königsberg keine Linie von Kopenhagen aus. Es gab diese Wörter aus Büchern. Karelien. Ingermanland. Livland. Lettland. Riga in Livland. Riga in Lettland. Es gab alte Farben. Riga als eine ungenaue Farbpostkarten-Stadt mit dem Nebel von Hochkaminen. Kirchtürme über Grauem. Kirchtürme in einer Früh, die keine Schatten wirft. Ein Himmel, in dem sich die Spitzen mit hellen Glockenschlägen verlieren. Ausgewaschenes Grünblau in Helmspitzen über Ziegelrot. Der Dom wie eine dicke Henne mit aufgeblasenem dunklem Ballonkopf. Unter hellem Laubwerk mit Lichtflecken übergossen steinerne Sphingen. Wege im Stadtplan, Bogen, Geraden, Rautengeflecht und mäandrierend schweifend eingeborgen vom Kanal. Alles menschenleer. Drüben, über dem Meer von Riga, Karelien. Landgüter. Ein Major, der steht mitten in dieser Fläche, geht auf der Landkarte, führt eine sehr blonde Frau am Arm, eine Frau mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Margaretha. Und der Mann hat schwarzes Haar und hellen Augen. Er steht am Hafen von Wyborg und auf einem Frachter steht eine Frau und winkt, reist hinüber, reist nach Petersburg.

Da ist Gold und Türkis.

Während der Reise hinüber und zurück, zwischen Kopenhagen und Malmö und Malmö und Kopenhagen, das Wissen, sich das für dieses Petersburg bewahrt zu haben: Gold und Türkis neben grauschwarzen Fassaden, abgewetzten Türvorlegem, trüben, vom leichten Ostseewind und beissendem Regen geätzten Scheiben. Gold und Türkis mitten in der Landwindfracht vom Ural und von Sibirien her, Leuchtendes über geschleiften Fassaden.

Es war vermessen genug gewesen, nach Kopenhagen zu fahren und dann hinüber nach Malmö. Sie hatte sich abgemeldet von der Reisegruppe. Die Freiwilligkeit ihres Rückzugs und der Verzicht auf sämtliche Ansprüche waren bestätigt und der Leiter hatte "schade" gesagt, "schade, Frau Inauen, so schnell kommen sie nicht wieder hin, nach Petersburg zum Beispiel oder nach Riga, schade, liebe Martha."

 
RUTH ERAT

 

 

 

 

 


 

 

Brotkrümel auf der Karte. Toastbrotkrümel vom Vortag. Darauf achten, nicht in diesen harten Bröseln zu sitzen. Nicht die Erinnerung an Kindertage. Krankenbetttage, weil das Kind in die Magenbrottüte gekotzt hatte, am Tag, als die Mutter weggelaufen war. Straftage. Tage im wechselnden Novemberföhnlicht vom Fenster her. Das Spiel, zu sehen, wie die Dinge davor nicht zu sehen gewesen waren. Mit den Augen zwinkernd den Hochhaushimmel hin- und herschnappen lassen. Das Spiel, die Mutter wegzuzwinkern und in ein Blau ein Gelb zu sehen und ein feines Rosa. Es waren Schwäne vorbeigezogen. Der Flug laut sirrender, weisser Maschinentiere vor einem schwimmbadblauen Himmel.

Damals das Gesicht von Margaretha. Im Haus die Frau aus Karelien.

Sie stieg aus in Kopenhagen.

Sie stieg aus in Malmö.

Sie las Ankunfts- und Abfahrtszeiten.

Im Warteraum vor sich hinstarrende Menschen in Arbeitskleidern, an die Wand gelehnt Männer in Anzügen und mit Aktenkoffern zu Füssen und über allem immer wieder das herumperlende Lachen junger Frauen am Arm von Männern mit sorgfältig geliert an den Kopf geklebten Haaren.

Im Fahrgastraum, in dieser Kunststoff- und Glashülle Kaffee- und Bierdunst. Auf der Wegstrecke, dieser imaginären Linie durch den Öresund, kein Fahrtwind.

Hinter dem getönten Glas sitzen. Im Rücken, zwischen den Schulterblättern die Schnur. Die Zugschnur. Die Frage, ob andere auch rückwärts sitzen auf Reisen, um diesen Punkt zu spüren, diesen hinwegziehenden Sog, dessen Ende so schnell nicht in ein Blickfeld geraten kann, und der die Arme wie Pendel an den Schulterblättern hängen lässt, den Händen alles Tun nimmt.

Ein Schnellbootweg.

In Malmö lag Backsteinrot vor Sandfarben, lichtem Ocker und Blau.

In Kopenhagen lag diese Ahnung von Türkis. Und die Farbe liess die Stadt wegtauchen. Auf der Karte dann wieder diese vertrauten Planlinien.

Im Dazwischen ein Spiel. Kopenhagen und die Vorstellung, sich hier für ein brüchiges Netz von einem Sediment zum anderen ziehen zu lassen. Dazwischen Lichtgeflimmer. Ungesehene Farben. Margaretha und der Major aus Karelien. Margaretha durch Strassen eilend. Bündelweise Papier um sich. Fetzen. Geschichten. Dazwischen die Wörter, Namen, an denen die Netzhaut streift.

Margaretha war aus Wyborg gekommen. Sie hatte keine Vorhänge an die dafür vorgesehenen Schienen gehängt. Man konnte vom Laufsteg aus in ihre Wohnung sehen. Sie sass da, fiel mit den Zeigefingern in gleichmässiger Folge auf die Tasten der matt-grünen Schreibmaschine ein. Auf dem Holztisch lagen Bücherstapel und Papierbündel. Manchmal sass sie zurückgelehnt. Dann waren ihre Beine weggestreckt, hingen ihre Arme über der Stuhllehne, schaute sie gegen das Fenster und stiess langsam Zigarettenrauch aus. Einmal hatte sie bewegungslos dagesessen und zwischen ihren rotgeschminkten Lippen war diese schwarze Süssigkeit. Lakritz, hatte das Kind zur Mutter gesagt, Lakritz ist nicht nur für Kinder.

Dann war die Frau weggefahren.

 
RUTH ERAT

 

 

 

 

 


 

 

Die im Haus hätten die Dinge gewusst. Eine hohe Militärperson. Ein Major, der auf der falschen Seite stand. Ausweisung. Man wusste es. Sie hatte in den Tag hinein getrödelt. Sie musste irgendwo im Norden eine Berühmtheit sein. Man hatte auch die Papiere gesehen, ganze Stapel. Alles mit der Maschine beschrieben.

Das Kind hatte im Lift gesagt: Frau Margaretha, schreiben Sie mir eine Karte? Die Frau hatte gelacht. Es war fast ein Männerlachen gewesen. Das hatte eine Verwegenheit in den Raum gelegt und das Kind hatte gesagt: Ihr Mann ist doch ganz grau. Da hatte sich die Frau über das Kind gebeugt und auf ihrer Stirn war eine Falte eingegraben, hatte der rote Mund "Unsinn" gesagt.

Die Reise nach Kopenhagen war ein Irrtum gewesen. Die Stadt war geschrumpft, trieb weit weg für sich allein in ihren Tagen herum. An roten Futterautomaten zerren Kinderhände, rütteln Nahrungsbrocken in den Ausgabekanal, werfen herumschnappenden und übereinander herfallenden Basterenten braune Klumpen zu. Beim Kanal in Bierwolken und laut herausgestossenen Wörtern zusammenklumpende Menschenballen. Unter bengalischen Fackeln aufspringende und zurückschnellende Artisten in weiten, weissen Gewändern. Dazu Trommelwirbel. Jubelnd aufflammender Applaus. Männer, die ihre Wangen an langes, glänzendes Haar lehnen. Männerpaare, die sich sanft an den Händen haltend aus der Menschentraube lösen, wegschlendern. Einer, der auf einem Hochseil von Tanker zu Tanker schwebt, ein leuchtender Punkt über dem schwarzen Nachtwasser.

In Malmö ging sie über wegkippende Plätze und den Strand zwischen braun gebrannten Frauen. Bälle, die über Netze fliegen. Gespannte Armmuskeln holen aus zu federnden Schlägen und in die Höhe geworfene Körper stürzen den weggestossenen Geschossen ihrer Zurufe hinterher. Kinder stehen mit ausgebreiteten Armen auf grünen Hügeln, stürzen sich mit Geschrei gegen den Wind.

Im Schnellboot kamen die Geschichten zusammen. Sie sieht das Hochseil über der Daugava. Das Boot fährt zum Schloss von Riga. Es ist Nebel über dem Wasser. Das lange Seil wippt. Der Seiltänzer im schwarzen Frack taucht in die weisse Wolkenschicht und steigt wieder auf. Sie steht auf dem Dach des Doms. Unten ist alles, was herumrennt und -fährt, verschluckt. Die Uhr schlägt ihre Vormittagsstunden in einen leeren Himmel hinein. Sie sieht das Hochseil über das kurische Haff gespannt und der Frack erzählt von den vom Sand der Nehrung zugewehten Dörfern. Er wirft Bernstein ins Meer. Da fahren über ihren schwarzen Schatten Holzboote mit erdfarbenen Segeln und verwegen zu Haus- und Elchreihen gefügten Wimpeln. Sie fahren hin zu Wörtern und Farben, zum Tausendgüldenkraut und zum Schwarzen Berg. Margaretha sitzt unter weissen Wolkenbändern. Sie schreibt, und Tallinn, wo sie die Fähre nach Helsinki und nach Wyborg und nach St. Petersburg besteigt, ist auf der Ansichtskarte eine mit Spitzen übersäte rote Mauer. Die führt vom Meer her einen Hügel hinan. Sie schaut von einem Frachter aus auf St. Petersburg. Sie sagt: Prospekt und Türkis. Sie sagt: Für St. Petersburg Türkis.

Sie faltete die Karte zusammen. Sie stieg gewohnheitsmässig aus. Sie stieg gewohnheitsmässig ein. Man könnte hier sagen, dass sie zu einer Arbeit fahre. Am Vormittag und am Nachmittag. Alltägliche Wege. Alltäglich die Fährenwörter "tak" und "färja". Am Bahnschalter in Staad würde man sie nicht wieder erwarten. Die neu angebrachten Billettautomaten hatten sie ersetzt. Der Hausrat der Blockwohnung liesse sich leicht vom Brockenhaus übernehmen. Die Zahlungen für die Reinigung und den Transport könnten per Postanweisung erledigt werden. Der Bodensee, die Hügel und die Berge würden wegtauchen. Sie würde die Karte aufschlagen. Konstanz und Bregenz würden leuchten. Auch St. Gallen. Margaretha wäre zurück. Sie würde erzählen, wie sie von Wyborg her angekommen war am See. Sie würde die Geschichte wissen.

 
RUTH ERAT