Ping – Pong
Er hatte sich präpariert, sich Verschiedenes vorgestellt, versucht, sich auf Unvorhersehbares vorzubereiten, hatte jede Menge Szenen geprobt. Jetzt stand er am Guckloch hinter dem Vorhang auf unbeleuchteter Bühne. Der Saal füllte sich. Das bunt gemischte Publikum: Jeans, Röcke, karierte Hemden, unkarierte sogar vereinzelt mit Schlips, Turnschuhe, Pumps, in der ersten Reihe zwei Paare gekleidet wie zur Konfirmation ihrer Enkelkinder, altersmäßig gut gemischt mit leichtem Überhang zu fünfzig, sechzig. Nach dem dritten Klingeln und eiligen Nachzüglern konnte er feststellen, dass der Saal fast ausverkauft war. Nur hier und da waren Sitze leer geblieben. Er hörte Gemurmel, durchsetzt von Husten, Naseputzen, Lachen.
Der Saal war hell erleuchtet und blieb es eine Weile lang, blieb es über Gebühr lang. Einige klatschten, andere fielen fordernd ein; der Saal blieb hell. Das Klatschen brach ab. Das Gemurmel wurde von vereinzelten, ungeduldigen bis verärgerten Rufen durchsetzt: „Anfangen!“ Wieder wurde geklatscht, lauter, fordernder. Es erlahmte eben so schnell wie das erste. Ein Latzhosenträger mit grauem Haarbürzel mitten auf dem Kopf lugte hinter den Vorhang, sah ihn, den Zuschauer auf der Bühne, in der Dunkelheit nicht, ging schulterziehend zurück zu seinem Platz. Die Rufe wurden häufiger: „Aufwachen!“ „Anfangen!“ „Ich will mein Geld zurück!“ Aber noch verließ keiner den Saal.
Endlich wurde es sacht aber beständig dunkler, bis es finster war. Ruhe kehrte ein, erwartungsvolle Stille. Nur die Notbeleuchtung blieb, spendete aber kaum Licht. Der hinter dem Vorhang konnte das Publikum nicht mehr sehen, erschrak, weil er daran nicht gedacht hatte. Ihn überfiel eine ganz und gar unsinnige Erinnerung: Ein schwarzes Kellerloch, in das man ihn mit sechs oder sieben Jahren wegen irgendeiner Untat eingesperrt hatte. Panik kündigte sich an. Er rief sich zu Ordnung: Er war kein Kind und dies kein Keller.
Wie lange war die Saalbeleuchtung schon erloschen?, fragte er sich. Nach dem anschwellenden Geräuschpegel und einigen Buh-Rufen zu urteilen, lang genug.
Der Vorhang geht, wie immer majestätisch langsam, auf. Nach und nach wird es ruhig im Saal, keiner klatscht, einige räuspern sich. Auf der Bühne ist es stocke finster. Nichts ist zu sehen. Wieder machen sich Unmut und Ärger breit, die Bühne wird schlagartig hell. Dem Publikum muss die plötzliche Lichtflut wehtun. Als sich die Augen daran gewöhnt hatten, sehen sie ihn mitten auf der Bühne sitzen. Er starrt vor sich hin. Irgendwo hustet einer. Sein Kopf ruckt, seine Augen starren in die Richtung. Das wiederholt sich bei jedem Geräusch, das er hört.
„Anfangen!“ Er brüllt zurück: „Anfangen!“
„Was soll der Quatsch?“ Er genauso: „Was soll der Quatsch?“
„Es reicht!“ macht jemand lauthals seinem Ärger Luft. Er flüstert: „Es reicht!“
„Wann fängt das endlich an?“ Er im gleichen Tonfall: „Wann fängt es endlich an?“
Irgendwo hinten im Parkett oder Rang, er kann es nicht sehen, wird demonstrativ langsam geklatscht. Er klatscht mit gewölbten Händen so schnell wie er kann viel lauter. Das hatte er vorher geübt.
Einige finden das komisch und lachen. Darauf hat er nur gewartet. Er lacht, lacht lauter, lacht brüllend, er gackert, kollert, girrt sein Lachrepertoire rauf und runter bist der Saal wiehert. Lachen steckt eben an. Ihm geht die Luft aus. Denen im Saal noch lange nicht. Und wenn mal eine Pause droht, geht es da oder dort verstärkt wieder los. Irgendwann ist das Publikum in Gänze derart erschöpft, dass nur noch vereinzelt gequälte Gluckser zu hören sind.
Er steht auf, verlangt pantomimisch mit entsprechend herrischer Geste Ruhe, dreht sich um, steht nun mit dem Rücken zum Publikum, zieht einen Zettel aus der Hosentasche, entfaltet ihn und liest mit neutraler, ausdrucksloser Stimme vor: „Regieanweisung: Wer jetzt geht, hat keinen Anspruch mehr auf Erstattung. Wer jetzt geht hat für sein Geld genug gelacht!“ Er fängt an, auf der Bühne herum zu schlendern, geht spazieren, Hände in den Hosentaschen, die Lippen wie zum Pfeifen gespitzt.
„Sing uns ein Lied!“ Er bleibt kurz stehen, wendet sich zum Publikum: „Sing uns ein Lied!“, geht weiter.
„Ausziehen! Ich will was sehen für mein Geld!“ Er fragend: „Ausziehen? Ich will was sehen für mein Geld?“
„Ich verklage das Theater auf Schadenersatz!“ Er kreischt ins Publikum: „Ich verklage das Theater, schließlich entgeht mir der ‚Tatort‘!“ Die Freiheit musste er sich gönnen.
Ganz weit, wie er meint, hinten oben, jedenfalls im Dunkel wird geklatscht. Wütendes Buhen versucht das Geklatsche zu übertönen.
„So eine Unverschämtheit“, tönt es in heimischer Mundart oder regionalem Dialekt. Er antwortet auf Esperanto: „Tiel skandalaj!“
„Komm endlich in die Puschen!“ Er: „Komm endlich in die Puschen.“
„Man sollte dir eins in die Fresse hauen.“ Er: „Man sollte dir eins in die Fresse hauen!“, Betonung auf ‚dir‘.
„Ach, macht doch deinen Scheiß alleine!“, wütet einer in der zweiten Reihe springt auf und rennt ohne Rücksicht auf die um ihn herum Sitzenden fluchtartig aus dem Saal. Er ruft ihm nach: „Ach, mach doch deinen Scheiß alleine!“ Er hat Mühe, den Ton zu halten. Seine Stimme droht zu kippen. So ganz wohl ist ihm in seiner Rolle nicht. Später unter Freunden wird er zugeben, dass das Geschimpfe, die Aggression, die Wut ihm viel näher gegangen sind, als er erwartet hatte.
„Hast du deinen Text vergessen?“, hat eine weibliche Stimme Mitleid mit ihm. Er fällt aus der Rolle, kann nicht anders: „Hab keinen Text! Gib mir einen!“
„Dir sollte man den Arsch versohlen!“ Er: „Dir sollte man den … versohlen!“, verschluckt den ‚Arsch‘, betont das ‚dir‘.
Während sich die Zuschauerreihen langsam lichten, wechseln sich Verbalattacken und lustige oder lustig gemeinte Zurufe ab, Er retourniert sie meist wörtlich, ändert öfter die Tonart, spricht mal schneller, mal langsamer, mal leiser, mal lauter, viel lauter, überschreit, überbrüllt den Zuruf aus dem Publikum. Dann geht er, während er einen Protest wiederholt, mitten im Satz von der Bühne. Vorhang.
Die Leute im Saal sind verblüfft, verärgert. War das alles?, fragen sie sich, während im Saal das Licht angeht. Nach und nach stehen sie auf, verlassen den Zuschauerraum. Im Foyer warten die üblichen Getränkestände auf sie. Einige interpretieren das als Pausenzeichen. Viele holen sich ihre Garderobe oder suchen gleich das Weite. Zwei nett anzusehende junge Damen im Dirndl bieten Snacks an, vornehmlich Beutel mit Marshmellows. Die gehen am besten. Dann das obligate Geklingel. Die Verbliebenen tröpfeln zurück in den Saal. Das Parkett bleibt bis auf Vereinzelte in den hinteren Reihen leer. Die Ränge sind nur noch mäßig besetzt. Selbst der Olymp, der vorgibt, den Kennern vorbehalten zu sein: Gähnende Leere.
Die Saalbeleuchtung leuchtet – wie gehabt – über Gebühr. Den restlichen Zuschauern schwillt – wie gehabt – der Hals. Der Saal wird dunkel, die Bühne schlagartig hell – wie gehabt. Der Repitierer lässt sich – wie gehabt – Zeit. Im Saal bleibt es still – anders als gehabt.
Der zweite Akt verspricht, wie der erste zu werden, wie der dritte wird werden können, der vierte und so weiter, bis endlich keiner mehr in den Saal zurückkommt und der erschöpfte Schauspieler Feierabend hat.
Die im Dunklen schweigen. Der auf der Bühne hat nichts zu sagen.
Nach einiger Zeit wird es im Saal unruhig. Mutige oder Tatendurstige kommen vom Rang herunter, die von den hinteren Reihen nach vorne. Sie setzen sich zwar nicht in die ersten Reihen, aber an den Rand des Bühnenlichtkreises, sind schemenhaft sichtbar.
Sie, die sieben Aufrechten im Zuschauerraum und das tapfere Schneiderlein auf der Bühne, warten. Warten auf Godot[1], fällt ihm ein. Langes, sinnloses Warten aber anders als bei den beiden Landstreicher Estragon und Wladimir keineswegs vergebliches Warten, da ist er sich sicher. Die Handvoll Unentwegter wird das gegenseitige Belauern nicht endlos ertragen. Godots Existenz ist fraglich: Gibt es ihn? Gibt es ihn nicht? Die Frustration, der Ärger, die Wut hinter der Stille im Zuschauerraum sind zum Greifen real.
Die ersten Marshmellows fliegen. Nur wenige erreichen die Bühne, kaum eins trifft. Die, die die Bühne erreichen, sammelt er auf, wirft sie zurück, trifft fast immer – auch das hat er geübt.
„Zehn Euro für eine Tomate!“ Brüllt einer von hinten links und einer von hinten rechts fügt nahtlos, so als hätten sie sich abgesprochen, an: „Zwanzig für ein faules Ei!“ Zu kurz nacheinander, um jedes Gebot für sich zu wiederholen. Er retourniert weder das eine noch das andere. Gibt er auf? In einem Brief an einen Freund wird er zugeben, Angst gehabt zu haben. Er habe befürchtet, mit Härterem, Gewichtigerem als Eiern oder Tomaten beworfen zu werden.
Die letzten hin- und herfliegenden Marshmellows verlieren sich zwischen den Sitzreihen. Zwei, drei Leute gehen. Ruhe kehrt ein. Zieht sich in die Länge, wird langweilig.
Ein Zuschauer hat keine Lust mehr, wird initiativ. Der Repitierer kann ihn nicht sehen, nur hören.
Zuschauer: „Brautkleid bleibt Brautkleid – Blaukraut bleibt Blaukraut.“ Und die Antwort: „Brautkleid bleibt Brautkleid – Blaukraut bleibt Blaukraut.“
Zuschauer schneller: „Es lagen zwei zischende Schlangen zwischen zwei spitzen Steinen und zischten dazwischen.“ Die Antwort kommt exakt aber langsamer: „Es lagen zwei zischende Schlangen zwischen zwei spitzen Steinen und zischten dazwischen.“
Zuschauer noch schneller: „Früh in der Frische fischen Fischer frische Fische in der Fischach.“ Langsam, betont bemüht antwortet der auf der Bühne: „Früh in der Frische … fischen Fischer … frische Fische … in der Fischach.“
Der im dusteren Teil des Zuschauerraumes legt nach, spricht schnell wie ein überdrehter Tonträger: „Wir Westerwälder Waschweiber wollen Wilhelms weiße Windeln waschen, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser wär.“ Die Wiederholung macht Mühe, holpert, stolpert, bricht schließlich ab: „Wir Wester … wälder Waschweiber wollen Wilhelms weiße … weiße Windeln waschen, wenn wir wüssten, …“
Die paar verbliebenen Zuschauer lachen von Herzen. Der auf der Bühne ist geschlagen, fühlt sich geschlagen und wird wütend: „Wann haut Ihr endlich ab?“ Zwar nicht viel- aber mehrstimmig kommt das Echo: „Wann haust du endlich ab?“
[1] Wikipedia: Warten auf Godot (franz. Originaltitel: En attendant Godot) ist ein Theaterstück von Samuel Beckett, das im Herbst 1948 begonnen, Anfang 1949 fertiggestellt und 1952 publiziert wurde.