Vasile V. Poenaru

Österreichische Essayistik und EU-Traumpolitik

 


Wirklichkeit, Realität und alternative Existenz à la Karl-Markus Gauß – durch ein


Riesenteleskop der Marke Menasse betrachtet

 

 

 
Gäbe es tatsächlich ein Riesenteleskop der Marke Robert Menasse, so könnte man damit


weit in die Zukunft spähen. Und hätte es etwa am 12. Oktober 1974, als sich Robert


Menasse, Ludwig Hartinger, Herbert Ohrlinger und Karl-Markus Gauß bekanntlich bei


Bier und Hunnenspieß (oder bei Bier und Schlachtplatte?) im Weißen Kreuz in Salzburg in


aller Gemütlichkeit über ihre „Zukunft in der Literatur“ unterhielten, so ein Teleskop


gegeben, dann hätte man in dem Augenblick an Ort und Stelle sehen können, wie die


literarische Zukunft dieser schon damals in ihrem gewaltigen Schwung und in ihrer


ungebändigten Begeisterung für Sprache, für Literatur, für Polemik und scharfzüngige


Essayistik bedeutsamen Männer später – sagen wir mal im Jahre 2016 – aussehen werde.


Und um es ausnahmsweise in unserer europaweiten lingua franca zu sagen, in der ja auch


die good old Eurozine, in der etwa ein Menasse öfters in englischem Sprachgewand durch


den Kontinent geistert, erscheint: They never lost their swing. Das sind österreichische


Schriftsteller, die was zu sagen haben. Und wenn sie mal nichts zu sagen haben, dann


verstehen sie es, sich immer wieder gründlich auszuschweigen (so Gauß über sich selbst
 


2008 in einem Interview im rumänischen Germanisten-Jahrbuch Transcarpathica). Sich


ausschweigen: indeed quite österreichisch.

 

 

 

 

Vier Männer an einem Tisch. Vier Jungliteraten. Vier große Kinder, die schrecklich viel


gelesen haben. Freunde. Österreicher. Europäer. Die Frage, die sich der universale


Zeitgeist österreichischer Ausdrucksweise stellt, die Frage, die sich “unser”


zeitgenössischer Zeitgeist stellt (soweit man sich den Zeitgeist einfach unter Einbringung


eines großzügigen kulturwissenschaftlichen Überziehungsrahmens kapriziös-essayistisch


aneignen und nach Belieben chronologisch einordnen darf): Worüber sprechen Sie?
 


Ein Blick auf Robert Menasses geheimes Tagebuch ergibt folgende strategisch belangvolle


Information: Sie sprechen über Kinder-Typen. Eines dieser mittlerweile erwachsenen


Kinder in der Literatur geht gerne auch mal zum Tellerrand und spielt dort mit


denjenigen Kindern, die vielleicht was Eigenes haben, auch wenn sie nichts haben. Und


dann erzählt es zu Hause, was sich drüben so tut: ein Kind vom Typus Gauß. Tagebücher


und Journale sind eine gute Sache, denn so wissen wir, wie’s früher mal war und wie es


wohl in ganz ferner oder eben in ganz naher Zukunft mal aussehen will. Ein europäischer


Landbote österreichischen Schlages hat uns seine europäische Botschaft durch die Zeiten


hindurch zukommen lassen. Deswegen sind wir über die Reihenfolge der Geschichte


bestens im Bilde.

 

 

 

 

Tatsache ist, Robert Melasse hat vor dem Brexit durch sein Teleskop geschaut, jedenfalls


behauptete er das in Eurozine (zunächst in englischer Übersetzung; der Originalbeitrag
 


erschien alsdann in Akzente), um im gegenwärtigen europäischen Zusammenhang


wennschon nicht auf politischer Ebene, so doch jedenfalls aus vielfach reflektierter


essayistischer Perspektive die richtigen Akzente des neuen EU-Narrativs zu setzen, an dem


derzeit in den Kanzleien, in den Medien und rund um die Think Tanks gefeilt wird. Dabei


sah er, dass die Nationalstaaten aussterben müssen. Ferner hat der universale Europäer


mit scharfem österreichischen Blick unmissverständlich erkannt, dass die Zukunft des


Kontinents vom Resultat der Auseinandersetzung zwischen Eindimensionalität und


Universalität abhängt, die sich in den Köpfen der Europäer abspielt: in unseren Köpfen.


Gewinnt der eindimensionale, engstirnigere Europäer die Oberhand, so ist das Spiel bald


nicht zu Gunsten der an sich ja quasi-allgemein erwünschten Wahrnehmung von


unseren schönen europäischen Prinzipien und Idealen, sondern vielmehr zu Gunsten des


absoluten Primats skrupelloser Machtpolitik entschieden. Zwei Europäer-Typen, wohnen,


ach! in diesem Konzept, in dieser Vison: Europa. Welcher wird die Wahrheit des Begriffs


für sich in Anspruch nehmen, und die Wirklichkeit, die hinter dieser Wahrheit steckt?
 

 

 

 

 


“Hier scheint etwas entzwei gegangen zu sein”, sagt der Theologe in Bertolt Brechts Leben


des Galilei, als er das zerbrochene Ptolemäische Modell am Boden sieht. Durch Galileis


Fernrohr schauen will er freilich nicht. Menasse nimmt darauf Bezug und beschwört in


seinem anregenden Eurozine/Akzente-Essay “The one-dimensional European” / “Der


eindimensionale Europäer”, anhand dessen er seine Mitmenschen dazu bewegen will, mit


wachsamem Blick in die Zukunft (und das heißt zuerst einmal natürlich eben vor allem


auch: in die Vergangenheit) zu schauen, die produktive Phantasie des Träumers, die volle


Kreativität, die der Kontinent aufbringen kann. Er beschwört die noblen Ideale des


Humanismus, die in den tieferen Schichten der Meinungsbildung agierende


Überzeugungskraft der Vernunft, er will, dass wir in sein Teleskop schauen und uns dem


Bild hingeben, das er für uns gesehen hat, dem Europa-Bild, das er sich für uns angeeignet


hat und das er uns nun weitergibt, dem Sinnbild einer Welt, in der alle Menschen
 


feuertrunken (um es sinngemäß adäquat mit Schiller zu sagen) und wohlgemerkt schon auf


Erden (um es mit Heine zu sagen) das himmlische Heiligtum transkontinentaler


Gemeinsamkeit betreten, er will uns ganz im Brechtschen Sinne des Wortes von der


Gültigkeit, von der Zweckmäßigkeit, von der Wirklichkeit und der Wahrhaftigkeit des


Kopernikanischen Weltmodells überzeugen. Er will, dass die Neuzeit bei uns Europäern


endlich mal so richtig ankommt, dass sie so richtig anbricht – und zugleich auch die


Moderne, die Postmoderne, die Spätmoderne: das universale Zeitalter einer postnationalen


europäischen Republik. Europa, ein Märchen für alle Jahreszeiten.

 

 

 

 

Aber Europa ist ja gar kein Märchen. Kein Sommermärchen. Kein Wintermärchen. Und


doch, so kann man es zwischen Menasses Zeilen lesen, zwischen Menasses Gedankenzügen


in das mutmaßlich zugrundeliegende Narrativ hineinschmuggeln, sollen wir dieses


Märchen, das es ja eigentlich strenggenommen gar nicht gibt, weiter erzählen, damit was
 


draus wird: damit es anfangen darf, so durch und durch wahrhaftig zu sein, ja überhaupt


zu sein, und zwar nicht nur zur Sommerzeit. Nein, auch im Winter, wenn es schneit,


sozusagen in einem gesegneten Zustand kontinuierlicher vorweihnachtlicher Beglückung,


ohne jedoch unbedingt religiös geprägt zu sein. Wider die Eindimensionalität reitet


Menasse sozusagen Zeile um Zeile – und gibt dabei seinem Pferd die Sporen, und zwar so


intensiv, dass die Leserschaft das irgendwie schmerzhaft mitempfindet. Man könnte sowas


gegebenenfalls ernüchternde Aufklärung nennen.

 

 

 

 

Wie es um die Multidimensionalität des zunehmend im wahrhaftesten Sinne des Wortes


essayistisch  angestrebten europäischen Selbstverständnisses bestellt ist, die wir im


Rahmen der vorliegenden Diskussion zweckmäßig dem Begriff Universalität gleichstellen


wollen, hat dabei Karl-Markus Gauß, ein weiterer markanter Ritter der zeitgenössischen


österreichischen Essayistik, schon vor beinahe zwanzig Jahren in seinem Europäischen
 


Alphabet unter Aufbietung einer sprachlich meisterhaft geformten Anschaulichkeit


gezeigt, die in ihrer bemerkenswerten begrifflichen Prägnanz auch heute noch


ihresgleichen sucht.

 

 

 

 

Das Europäische Alphabet / Europäisches Alphabet / Ein Europäisches Alphabet. Drei


Titel für ein und dasselbe Buch. Eine intuitiv ansprechende linguistische Umsetzung der


Unschärferelation oder etwa des Nichtdeterminismus – um die von Menasse und Brecht in


den Raum gestellte metaphorische Parallele zu den Naturwissenschaften


aufrechtzuerhalten. Das vermeintlich Einmalige verliert sich im Allgemeinen, um


schließlich individuell-vergänglich und gerade dadurch wieder universal-sinnvoll und


beständig zu werden. Diese dreifache Akzentverlagerung der Europäischen Fragestellung,


diese unter Ausstrahlung ungemeiner semantischer Wirksamkeit paradigmatisch


mutierende Artikulierung einer halb real und halb virtuell umrissenen europäischen
 


Selbstverständlichkeit gibt den Standpunkt eines Fragen stellenden Europäers wieder, der


sein Erdteil lieb hat, wenn man so sagen darf. Denn Gauß ist ein Österreicher, der dem


Selbsthass wie dem Fremdenhass kategorisch entsagt. Er ist ein skeptischer Europäer mit


nüchternem Blick und scharfer Zunge, dem es darum geht, den zahlreichen Klischees der


Stunde auf den Zahn zu fühlen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn mit dieser Union


auf sich habe, die wir gemeinsam anstreben. Er ist ein universaler Europäer par excellance


– was in diesem Falle wohl heißen will: ein universaler Salzburger.

 

 

 

 

 

 

 


“Ich bin das Kind von Flüchtlingen!“, sagt dieser universale Salzburger entschlossen, wenn


man ihn fragt. Und wenn man ihn mal nicht fragt, sagt er‘s auch. Inbrünstig, ja fast


auflehnend. Sehr schön formuliert. Sehr kräftig und überzeugend. Die
 


Standortbestimmung des gebürtigen Österreichers (genauer gesagt, des ersten gebürtigen


Österreichers in seiner Familie) bietet eine gewinnende Widerspiegelung der Politik der


Verbundenheit, der Poetik der Verwobenheit, der Essayistik der Verwegenheit, auf die sich


der namhafte Schriftsteller Karl-Markus Gauß, ein mit gutem Grund vielfach


preisgekrönter österreichischer Fährtenleser und Kundschafter donauschwäbischen


Schlages, so gut versteht.

 

 

 

 

Manchmal träumt Gauß von einem «kanadischen Gegenleben». In den Fünfzigern spielten


seine Eltern nämlich mit dem Gedanken, nach Kanada auszuwandern. «Wer bin ich – als


Kanadier?», fragt sich der Autor demzufolge im Sinne einer alternativen Existenz in


seinem jüngsten Buch, «Der Alltag der Welt» (Zsolnay, Wien 2015). Und dass der neue


kanadische Premierminister Justin Trudeau im breiteren Zusammenhang der


gegenwärtigen Flüchtlingskrise nicht nur prompt versprach, mehr Flüchtlinge aus Syrien
 


aufzunehmen, sondern im November 2015 höchstpersönlich die ersten, in einem extra dazu


bestellten Flugzeug der kanadischen Streitkräfte angekommenen Flüchtlinge auf dem


Pearson International Airport in Toronto empfing, ist nicht nur ein schöner Traum,


sondern eben auch eine schöne Wirklichkeit.

 

 

 

 

Aber seinen osteuropäischen Freunden ist Karl-Markus Gauß wegen deren Haltung


zur Flüchtlingsfrage seit geraumer Zeit böse. Träume sind allerdings, realistisch


ausgedrückt, Schäume. Und die Wirklichkeit macht halt keinen Traum aus, sondern ein


weites Feld. „Es ist eine düstere Erfahrung, fast schon eine persönliche Niederlage, dass


ausgerechnet die Länder Osteuropas, als deren literarischer Herold ich mich


jahrzehntelang aufzuspielen pflegte, sich nun so feindselig in der Flüchtlingskrise zeigen“,


klagt Gauß im November 2015 im Rahmen seiner Rede zur Verleihung des „Writing für


CEE“- Preises an Martin Leidenfrost. „Es ist eine Schande für diese Länder. Das Versagen
 


ist unentschuldbar – aber es ist nicht unbegreiflich.“ Und inzwischen hat sich ja noch


manches ereignet.

 

 

 

 

Fast tut es einem da schon eher um Gauß‘ Enttäuschung leid als um das Leid der


Menschen, die nicht nach Osteuropa dürfen –  und freilich auch nicht nach Osteuropa


wollen, sondern vielmehr nach Deutschland („We are going to Germany! Germany is


taking as all!“) oder meinetwegen nach Österreich. Fast will einer der aktuellen politischen


Flüchtlingsfrage in einem Anflug von Optimismus unverzüglich eine neue Wirklichkeit,


eine bessere Wirklichkeit andichten – und Osteuropa in einen für Flüchtlinge


begehrenswerteren Teil des Kontinents umwandeln und feuertrunken bekunden, dass wir


die ganze Sache in Griff haben. Und Bundeskanzlerin Merkel kann


dann Präsident Johannis direkt anrufen, denn sie sind ja beide des Deutschen mächtig


(und die Nummer haben wir auch noch). Das wäre dann in der Tat eine großartige, an den
 


Menschen vom Mittelpunkt der Ereignisse wie an jenen vom Tellerrand orientierte


Traumpolitik unserer düsteren Wirklichkeit. Nur, auf Weihnachten folgt Silvester. Und


auch dann muss man durchs Teleskop schauen, soweit man an die Tatsachen ran will und


nicht nur an Märchen, Träume, Ideale, und Doktrinen.

 

 

 

 

„Die Wirklichkeit ist, wie die Wahrheit, kein Märchen, und Wahrheit ist niemals ein


Märchen gewesen“, meinte Thomas Bernhard vor ein paar Jahrzehnten in Bremen.


Europa ist kein Märchen, da hat Bernhard recht, aber die Bremer Stadtmusikanten


machen immer noch gute Musik. Es kömmt drauf an, sie zu interpretieren – oder gar zu


verändern.
 


Immerhin: Gauß bekennt sich in vorzüglicher Sprachgewalt und in konsequenter


Wahrnehmung humanistischer Werte zu seinen Wurzeln, zu seinen Menschen (und in


diesem Begriff haben viele Leute Platz – Leute von nah, von fern, um es mit dem Dichter


zu sagen), ferner zu seinen Büchern, den gelesenen, den geschriebenen, oder eben zu seiner


Donau, ja, immer wieder bekennt er sich dazu, sei es nun bei Preisverleihungen, im


Privatgespräch oder im Interview. Gauß weiß, woraus Träume zusammengebastelt


werden. Er weiß auch um die Realität. Und um die Wirklichkeit. Auf die Grenzen zwischen


Begriffen kennt er sich erwiesenerweise bestens aus, er, der in seinem reichhaltigen


essayistischen Werk voller Entgegenkommen, ja mit liebevoller Hingabe die Grenzen


zwischen den Menschen aufhebt, um mehr Sinn in das Traumbild der Menschheit


hereinzulassen, das er der Welt vermittelt.
 


Es gibt natürlich in Sachen Machbarkeit tatsächliche Grenzen, und es ist äußerst wichtig,


ein taugliches  Konzept bzw. wennschon auch nur halbwegs in sich gereimte Strategien


vorweisen zu können, bevor man die zwiespältige Phrase  „Schaffn’ma’scho‘“ aufs


Geratewohl in die Öffentlichkeit hinschmeißt, ohne zu merkeln, dass wir das ja


möglicherweise eben nicht schaffen, besonders wenn das ganze Drum und Dran


ungenügend reflektiert wurde. Ja, wo die Machbarkeit ansetzt, wird nämlich mancher


Traum in engere Betten geleitet, als es sich manch einer gewünscht hätte, in dessen Brust


ein überdurchschnittliches Herz das heiße Blut einer großzügig einschließenden Gesinnung


durch die inwendige Landschaft unseres neuen, alten europäischen Narrativs hindurch


pumpt, dessen erstes Axiom festlegt: Salzburg ist die Mitte des Kontinents, Salzburg ist das


Zentrum eines vielfach reflektierten, aus geschichtlichem Wissen und essayistischem


Schwung (und auch aus Träumen, ja, das auch) doppelt destillierten Reiches


grenzüberschreitender sozialpolitischer Zweckmäßigkeit, der Inbegriff eines kühnen,


sinnvollen Projekts, das wir bis auf Weiteres  mal kurz Europa nennen wollen. In diesem


imaginären, an der guten alten Salzach angesiedelten Zentrum einer wundersamen Union
 


diesseits von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit wird dem Kontinent mit


ausgesprochener kulturwissenschaftlicher Regsamkeit ins Maul geschaut, und zwar von


einem, der sich auf seine Snacks versteht – und auf seine Eurosnacks erst recht.

 

 

 

 

Ein Gauß unterscheidet dabei naturgemäß (mit hochgradiger donauschwäbischer


Prägnanz) zwischen Realität und Wirklichkeit. Und seine Leserschaft weiß um die


Irrealität des Faktischen, sie weiß um die Gedankenwelt eines Essayisten von Gnaden, der


seinen Knigge – oder eben seinen Kraus – gelesen hat und die historischen Tatsachen bzw.


den politischen und sonstigen Alltag der Welt wie seine eigene Hosentasche kennt, in der


übrigens bei aller Zukunfstorientiertheit nicht nur die paar gehorteten Euro, sondern eben


auch noch ein paar Schillinge, ein paar Groschen, ein paar Taler (bzw. Gulden und


Kreuzer oder eben Kronen und Heller) in einem vorbildlichen Akt intrinsischer


Geschichtsschreibung vollkommen friedfertig nebeneinander hausen – und auch mal gerne
 


mit klirren, wenn das iPhone der Gegenwart, wenn das iPhone der Zukunft in


zeitgenössisch angemessenen Tönen klingelt, wo dein sanfter Flügel weilt. Zitat zu Ende.

 

 

 

 

A place named Europe: „Keiner weiß zu sagen, was das Geheimnis dieses Ortes ist, der


sich überall findet und in dem wir uns in einer eigentümlichen Ortlosigkeit sogleich


abhandenkommen. Nichts, was wir dort tun, haftet in unserem Gedächtnis, nichts, was wir


dort taten, haftet im Gedächtnis dieses Orts. Vielleicht ist es das, was wir suchen, daß wir


sicher sind, dort nichts zu finden außer dem Imbiß, den wir rasch und beschämt verzehren,


denn vielleicht hat der Eurosnack, kein anderes Geheimnis als dieses, daß er ein Unort ist,


beliebig reproduzierbar, der kein Verweilen zuläßt und uns keine Geschichte gewährt.“


(Karl-Markus Gauß, Das Europäische Alphabet, 1997)
 

 

 

 

 


Wollen wir aus dem Unort einen Ort machen? Aus dem eindimensionalen Europäer einen


universalen Europäer? Wollen wir gut sein? Edel und gerecht? Wollen wir die


Verhältnisse ändern? Manchmal beschert einem dieser Kontinent, den wir Europa heißen,


leider Enttäuschungen. Das sei hier in Kauf genommen. Das ist harte Wirklichkeit (eine


Wirklichkeit, der wir immerhin mit ein bisschen Glück, ein bisschen Geschick, ein bisschen


Sinnen und ein bisschen Sinnieren unter Umständen eine neue Wendung, eine bessere


Wendung geben können). Aber dass Karl-Markus Gauß mit Nachdruck sagt: “Ich bin das


Kind von Flüchtlingen!“  Das zählt. Das gilt. Das nehmen wir uns zu Herzen. Hier liegt


beides vor: Realität und Wirklichkeit. Und ein tieferes Bekenntnis zum Menschen, zu


seiner Not, zu seinem innerlichen Reichtum und zu seinen mal unwirsch-vorzeitig


beendeten, mal prächtig verwirklichten Träumen. Diese Standortbestimmung gibt uns


Hoffnung und Beständigkeit – und Mut und Kraft zu jeder Zeit. Aber das ist jetzt nicht
 


nur der Weihnachtsmann. Das sind allgemein-gültige humanistische Werte. In Karl-


Markus Gauß’ stilvollem Schreiben kommen sie zum Ausdruck.

 

 

 

 

Und wenn Robert Menasse sich in Eurozine, die im Rahmen dieser unserer kurzen


Diskussion zum Thema  EU-Traumpolitik und österreichische Gesellschaftskritik


probeweise auch als eine Art Eurozone, als ein zum universalen Ort gewordener Unort


zeitgenössischer transkontinentaler Ideengeschichten herhalten darf, entschlossen gegen


die Eindimensionalität des europäischen Projekts, der europäischen Gesinnung stellt, dann


wollen wir es ihm nicht länger verwehren, durch sein Teleskop zu schauen 
Das Erste, was wir sehen, ist ein Buchstabenkonklomerat, ein Europäisches Alphabet, ein


dreidimensionales. Der es ersinnte, hat Die Fackel sozusagen bis ins Mark gelesen. Und


Karl Kraus fragt sich einmal ebenda, in der Fackel, “ob die von einem Redner dargelegte


Weltanschauung wirklich das Alphabet eines Sinnes ist“.

Passt. Gute Formulierung. Können wir ruhig als Schluss nehmen. Ein bisschen


metaphorisch geraten, doch immerhin gerade in ihrer irgendwie zeitlosen Anschaulichkeit


hochaktuell. Dieser alten Frage wollen wir uns im Zusammenhang der gegenwärtigen


Debatte über die Geschicke der EU verstärkt aus neuer Perspektive annehmen.