Claudia C. Schmidt

 

 

 

Keine Dystopie (Eine Bagatelle)

 

«Jetzt, da ich weiß, dass dieses Buch eine Dystopie ist, kann ich es nicht zu Ende lesen. Die Klassifizierung als Dystopie ist eine derartige Vorwegnahme, dass mir nun die Motivation zum Weiterlesen vollständig abhanden gekommen ist», sagt der Mann, während das geschlossene Buch in seinem Schoß liegt.

Die Frau schaut aus ihrem randvoll mit Sämereien gefüllten Schuhkarton hoch: «Welches Buch hast du zuletzt zu Ende gelesen?»

«Bilder deiner großen Liebe von Herrndorf», sagt er nach kurzer Überlegung.

«Ist es nicht schon bestimmt zwei Jahre her, dass du Herrndorf gelesen hast?»

«Mag sein. Aber Dystopien!» Er verzieht das Gesicht. «Um depressiv zu werden, muss ich nicht noch Dystopien lesen. Welchen Nutzen sollte das haben?»

«Da kannst du auch gleich fragen, warum Menschen Bücher lesen oder sich für Kunst interessieren oder Jazz hören.» Sie setzt ihre Brille auf und studiert das Tütchen mit den Koriandersamen.

«Ich will das nicht lesen. Seite für Seite diese grauenvolle Tristesse, dass es einem

Beklemmungen, regelrecht körperliche Schmerzen bereitet. Von Romanen wie Gott fährt Fahrrad oder Homo faber bekommt man fürchterliche Magenschmerzen, sobald man auch nur zwei Seiten liest.»

«Liegt das nicht vielmehr daran, dass die Protagonisten Magengeschwüre haben?»

Auf ihrem Gesicht macht sich eine kleine Feindseligkeit breit. «Du bist ein Hypochonder. Die meisten deiner Beurteilungen von Büchern sind Ausgüsse deiner Hypochondrie. Und leg das jetzt nicht wieder als Einfühlung in die Helden der Geschichten aus.»

«Genau so ist es aber: Empathie ist der Schlüssel -»

«- zur Intention des Textes.» Sie rollt mit den Augen.

«Eben. Ich habe in einer Wartezimmer-Zeitschrift gelesen, dass Säureblocker alles noch schlimmer machen. Nebenwirkung Nummer eins: Magenbeschwerden. Ein ironischer Kniff der Pharmaindustrie, dieses Pantoprazol. Aber zu den läppischen Magenbeschwerden gesellen sich Osteoporose, Knochenbrüche, Demenz, Herzinfarkte, Nierenversagen. Wusstest du, dass Magen- und Rückenschmerzen zu den häufigsten Schmerzkombinationen zählen? Kurt Cobain soll sich infolge jahrelanger Magen- und Rückenschmerzen suizidiert haben. Haben wir noch Heilerdekapseln?»

«Du weißt sicher auch, dass die Wirksamkeit von Heilerde wissenschaftlich nicht erwiesen ist und die darin enthaltenen Aluminiumverbindungen gesundheitliche Risiken bergen. Du kaufst dir neuerdings nur noch Deodorants, auf denen das Nichtvorhandensein von Aluminiumsalzen explizit deklariert ist. Zum Ausgleich bestäubst du deine Magenschleimhäute nun mit pulverisierten Aluminiumverbindungen.»

«Das hast du jetzt schön gesagt. Denkst du nicht auch, dass unsere Wohnung zu dunkel ist? Das ist die Crux von Erdgeschosswohnungen in überbesiedelten Städten. Der Ahornbaum vor unserem Schlafzimmerfenster beschattet das Zimmer. Da fällt mir ein: Ich bin neulich auf eine skurrile Stellenausschreibung gestoßen, die Aufgabe lautete: ‹Heimliches Beobachten von nachrichtendienstlich relevanten Personen, Objekten und Ereignissen.› Kann man das so unverblümt sagen? Kann man nicht sagen: Verdeckte Observation. Oder nur: Observation. Heimliches Beobachten. Der Landesverfassungsschutz sucht öffentlich Spione. Ist es da nicht euphemistischer, man suchte Observanten oder schlicht Mitarbeiter im Außendienst?»

«Außendienst will keiner machen. Heimliches Beobachten ist da schon der

Euphemismus.» Sie schaut durch das Fenster zwischen Loggia und Küche hinüber ins Schlafzimmer. «Als wir in diese Wohnung gezogen sind, hat dir der Baum vor dem Fenster gefallen. Du hast gesagt, das sei eine der Brecht‘schen ‹Vergnügungen›: der erste Blick aus dem Fenster am Morgen - und kamst dir wahnsinnig intellektuell vor. Und eines Tages wachst du auf und beschließt, dass dir der Baum ein Dorn im Auge ist. Pass bloß auf, dass du nicht paranoid wirst. Die genetische Disposition lässt sich ja nicht leugnen.»

«Erinnerst du dich an Brechts Wohnung? Die hellen Räume, die dunklen Möbel aus ‹früherer kapitalistischer Umgebung›?» Er legt das Buch in seinem Schoß auf den runden Mosaiktisch, schlägt das linke über das rechte Bein und verschränkt die Arme vor seinem schmalen Oberkörper.

«‹Bis man eine spätere sozialistische haben wird›. Gott, wie oft musste ich mir das schon anhören? Und dann sagst du das immer so, als seist du Brecht-kundig, ein Brecht-Experte, ein Brechtianer. Dabei hast du das auf irgendeiner Postkarte gelesen. Hast du überhaupt irgendein Stück von Brecht wirklich gelesen?»

«Bei allen Fluchten, die Brecht und Weigel begehen mussten, hat die Weigel bei Ankunft zu allererst ein Arbeitszimmer für Brecht eingerichtet.»

«Herrgott, Du bist nicht Brecht, ich bin nicht Weigel, das hier ist keine Wohnung auf der Berliner Chausseestraße, unsere Möbel wurden in allzu kapitalistischer Umgebung unter widrigen Bedingungen produziert und unsere Wohnung ist zu klein und dunkel für Möbel aus vergangenen Jahrhunderten. Davon abgesehen bist du nicht auf der Flucht.»

«Jetzt sagst du es auch: Unsere Wohnung ist zu dunkel. Meinen Vorschlag, den Schreibtisch ans Fenster zu stellen, hast du abgelehnt. Gelesen habe ich Das Leben des Galilei und Baal und Mutter Courage habe ich angelesen.»

«Diese Möbelrückerei ist ein Symptom deiner Sucht nach Abwechslung. Du bist unstet.»

«Das habe ich mit Karlotta gemein. Ist dir aufgefallen, dass sie in regelmäßigen Abständen die Bettstatt wechselt?»

«‹Die Bettstatt.›  Das ist auch so ein Wort, mit dem du dich abzuheben versuchst. Und jeden Morgen gehst du aus der ‹Bettstatt› in die ‹Nasszelle›.»

«Nach vier Jahren findet Karlotta immer noch neue Schlafplätze. Zuletzt hat sie sich im Badeingang vor dem Waschbecken ein Nest aus Handtüchern gebaut. Davor habe ich sie im Bettkasten angetroffen und nachdem ich den Hochflorteppich vor die Schlafcouch gelegt habe, hat sie sich dort eingerichtet. Geschlafen hat sie auch schon auf dem Drucker, auf dem Kleiderschrank, auf den Sesseln in der Loggia, auf fast allen Fensterbänken, auf allen Küchenstühlen, auf dem Schreibtisch, sogar in der Badewanne und im Dickicht der Hainbuchenhecke im Hof. Für das Gartenhaus in Loschwitz habe ich einen Besichtigungstermin erfragt. Das Haus ist inzwischen vergeben. Es wäre perfekt gewesen.»

«Du hast nicht einmal ein Foto von innen gesehen. Du kennst nur die Außenansicht, mit den Blumen davor. Und weil es Gartenhaus heißt, hat es dich an Goethes Gartenhaus erinnert und dir hat die Vorstellung gefallen, ebenfalls in einem Gartenhaus zu wohnen, noch dazu in Loschwitz, wie zu Goethes Zeiten.»

«Die Lage war perfekt; das kleine Haus unter Bäumen am See.»

«Jetzt geht das wieder los. Der See ist ein Fluss. Und eines Tages hättest du auch hier - wie du immer sagst - Beklemmungen bekommen. Die Bäume hätten dich an jene Bäume auf dem Hof deines Vaters erinnert. Du hättest dich daran erinnert, dass du als Kind beim Blick in die Bäume nicht einschlafen konntest, weil du Angst hattest, es könnte ein Mann in den Wipfeln sitzen und dich beobachten.»

«Was nicht abwegig war! Unser Nachbar Herr Perleberg hat genau das getan. Er hat einen hohen teerschwarzen Zaun gebaut, nur um dann in die Wipfel seiner Bäume zu steigen und meinen Vater, meine Mutter und mich zu observieren, aber nicht heimlich; - er hat uns aus den Baumkronen heraus als Arschlöcher beschimpft und uns mit dem Gartenschlauch nass gespritzt. Das ist doch völlig verrückt, vollkommen verrückt. Und erst als Malve mit Felix schwanger war und apathisch auf der Koppel stand, hat er meiner Mutter Mitteilung gemacht -»

«‹Mitteilung gemacht›»

«Von diesem Tag an stand auf der Koppel meines Vaters ein drittes kleines Shetlandpony und Herr Perleberg ist nicht mehr in die Wipfel gestiegen. Eines Tages hat er mit seinem Enkelsohn am Zaun gestanden und mir ein Spiel geschenkt, eines mit Affen und kleinen Plastikbananen.»

«Rührend.» Sie macht eine Notiz in ihrem Gartenkalender. «Und vor der Nähe des Wassers hättest du dich gefürchtet. Du hättest gesagt, dass dir das Wasser Angst macht, weil es strömt und Dinge davon reißt, weil es kalt und dunkel ist und man darin ertrinken kann. Und dann hättest du wieder Möbel gerückt und deinen Schreibtisch ans Fenster gestellt und festgestellt, dass die Wohnung verdunkelt, weil die Bäume mit jedem Sommer ein bisschen mehr Licht nehmen.»

«Was zweifellos auch auf diesen Ahornbaum zutrifft. Er wächst schon fast ins Fenster rein.»

«Der Baum kommt eben in die Jahre, er wird alt. Alt wird alles, was die Eigenschaft hat, jung zu sein. Du solltest dich damit abfinden und deine Zeit nicht darauf verwenden, Möbel zu rücken und den Ahornbaum vor dem Fenster für deine Wankelmütigkeit verantwortlich zu machen.»

«Das Leben des Herrn Kessler ist vom Ende her besehen doch eigentlich nichts anderes als eine biografisch gewendete Dystopie, nicht? Ich ertrage dieses Genre nicht. Es bereitet mir -»

«- Beklemmungen. Eine Dystopie spielt sich in der Zukunft ab. Kesslers Leben ist Geschichte.»

«Wie alt wird er geworden sein? Neunundfünfzig Jahre vielleicht? Dann war er eben vor sechzig Jahren eine Dystopie und jetzt hat sie sich vollständig erfüllt.»

«Dann müsste jedes Menschenleben mit wie auch immer gearteten negativen Ausgang dystopisch sein. Hältst du das für eine überzeugende Hypothese? Ich sage dir was: Kessler war keine Dystopie, Kessler war ein Säufer.»

«Ich habe vorletzte Nacht geträumt, dass ich Kessler umgebracht habe. Was schreibst du da eigentlich? Kessler war italienischer Mafioso. Seine Leute sind mir auf die Schliche gekommen. Zweimal fand ich im Briefkasten zugeschnürte, mit schalem Blut gefüllte Frühstückstüten. ‹Schal› ist vielleicht nicht das richtige Wort. Das Blut machte einen abgestandenen Eindruck, es war dunkel, alt, es machte einen gärigen Eindruck auf mich und es erinnerte mich an Kirschnektar. Frau Kautszsch aus dem dritten Stock ist auf mich angesetzt worden. Als ich eines Nachmittags mit dem Diamantrad nach Hause kam, wurde mir vor der Hauseingangstür von einem Mann und einer Frau aufgelauert. Ich rannte mit dem Rad weg, in einen Wald. In einem Krimifilm wäre das wieder so eine Stelle, die dich wütend machen würde, weil dem Drehbuchautor keine bessere Idee einfällt, als die Figuren mit groteskem Leichtsinn und maßloser Dummheit auszustatten, damit die Story weitergeht. Ich bin also in den Wald gerannt, eine Böschung hinuntergerannt, immer noch mit dem Rad unter dem Arm. Meine Verfolger haben mich natürlich eingeholt, sie haben meine Handgelenke gefesselt. Was dann passierte, erinnere ich nicht mehr. Ich bin aufgewacht, glaube ich. Die Erinnerungen sind diffus.»

«Kessler hat sich nicht behandeln lassen. Du hättest ihm nicht helfen können. Er war sofort tot. Du kannst nicht aus der Wohnung fliehen, weil Herr Kessler gestorben ist. Menschen sterben. Du bekommst es nur nicht mit. Wohin auch immer wir ziehen: Dort haben Menschen gewohnt, die gestorben sind; dort wohnen Menschen, die sterben werden. In dieser Stadt wird jeden Tag irgendwo gestorben.»

«Es ist so plastisch, weißt du?» Er sitzt nun sehr aufrecht in dem Armlehnensessel, die Hände in den Schoß gelegt, die Augen auf den Hof gerichtet. «Der Krach, mit dem er aus der Welt gefallen ist, evoziert so deutliche Bilder, eine ganze Szene. Am Abend des 12. Mai, zwischen 20 und 22 Uhr, hat Stefan Kessler, der über unserem Schlafzimmer denselben Ahornbaum zur Aussicht hatte, auf dem Weg ins Bad den letzten Ankerplatz in jenem vergilbtem Mobiliar gesucht, das mit seinem Bewohner gleichermaßen vergilbte, bis es dem irreversibel Leber- und Lungengeschädigtem selbst keine Stütze mehr geben konnte -» Er hält kurz inne und fährt mit nach vorn gebeugtem Oberkörper und in die Luft deutenden Zeigefinger theatral fort: «… und unter der kargen Hand des Herrn Kesslers laut und bühnengerecht nachgab, da dieser nun dröhnend aus der Welt brach, als seine von Teer und Ethanol verglühten Innereien spektakulär versagten.»

Die Frau lehnt sich in ihren Sessel zurück und wirft den Kopf in den Nacken: «Um Himmels Willen. Die allabendliche Bürgerbühne wurde soeben betreten. An dem Satz hast du sicher lange gefeilt und eine Situation gesucht, in der du ihn endlich herunterbeten kannst.»

Er lehnt sich nun auch zurück: «Ich bin weißgott nicht abergläubisch. Ich bin weißgott nicht mystisch oder esoterisch. Das weißt du selbst. Aber dass Karlotta am Tag nach Kesslers Tod in seinem Keller ein Geschäft festeren Aggregatzustands hinterlassen hat, ist doch ein untrügliches Zeichen des subversiven Charakters dieser Katze, findest du nicht? Sie ist nicht nur subversiv, sondern auch ironisch. Weißt du noch, dass du mit ihr dieses Hasch-mich-Spiel gespielt hast? Sie hat immer mit dem Schwanz gewedelt und du hast ihn manchmal zu fassen bekommen. Dann hat sie dich immer so konsterniert angesehen und wieder aus dem Fenster geschaut, als hätte sie das Spiel aus den Augen verloren oder kein Interesse mehr daran. Dann fing sie wieder mit der Wedelei an und das gleiche ging von vorn los. Sie schaute scheinbar aus dem Fenster und in Wahrheit hat sie nur darauf gewartet, dass du sie wieder hascht, damit sie dich dann wieder konsterniert ansehen kann. Verhaltensbiologen haben herausgefunden, dass Tiere Scham empfinden können. Wenn ein Vogel gegen eine Scheibe fliegt und sich beobachtet wähnt, kann dies in ihm ein Schamgefühl hervorrufen.»

«Das nennt man Anthropomorphismus, die Vermenschlichung der Tiere. Karlotta mag es kalt, feucht und modrig. Das ist alles. Keine Subversion, keine Ironie, kein Humor, keine Scham. Du hast ganz und gar nichts mit Karlotta gemein. Karlotta fühlt sich hier nämlich sehr wohl. Ob Kessler tot oder lebendig ist, ist ihr herzlich egal.»

«Weil sie es nicht besser weiß. Sie weiß ja nicht einmal um ihre eigene Sterblichkeit.»

«Umso besser.»

«Viereinhalb Jahre wohnen wir nun in dieser Dunkelkammer. Am 21. Mai, dem zehnten Tag nach finalem abendlichem Getöse, wurde Stefan Kessler in einen schwarzen Transporter gehievt. Weißt du, warum der Wagen im Torbogen geparkt hat? Weil er die Sichtachse zum Innenhof veröden musste, damit er still und heimlich aus dem Biotop der Lebendigen evakuiert werden konnte und niemanden erschreckte, der nicht aus dem Fenster schaute oder auf dem kurzen Weg von der hofseitig gelegenen Hauseingangstür bis zum Transporter des hölzernen Sarges ansichtig werden musste. Weil vermieden werden musste, dass jemand aus der samstagabendlichen Gedankenversunkenheit in Angst und Schrecken versetzt wird. Diese ganze barocke vanitas-Motivik ist ja ganz anheimelnd, aber doch nur in ihrer lyrischen Geschlossenheit. Sie darf natürlich nicht in die Wirklichkeit einbrechen.»

«Vor zweihundert Jahren wurden Verstorbene eine Zeitlang häuslich aufgebahrt, damit die Hinterbliebenen den Tod ihrer Geliebten verstehen und realisieren können.»

«Gott bewahre. Wie sollen wir in unserer kleinen Arbeiterwohnung noch einen Toten aufbahren? Wo sollte der denn liegen? Auf dem Küchentisch wäre noch ein wenig Platz.»

«Dir würde das guttun.»

«Du hast Glück, du bist von der Natur begünstigt. Dein schönes aufgeräumtes straffes Gesicht wird in vierzig Jahren nicht wesentlich anders aussehen als jetzt. Erinnerst du dich an dieses Vergänglichkeitsgedicht, das dir so gut gefallen hat? Wie ging das noch?»

«Du meinst Hoffmanswaldau.»

«Vergänglichkeit der Schönheit! - Moment...» Er steht auf, geht an das Bücherregal im Schlafzimmer und sucht nach einem Lyrikband. Sie schaut ihm ein wenig mitleidig hinterher. Nach einer kurzen Weile kommt er mit einem kleinen gelben Heft zurück: «Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen. Der liebliche Corall der Lippen wird verbleichen; Der Schultern warmer Schnee wird werden kalter Sand. [...] Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen. Dein Hertze kan allein zu aller Zeit bestehen Dieweil es die Natur aus Diamant gemacht.»

«Das ist schön.»

«Mich macht es trübsinnig.»

«Du solltest nichts aufschreiben, wenn du sentimental bist. Sentimentalität ist hinderlich in deinem Fall.»

«Wie meinst du das?»

«Du bist vielleicht ein Brecht-Experte.»

«Ich habe nie behauptet, ein Brecht-Experte zu sein.»

«Nein, behauptet hast du das nicht, aber du gibst dir den Anschein, als seist du einer.»

«So ein Blödsinn. Überhaupt ist niemand ein Brecht-Experte.»

«Mitleid mit den Bühnenhelden ist fehl am Platz. Der Zuschauer darf kein Mitleid mit den Figuren empfinden. Das gilt genauso für die Literatur. Der Leser darf kein Mitleid mit den Figuren empfinden. Einzelschicksale müssen nach Brechts Theorie hinter den großen gesellschaftlichen Themen zurücktreten. Der Leser soll kritisch sein und denken und sich nicht boulevardesk unterhalten fühlen.»

«Was hat das mit mir zu tun? Als könnte man den Lesern oder Zuschauern eine Haltung aufoktroyieren; als könnte man dem Leser oder Zuschauer sagen: Du sollst nicht mitleiden. Sollte man das nicht sicherheitshalber ins Vorwort schreiben: ‹Verehrter Leser, Sie haben sich in folgender Weise dem Text gegenüber zu verhalten: Sie dürfen nicht mit den Figuren mitleiden. Sie dürfen keine Sympathien oder Apathien hegen. Sie dürfen den Figuren keine Relevanz zu sprechen. Sie müssen sich stets bemühen, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Sie müssen Stellung beziehen. Sie dürfen sich nicht einfühlen. Sie dürfen die niederen Gefühlsregungen der lausigen Figuren nicht imitieren. Kein Gefühl! Mehr Ratio! Entscheiden Sie sich! Analysieren Sie! Studieren Sie! Distanzieren Sie sich!›»

«Ganz genau.»

«So funktioniert das aber nicht.»

«Natürlich nicht, aber es ist ein hehres Ziel. Wobei es, glaube ich, so direkt noch niemand versucht hat. Ich meine, mit einem vorangestellten Verhaltenskodex. Womöglich hat es auch schon jemand versucht. Mir ist aber zumindest kein Buch bekannt, das dem Leser eine Anleitung zum Lesen voranstellt.» Sie schaut ihn fragend an.

«Das gibt es gewiss. Lesersansprachen sind nichts Ungewöhnliches.»

«Ich meine ja nur: Schreib bloß nichts Sentimentales auf, hörst du? Keine Duseleien.»

«Das kann ich schon tun. Ich muss nur auf herzlose, distanzierte Leser stoßen wie du einer bist. Kannst du mal in deinem Gartendiarium nachsehen, wann die Erdbeeren auf Gut Pesterwitz im letzten Jahr reif waren? Ich stelle mir schon seit den ersten warmen Tagen vor, wie schön es wäre, den großen Glasballon mit Erdbeerlimes anzufüllen. Die Erdbeeren waschen, schneiden, den maßlosen Zucker darüber schütten wie Wasser, ein Kilo, zwei Kilo, kochen, pürieren! Den klaren, hochprozentigen Russian Standard unterrühren und zum Schluss in diesen riesigen Ballon füllen bis zum Rand.»

Sie schaut ihn ironisch an und blättert in ihrem großen Gartenbuch mit braunem Einband über einige eingeklebte Bilder und Notizen hinweg, bis sie fündig wird: «Wir waren im letzten Jahr am 26. Juni auf der Pflücke. Ein Kilo kostete 2,80 Euro. Wir haben zwei halbvolle Zehn-Liter-Eimer mitgenommen. Am gleichen Tag hatten wir den ersten Spitzkohl geerntet.»

«Dann wird es Zeit. Ein ganzes volles Jahr soll das schon her sein? Tempus fugit.» Er schaut wieder aus dem Fenster auf den Hof hinaus.

«Oh, bitte nicht. Kannst du nicht schon ein paar Zwiebeln vom Dachboden holen? Wir haben hier unten keine mehr.»

Der Himmel ist dunkel. Aus dem Reneklodenbaum vor der Loggia dringt ein leises Rauschen. «Wann wohl die ersten Pflaumen reif werden? Ich mag diese gewittrige Stimmung ja sehr.»

«Ich weiß.»

«Der frische Wind, das Licht, das Grummeln hinter den Wolken, die hochfliegenden Vögel, das bevorstehende Gewitter, das Blätterrauschen. Ist das nicht sehr sinnlich?»

«Und welche Vögel sind das, die da hochfliegen? Du musst sie benennen, wenn du eine gründliche Darstellung machen willst. Außerdem mag ich es nicht, wenn du das Wort ‹sinnlich› gebrauchst. Ich finde das irgendwie … süffisant. Ach, das habe ich dir noch gar nicht gesagt: Dein Vater hat angerufen. Er hat auf den Anrufbeantworter gesprochen.»

«Was hat er gesagt?»

«Dass der Plan, den du ihm in deinem Brief mitgeteilt hast, realisierbar wäre.»

«So hat er das gesagt? Der Plan, den ich in meinem Brief mitgeteilt habe, ist realisierbar?»

«Hör dir die Nachricht einfach nochmal selbst an. Er hat sich ein bisschen umständlich ausgedrückt. Das hast du wohl von ihm. Er machte den Eindruck, als könnte er nicht frei sprechen.»

Er denkt kurz nach, steht auf, um eher zufällig eine CD aus dem Stapel neben dem Küchenradio zu ziehen und sie in den CD-Spieler zu legen; leise zu hören ist ‹Requiem en ré mineur, Op. 48: Pie Jesu› von Gabriel Fauré: «Als ich das letzte Mal mit ihm telefonierte, bat er mich, bei unserem nächsten Besuch ein Diktiergerät mitzubringen. Er könne die Fragen, die ich ihm gestellt habe, nicht schriftlich beantworten. Er habe sich eigens einen Arbeitsplatz zum Schreiben eingerichtet. Aber er verliert sich in Details; andererseits kann er sich an viele Details nicht erinnern. Er sagte, er habe manche Dinge bereits aufgeschrieben, aber er kann sich wegen des Alkohols, der im Laufe der letzten Jahrzehnte in nennenswerten Mengen durch seine Kehle geflossen ist, an vieles nicht mehr erinnern und er würde gern alles vollständig rekonstruieren. Aber so vieles ist verschwunden. Er schreibe alles erst grob auf und dann schreibe er es ins Reine, sagte er. Dann liest er sich alles noch einmal durch und am Ende wirft er alles in den Kachelofen, löscht das Licht aus und geht schlafen.»

«Er geht da zu verkopft ran. Er soll ja gar nicht sein ganzes Leben aufschreiben, ein paar Eckdaten, die man später nicht mehr in Erfahrung bringen kann, weil man zu Lebzeiten nicht die richtigen Fragen gestellt hat. Es geht um die Schlüsselszenen. Ruf ihn an und sag ihm das.»

«Weißt du, es macht mich ein bisschen traurig. Die Sache mit dem Diktiergerät.»

«Was meinst du?»

«Als er das so sagte. Das klingt so, als würde man nicht mehr viel Zeit haben. Wir nehmen noch ein paar letzte Worte auf. Wir führen noch ein paar letzte Gespräche. Wir klären noch ein paar offene Fragen: ‹Vater, im Dorf ging vor einigen Jahrzehnten das Gerücht, du seist ein Spion. Warst du ein Spion? Mutter sagt, sie wüsste nicht, dass du ein Spion gewesen seist, aber wissen könne man so etwas ja nie.› Eigentlich ist es doch unerheblich. Es kommt eigentlich nicht darauf an. Er sagte auch, dass er mir das Tagebuch seiner Mutter vermachen möchte. Ich erinnere mich, dass er einmal daraus vorgelesen hat, aber nur ein paar Sätze. Dann fing er an zu weinen, schlug das Büchlein zu und ging in den Garten. Ich habe meinen Vater nur einmal weinen sehen. Er sagte, dass seine Mutter einmal in die Gelegenheit zu einem Tanz mit Hans Albers kam. Das hat sie in ihrem Tagebuch aufgeschrieben. Er sagt, sie war eine unsentimentale Frau. Aber darauf war sie sehr stolz. Nach dem Tod seines Bruders Onkel Gustav ordnet er nun die letzten Dinge. Ich glaube, dass man das so deuten kann. Man sagt, dass er schlecht aussähe.»

«Wer sagt das? Deine depressive Cousine? Wir besuchen ihn in zwei Wochen. Da können wir uns selbst ein Bild von ihm machen.» Sie legt für einen kurzen Moment ihre Hand auf seine schmalen Finger, mit denen er die Konturen der Tischmosaike nachzieht.

«Als ich ein kleiner Junge war, habe ich oft auf dem Pflanztisch meines Vaters gesessen. In meiner Erinnerung fühlt es sich so an, als hätte ich meine ganze Kindheit lang auf dem Pflanztisch meines Vaters gesessen, von dem aus wir ein paar Unternehmungen gemacht haben, von dem aus ich ein paar Tage in die Schule gegangen bin, aber immer dorthin zurückkehrte. Ich erinnere mich an einen Ausflug zum Garziner See, eine Schlange im Schilf; wenige Szenen: rauchende Schornsteine, kahle Höfe, Hühner, Holperstraßen, in Schrittgeschwindigkeit über die Schlaglöcher, mit Vater in der Hafermühle; ein paar Kinderlieder: Im Frühtau zu Berge, Kinder vom Süderhof, Wie schön daß du geboren bist; der Schulhof, die weinende Mutter, Drachensteigen auf dem Feld an der Strausberger Straße, Schaukeln, Nicole Herrmann, Maria Galley und Jörg Rosenkranz, Freunde aus Kindheitstagen; einen ganzen Sommer lang hat meine Mutter mit meinem Vater kein Wort gewechselt.» Die Frau hat unterdessen ihre Sämereien auf die Fensterbank gestellt und schält nun weißen Spargel; ihr Gesicht ist konzentriert. Die Spargelabfälle fallen Schale für Schale auf das feuchte Geschirrhandtuch, in dem zuvor der Spargel eingewickelt war. Er schaut in den Himmel.

«Siehst du die dunkle Wolkenfront dort hinten?»

«Dort vorn klart es schon wieder auf», sagt sie.

Er schlägt noch einmal das Buch auf und blättert wahllos. «Dystopien… Ich habe neulich im Fernsehen ein Staatsbegräbnis eines ehemaligen Politikers gesehen. Mir fällt der Name nicht ein. Die Trauerfeier wurde mit Air aus Bachs Orchestersuite No. 3 eröffnet. Auf mich wirkte das so, als verzeihe man ihm seinen Tod. Die Noblesse der Streicher, ein feierliches Intermezzo. Geradezu so, als stünde eine postmortale Versöhnung zwischen dem Verstorbenen und der hinterlassenen Welt an. Als versuchte man… -»

«Hannes?»

«Ja?»

«Holst du die Zwiebeln?»