Im „Caberletto"und anderswo
Gespräche mit Holger Benkel
Das Café „Caberletto" in Schönebeck hat bessere
Tage gesehen. Das war, als die Patronenfabrik
von gegenüber noch arbeitete, es vierzig statt
dreißigtausend Einwohner gab und Herr
Caberletto sen. mit seinem Eis einen Hauch von
Luxus in die Stadt brachte. Der heutige Herr
Caberletto spricht kein Italienisch, unterhält sich
aber gern ausgiebig mit seinen Gästen, vor
allem, wenn sie aus dem Westen stammen und
wie ich als pensionierter Lehrer Zeit mitbringen.
Herrn Caberletto verdanke ich eigentlich meine
Bekanntschaft mit Holger Benkel. Der sei ein
Dichter und arbeite hier manchmal.
So ist mein Interesse schon geweckt, als die
„Volksstimme" eine Lesung Holger Benkels mit
dem Titel .Im Chaos war alles noch ganz" in der
Uni Magdeburg ankündigt. Beim Betreten des
winzigen Hörsaals erkenne ich ihn mühelos an
seinem trotz des Vollbarts friedfertigen Gesicht.
Holger Benkel beginnt zu lesen. Zuerst
Aphorismen: „Lebensfreude ist ein Machtinstrument
der herrschenden Technokratie"; „Das
Endziel der Privatisierung ist die Leibeigenschaft"
- . Dann horche ich auf: „Collagen sind die freie
Liebe der Formen"; ,,Perversionen sind die
Lokomotiven der Geschichte"; „Zyniker sind die
Humanisten der Zukunft"; „Erst wer die Sonne
schlafen sieht, erwacht."
Nach „Traumnotaten" endlich die Lesung der
Gedichte. Ich bin hellwach.
Verschüttete Kindheit, Körpererfahrungen und
- Verwundungen, Einsamkeit, Daseinsschwere
- und dann doch immer wieder Befreiungen, im
Gedicht. Das berührt mich, weckt Mitleid und
Bewunderung.
Am meisten zieht mich das Visuelle der
Gedichte in den Bann, Bilder von rätselhafter
Archaik, in die Holger Benkel seine existentiellen
Themen einschmilzt. Urtümlich erfahrene Landschaft
wird Bild des Körpers und der Seele;
mythische Reminiszenzen und Visionen verbinden
sich kontrapunktisch mit der Wahrnehmung
beschädigten oder gefährdeten Lebens. Scheinbar
Heterogenstes - moderne Existenz und
Vorzeit, kindliches Leben und Verwesungsprozesse;
Nahestes und Fernstes - tritt zu einer
prekären, flüchtigen Einheit zusammen. Das gibt
den Gedichten Spannweite. Aber auch eine
innere Gespanntheit, die bis ins Unerträgliche
geht.
Befreiend wirkt dabei, dass es sich um Gebilde
von raffinierter Kunstfertigkeit handelt. Mir fällt ihr
vorwärts ziehender Sprechduktus auf, gerade in
Holger Benkels monotoner Leseweise. (Beim
späteren Nachlesen sieht man, dass es die
satzzeichenlose, janusköpfige Syntax ist, die
einen nicht vor der Schlusszeile zur Ruhe kommen
lässt und dazu zwingt, unterschiedliche, ja
widersprüchliche Sinnmöglichkeiten hinzunehmen.)
„resümee / nirgends bin ich / gleichgültig die
orte / abgebrochen keine statt / nimmt mich
zurück / hinters vergessen" (aus .kindheit und
kadaver").
Das Publikum spendet höflichen Applaus. Der
Verleger bietet Holger Benkels Bücher an. Ich bin
der einzige Käufer. Holger Benkel und ich fahren
gemeinsam nach Schönebeck zurück.
Wir sind anscheinend die einzigen in
Schönebeck, die sich für Bücher interessieren.
Darum kann man unsere nun hin und wieder
stattfindende .Gesprächsrunde zu zweit"-
natürlich im „Caberletto", aber manchmal auch
brieflich - als eine Notgemeinschaft betrachten.
Nach und nach lerne ich seine literarischen
Lehrmeister und den theoretischen Unterbau der
Gedichte kennen. Früh wirken Johannes
Bobrowski und Trakl auf ihn, daneben Novalis
und Pablo Neruda, aber auch Martin Buber und
Walter Benjamin. "all das geschah auf der suche
nach magie, dem inneren und flüssigen kern aller
künste", schreibt er mir.
Im Café: Holger Benkel erzählt von seinem
Werdegang: Kein Abitur, dazu fehlte die
Linientreue. Stattdessen eine Metallarbeiterlehre
und Dienst bei der Volksarmee, dann ein
Pressevolontariat und Mitarbeit in einem Bildungswerk.
Hier wird man auf seine Begabung
aufmerksam, rät zur Bewerbung beim Johannes-
R.-Becher-lnstitut. Er hat Erfolg. Von 1987 bis
1991 lernt er in Leipzig das Handwerk des
literarischen Schreibens.
Leider gehört dazu einmal mehr das
Kennenlernen der Arbeiterwelt. Man hofft noch
immer auf den großen sozialistischen
„Betriebsroman". Holger Benkel kommt in den
Braunkohleabbau. Der Fortschritt des Verfalls der
Produktionsanlagen ist auch hier nicht mehr zu
übersehen. Mit dem ihm zugeteilten Meister („die
hatten keine Freude, daß wir kamen") horcht er
auf pannenverdächtige Rattergeräusche an den
Förderbändern, klopft verschleißanfällige Teile
ab. Den Betriebsroman entwirft er nicht.
Stattdessen entdeckt er die mythische Seite
des Bergbaus. Novalis tritt wieder hervor und
E.T.A Hoffmann. Franz Fühmann wird ihm
wichtig mit Essays zur deutschen Romantik,
mehr noch mit seinem Buch „Vor Feuerschlünden"
über Georg Trakl.
Holger Benkel schreibt Märchen. Haben sie
Ähnlichkeit mit dem, was er mir über Fühmanns
Rumpelstilzchen-Hörspiel schreibt - .wo rumpelstilzchen
als herr einer utopischen berginnenwelt
auftritt, sein selbstmord am ende nicht ganz
gelingt, er verwundet ins bergwerk ( ... )
zurückflieht, die müllerstochter-königin ihn dorthin
verfolgt und schließlich durch ihr polterndes
suchen nach dem verborgenen geist den ganzen
berg zum einsturz bringt? Am Becher-Institut
runzelt man die Stirn.
Ein Sommertag. Wir fahren durch die Börde- und
Vorharzlandschaft nach Wiederstedt, dem
Geburtsort Novalis'. Im dortigen Museum ist eine
Führmann-Ausstellung: „Das Bergwerkprojekt". In
einem Video-Film sehen wir Franz Fühmann
unter Tage im Kupfer- und Kaliabbau des Mansfelder Lands.
Interviewt, erwähnt er Vorkommnisse, die man
heute Mobbing nennt; er spielt sie herunter. Der
Film zeigt Fühmanns wachsende Schwierigkeiten
mit den DDR-Oberen und seine Resignation
angesichts des Scheiterns an dem geplanten
Roman.
Holger Benkel schreibt mir: fühmanns antriebe,
die ihn lebendig unter die erde führten, waren
gewiss vielschichtig, er suchte dort begegnungen
mit der welt des geheimnisvollen, verborgenen.
abgründigen, zugleich aber unentfremdete arbeit.
das erste war phantastisch, das zweite illusionär.
daß arbeiter und funktionäre solche motivationen
verstehen können, konnte man nicht erwarten.
( ... ) am literaturinstitut hätte kein student freiwillig
tagebaue und brikettfabriken aufgesucht.
und ich finde fühmanns gang ins proletarische
erdreich sogar etwas masochistisch, zugleich
jedoch anrührend idealistisch. ( ... ) letztlich kann
die mühsal und lauterkeit seines hineinarbeitens
ins bergwerk als sinnbild seines ganzen lebens
und literarischen schaffens gelten."
In jeder dieser Zeilen spüre ich Holger Benkels
Nähe zu Franz Fühmann. In seinem Essay „Die
Motive des Gräbers" schreibt er: .mit dem gefühl,
daß er selbst das ausgegrabene sein könne, (ist
er) längst vertraut." Dies ist zwar auf den
Archäologen und Weggenossen André Schinkel
gemünzt, aber es gilt auch für ihn selbst:
„( ... ) nicht im lichten garten steig ich / aus
dem hain hinab ins labyrinth / ( ... ) lieg ich / wo
die stille lebt bedeckt vom moos / dem fell der
erde im feuer der natur / spür ich die brut den
herd / unterm dickicht der seele / an der schwelle
des körpers / öffnet die wunde sich zur lichtung"
(aus „wald", unveröffentlicht).
Im Café: Immer wieder erstaunt es mich, im
Gesprächspartner Holger Benkel einen anderen,
weltzugewandteren, bissigeren, humorvolleren
Menschen kennenzulernen als den, der aus
seinen Gedichten spricht. Der Holger Benkel im
„Caberletto" hält Abstand zu seinem Gedicht-Ich,
mit ihm kann man kontrovers disputieren. Zum
Beispiel über Politik.
Verfall und Erstarrung, Holger Benkels
Themen von früh auf, zeigen sich ihm in den
Jahren vor der Wende nach außen gestülpt - im
Bild der Städte, als lähmende Normierung des
Lebens. Zu zeigen, wie es war, hat er Karl
Michels Gedicht „Neubauviertel"(1973) mitgebracht:
„Mein Hut der hat vier Ecken, vier- / Eckig ist
die Gegend hier / Jedes Haus acht Kanten und
vier Ecken / Keiner kann sich verstecken / Ich
sah eine Frau mit eckigem Hintern / Die kam aus
der Krippe mit eckigen Kindern / ( ... }"
Diese Wirklichkeit schrie nach Veränderung.
Als sie dann kam, herrschte, einen Augenblick
lang, ,,fruchtbares Chaos", die Hoffnung auf eine
ganz neue, „unentfremdete" Praxis, ..ein Sog hin
zum Handeln", wie Holger Benkel sagt.
Aber dann folgt die Ernüchterung: Abbruch der
Ausbildung durch zeitweilige Schließung des
Becher-lnstitus, Verlust der bescheidenen
materiellen Absicherung. Die Realität wurde, so
Benkel, „auf eine nunmehr subtilere Weise
täuschend und manipulativ". Bitterkeit entlockt
ihm das Wort von der „feindlichen Übernahme
des Ostens" durch den Westen. Neues Abwürgen
unentfremdeten Lebens und Schaffens, jetzt
durch anonyme „Machtstrukturen", „technokratisches"
Verfügen über· die Menschen und das
„Diktat des Marktes"- so erfährt Holger Benkel die
Nach-Wendezeit. Heute hält er sich, ermöglicht
durch den Georg-Kaiser-Preis, mit Lesungen
über Wasser.
Ein DDR-Nostalgiker ist er deshalb nicht, beide
Systeme sind für ihn falsch. Wenn er die
Wirklichkeit verwandeln könnte - „gegenwelten
formulieren und die realität verändern wollen,
gehört ja zusammen"-, so würde er unsere Denk- und
Lebensweise von Grund auf erneuern, weg
von allen sozialen und politischen Verfestigungen.
Wir müssten wieder wie Kinder werden.
Holger Benkel weiß, dass dies im Herrschaftsbereich
des „Realitätsprinzips" ein Wunschbild
bleibt: „utopien sind ein ewiger kreuzzug - der
kinder."
Im Café: Ich erfahre, Holger Benkel erkundet die
westliche Welt „sozusagen ethnologisch", .wie
eine fremde Kultur". Sein Befund: „Offenbar trieb
die Vernunft gerade auf Grund ihres inszenierten
Gegensatzes zur Nicht-Vernunft ins Anmaßende,
das wir heute Technokratie nennen. Und man
müsste zunächst einmal die Dimension der Nicht-
Vernunft produktiv zurückgewinnen. Andernfalls
würden die vom technokratischen Zeitgeist
absorbierten irrationalen Energien irgendwann
unbeherrscht ausbrechen".
An einer solchen Rückgewinnung der Nicht-
Vernunft arbeite er durch Sichtung mythischer
und magischer Weltbilder und ihre Einverleibung
ins Gedicht.
Einige Tage später ein Brief: „daß man durch
magie allein die wirklichkeit verändern könne,
glaube ich natürlich nicht, denke aber, magisches
wahrnehmen, das aus gewohntem heraustreten
lässt, kann, indem imagination und utopie zusammenfließen,
den wandlungswillen befördern".
Finde ich was er meint in dem Gedicht
„endmoräne"?
„( ... } im spalt / den mein glaziales auge füllt
seh ich / das licht das mir die tiefen überblendet /
spür ich das gas aus dem dunkel der erde / kehrt
zurück als atem der geist die irrende / energie der
gestrandeten götter sind wir / die neolithen der
zukunft ( ... }"
Ich werde ihn fragen.