Karla Reimert

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Bon Appétit


                                                                                               Für Martin von Arndt


In Kairo hält sich das Wetter schon seit Tagen beständig über 35 Grad. Es sind Sommerferien, alle Kinder zuhause, und auch sonst geht keiner auf die vor Hitze weichgekochte Straße, wenn es nicht unbedingt sein muss. Wir lassen die Rollläden geschlossen und schlafen den halben Tag.
   Zu Mittag essen wir abends um sechs, dann bleiben wir ein paar Stunden auf und warten auf dem Balkon, ob es kühler wird. Aber es wird nicht kühler, nicht im August; und so ist das Wetter unser einziges Thema. Außer Essen natürlich.
   Heute sind wir zu sechst und es gibt zum Abendessen: Hühnchen, gebraten und gekocht.
Rindfleisch, gekocht. Reis. Nudeln in Tomatensoße. Grünes gedünstetes Gemüse. Mussakka mit Hackfleisch, Auberginen und Tomaten. Baba Ghanoug, (gebackene, pürierte Auberginen). Weißes und dunkles Landbrot. Arabischen Ruccola-Tomatensalat. Spinatsoße und Kartoffeln.
   Das Besteck gibt mir keinen Hinweis darauf, in welcher Reihenfolge das Essen zu bezwingen wäre. Vor mir liegen zwei Gabeln, zwei Löffel, ein Messer und etwas, das ich nicht kenne. Um mich herum essen schon alle und ich komme mir sehr dumm vor.
   Im Fernseher neben dem Tisch läuft Nil-TV mit englisch untertitelten Überschwemmungsbildern
aus Norditalien, Frankreich und Deutschland. Große Schlammassen wälzen sich die Berge
hinunter, dunkelbraun quillt es durch Schluchten hinein in die Täler.
   Kleine Menschen schieben Fahrräder, deren Räder bis zur Hälfte im Wasser versinken oder
paddeln in kleinen Faltbooten durch das Inferno. Soldaten in Uniformen schichten Sandsäcke zu Dämmen und stechen mit großen Spaten Erde aus, um Ablaufbecken anzulegen. Politiker rufen zu Spenden auf. Frauen weinen und halten Kinder im Arm, die schläfrig in die Kameras blinzeln, weil sie vor lauter Wasser nicht mehr schlafen können. Notrationen Frischwasser werden ausgegeben und Menschen mit Hubschraubern aus überfluteten Häusern gerettet.
   In meiner Heimat essen wir entweder Gemüse mit Nudeln oder Reis oder Kartoffeln oder Brot. Das ist viel ordentlicher und damit einfacher, weil man sich dann nicht entscheiden muss. Das heißt, derjenige, der das Essen gekocht hat, war so freundlich, einem die Entscheidung abzunehmen. Ich möchte sagen, dass einer der wesentlichen Punkte, die Kochen in Europa zu einem freundlichen Akt machen, genau darin besteht. Man kann aber genauso behaupten, dass hier in Ägypten die Freundlichkeit eben darin besteht, dass man jeden Tag alles essen darf, was man will.
   Den Anfang eines arabischen Essens habe ich überhaupt noch nie verstanden. Man muss es
sich vorstellen, wie den Unterschied zwischen deutschem und ägyptischem Straßenverkehr. Niemand wartet auf ein Zeichen, eine Geste oder ein Wort des Gastgebers, dahingehend, dass man mit dem Essen beginnen darf. Nein, alle fahren blind gleichzeitig auf die Kreuzung los und warten dann ab, was passiert. Kreuzen die Löffel und reichen die Gabeln weiter, bis endlich jeder sein Essen da hat, wo es sein soll. Dazu hupen sie, was in menschliche Töne übersetzt recht lustig klingt.
   Auf meinem Teller liegt schließlich eine Landschaft aus Nudeln und Reis, Brot und Hühnerfleisch. Die Auberginencreme hängt wie ein trauriger kleiner See an den Steilhängen des Rindfleischs, das auf einem kleinen Extratellerehen liegt. Die Spinatsoße war für einen tiefen Teller gedacht, in den ich jetzt aber den großartig nach Kreuzkümmel duftenden Salat gepackt habe, deswegen muss ich sie als Suppe essen.
   Ob es viele solche Überschwemmungen gäbe, fragt mich der Vater der Familie. Ich weiß, dass er früher Ingenieur war und daher eine echte Antwort von mir hören will. Aber hier ist die Hitze und da das Problem mit meinem Essen.
   Ich sage, eigentlich gebe es nichf viele Überschwemmungen, aber mittlerweile doch immer
öfter. Vermutlich weil man· in Europa dreißig Jahre und mehr die Fließgeschwindigkeiten von Flüssen durch Betoneinfassungen und Ausgrabungen heraufgesetzt habe. Nur langsam gehe man wieder dazu über, Flüssen ihre natürlichen Auen zuzugestehen. Außerdem hätten immer mehr Menschen immer näher am Fluss wohnen wollen, ohne sich der Risiken bewusst werden zu wollen. Blindes Vertrauen auf die Technik.
   Ob es denn keine Frühwarnsysteme in Europa gebe, fragt mich der Vater. So wie es früher auf der Insel Elephantine Nilometer gegeben hätte, die die jährliche Flut ankündigten. Um genau zu sein, hätte es sogar zwei Frühwarnsysteme gegeben, weil die Flut des weißen Nils um einige Zeit früher eintraf als die Flut des Blauen Nils und so der jeweilige Herrscher des Niltales pünktlich die Festmähler und Feuerwerke anordnen konnte, die beim Eintreffen der blauen Nilflut einen ganzen Monat lang abgehalten wurden.
  Dann, wenn das Nilwasser mit der Hilfe von archimedischen Schrauben oder, später,
elektrischen Pumpen auf die ausgedörrte Erde geleitet wurde und das ganze Land aussah wie ein Schachbrett mit ausschließlich schwarzen Feldern.
   Drei Monate, in denen das gesamte Niltal schwarz war wie Kohle, aber dann ging die Saat auf, grün wie Smaragde leuchteten die Felder, um dann schließlich, zur Zeit der Ernte, sich in rotes Gold zu verwandeln. In Getreide, Datteln, süße Kartoffeln.
   Ob ich mir diese jährliche Freude vorstellen könne. Wenn die Frühwarnsysteme am oberen Nil anschlugen und den Beginn der Flut ankündigten und die Fellachen begannen, Rinder zu
schlachten, Hühner zu rupfen, Gemüse mit Reis zu füllen, Salat mit den eingelegten Oliven des letzten Jahres zuzubereiten und schließlich arabische Backwaren herzustellen, die sie mit wildem Honig und Rosenwasser süßten.
   Ich denke an die Schlammassen und an Autos, die wie bunte Segelboote durch Wasser
schwimmen. Nein, sage ich, in Europa hat sich vermutlich noch nie jemand über Überschwemmungen gefreut.
   Der Vater nickt, er ist schon recht alt und hat mehr Überflutungen erlebt, als ich vermutlich
jemals sehen werde. Seine Augen sind meistens so trübe, als stiege der fruchtbare Nilschlamm in ihnen hoch wie hinter den Mauern des Assuandammes, aber sein Verstand ist klar und sauber wie der Bergbach, aus dem der Nil in Äthiopien entspringt.
   Während wir noch reden, haben die anderen schon lange aufgegessen. Und sagen, bevor sie aufstehen, um Tee zu kochen, höflich „Bon Appétit" zueinander. Der Fernseher wird ausgeschaltet. Dann gibt es Nachtisch.