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DIE FLUCHT
Der orientalische Despot Scheich Paladin Radja - von ihm berichtet Faruk Hair-ad-Din in seiner Sammlung der Geheimnisse - ist bekannt
in den Überlieferungen unter dem Namen »der Einmauernde«. Interessant ist, dass dieses bizarre Epitheton auf ein Reflexivpronomen
verzichtet. Das ist um so merkwürdiger, wenn man die Geschichte des Scheichs erfährt. Zunächst weist sie keinerlei Besonderheiten auf. Paladin Radja war zwar ein weiser und rätselhafter Despot. Aber solche Herrscher hat es im Orient immer im Überfluss gegeben. Eines Tages nun - es geschah in der Mitte seiner Regierungszeit, der »segensreichen und barmherzigen«, wie Hair-Ad-Din schreibt - ließ er sich ein Grabmahl errichten. Das Vorhaben an sich war nicht ungewöhnlich. Jedoch verletzte der Kalif die Tradition, als er noch während der Arbeiten in die Gruft übersiedelte und sie zum Mittelpunkt seines Lebens erkor. 77 konzentrische Mauern und 77 Wände trennten den Herrscher von seinen Untertanen, 7 überhängende Steinkuppeln vom Himmel. Wie tote Hunde sicherten 33 kreisförmige Türme die Ruhe des Mausoleums. Der jedem neugierigen Blick entzogene
Palast verfügte über 33 Säle, in denen die 33 Doppelgänger des Herrschers residierten.
Und nur ein Versteck verbarg seine heilige Person. Zu den zahllosen Schlössern passte ein
einziger Schlüssel, den die Schmiede aus Alchimistengold in Form eines Zahnes gegossen hatten. Der Verweser verwahrte ihn in seinem Mund. Die Tag und Nacht andauernden Bauarbeiten
wurden von einem Wesir geleitet. Niemand außer ihm wusste, wann die Arbeiten zu einem Ende kämen. Man vermutete, dass es nicht einmal eine Frist dafür gab und dass der nur mit den
Hoheitslippen ausgesprochene Plan (oder die Laune, wie in den Ecken die Unzufriedenen raunten) möglichst viel Land erfasste, im Idealfall alle Besitzungen des Scheichs Paladin Radja oder
sogar die ganze Welt (in diesem Fall würden die Arbeiten nur durch den Tod des Wesirs beendet und die zerstörende Zeit würde als Sphinx die Ruinen bewachen).
Heute, nach Ablauf so vieler Zeit, können wir nur mutmaßen, welches Ziel Scheich Paladin
Radja verfolgte. Vielleicht meint er, so das Dunkel des ewigen Schlafes, des Schlafes ohne
Träume, zu vermeiden und stattdessen ewig träumen zu können. Vielleicht hat er sich, anders als Dornröschen oder die Siebenschläfer von Ephesus dafür freiwillig in seiner Höhle
eingeschlossen. Ein Psychoanalytiker würde sein Verhalten als Agoraphobie bezeichnen, ein Theologe der Mormonen als Angst, von der Sündhaftigkeit der Welt angesteckt zu werden. In beiden
Fällen ist sein ganz unbegreifliches Schaffen ein Symbol (und ein Denkmal!) der Angst. Oder vielleicht handelte er so, weil er das Schema des zeitlichen Ablaufs von der Gliederung das Raums
ableitete, oder wie Minkowskij, der die zeitliche Dimension den drei räumlichen anschloss. Der Raum und die Zeit haben im Grunde genommen ein einheitliches Wesen. Durchtrennt man den Raum
mit Mauern, kann man sich in eine Zeit einschließen. Zieht man sich im ersteren zurück, kann man sich vor dem Tode schützen - dem Boten des zweiten. (Dabei nahm Scheich Paladin
Radja augenscheinlich an, dass der Tod von außen kommt und nicht als Keim in ihm steckt. In seiner Vertrauensseligkeit hielt er solch eine Tücke nicht für möglich.) Wenn meine Vermutung
stimmt, so hat er lediglich erreicht, dass die Stunde seines Todes niemand außer Gott erfuhr.
Der unglückselige Scheich Paladin Radja, lebendigen Leibes unter den Gewölben seines
Labyrinthes beigesetzt! Naiv versuchte er vergeblich, das Sein um eine Dimension zu vermehren, als ob nicht jeder von uns in dieser Welt, in seinem eigenen Körper, seiner sterblichen Hülle,
in seinem Namen, der Schale des Schicksals, eingekerkert wäre.
Der Mulla aus Delhi, von dem das Buch des Hair-ad-Din auch berichtet, hat in dieser unvernünftigen Tat einen lästerlichen und verwegenen Versuch gesehen, sich mit Allah, dem
Weltenzentrum überhaupt, gleichzustellen. ,,Doch wie kann einer mit dem göttlichen Autor
wetteifern, - fragt der Muslim den Hindu, - der selber nur durch einen Buchstaben in Seinem
Text eingemauert ist?"
Manche behaupten, dass noch heute das Herz des Scheichs Paladin Radja in seinem Grabmal schlägt, und dass man diese Schläge hören kann, wenn man sein ruchloses Ohr an die
kalten Steine legt.
Nach einer Übersetzung aus dem Russischen von Svetlana Bujanovskaja.