ELENA FERRANTE
Aus:
La frantumaglia - der Scherbenhaufen
Ihr fragt mich nach der Bedeutung des Schmerzes in meinen beiden Büchern. Ihr sagt, dass das Leiden von Delia in Lästige Liebe und von Olga in Die Tage des Verlassenwerdens der Notwendigkeit entspringt, sich als Frauen von heute Klarheit über die eigenen Ursprünge zu verschaffen, über archaische Frauenbilder und über die mediterranen Mythen, die noch immer in ihnen fortwirken. Es kann sein, ich muss darüber nachdenken, aber um dies zu tun, kann ich nicht von den Wörtern ausgehen, die Ihr mir vorschlagt: Ursprung ist ein allzu abgenutztes Wort und die Adjektive, die Ihr verwendet (archaisch, mediterran) haben einen Klang, der mich verwirrt. Wenn Ihr einverstanden seid, würde ich lieber über ein Wort des Schmerzes nachdenken, as aus meiner Kindheit zu mir kommt und das mich beim Schreiben beider Bücher begleitet hat.
Meine Mutter hat mir ein Wort in ihrem Dialekt vermacht, das sie benutzte, um auszudrücken, wie sie sich fühlte, wenn sie von widersprüchlichen Eindrücken hin- und hergerissen, ja zerrissen wurde. Sie sagte dann, dass sie einen Scherbenhaufen in sich hätte. Der Scherbenhaufen deprimierte sie. Manchmal wurde ihr schwindelig davon, und sie spürte den Geschmack von Eisen im Mund. Es war das Wort für ein nicht anders zu beschreibendes Unbehagen und verwies auf einen Ansturm heterogener Dinge im Kopf, den Abschaum trüben Hirnwassers. Der Scherbenhaufen war rätselhaft, er führte zu allerlei rätselhaften Handlungen, und er war der Ursprung aller Leiden, die nicht auf einen offensichtlichen Grund zurückgeführt werden konnten. In ihren mittleren Jahren ließ sie der Scherbenhaufen oft mitten in der Nacht aufwachen und zu sich selbst sprechen, wofür sie sich später schämte; er suggerierte ihr ein undeutbares Motiv, das mit halb geöffnetem Mund zu singen war und sich bald in einem Seufzen verlor, und er trieb sie dazu, plötzlich aus dem Haus zu laufen, die Töpfe auf dem heißen Herd zu vergessen und die Soße anbrennen zu lassen. Oft brachte er sie zum Weinen, und jenes Wort aus meiner Kindheit ist mir vor allem in Erinnerung geblieben, um das plötzliche Weinen ohne erkenntlichen Grund zu beschreiben: Tränen aus Scherben.
ELENA FERRANTE
Es ist nun unmöglich, meine Mutter zu fragen, was sie mit diesem Wort tatsächlich meinte. Als Kind legte ich mir den Sinn auf zweierlei Weise zurecht: zum einen machte er, dass es einem schlecht ging, und zum anderen war derjenige, dem es schlecht ging, selbst dazu verdammt, früher oder später in Scherben zu zerspringen. Was der Scherbenhaufen in Wirklichkeit war, wusste ich nicht und weiß es noch immer nicht. Heute habe ich eine ganze Reihe von Bildern im Kopf, die jedoch mehr mit meinen eigenen Problemen, denn mit den ihren zu tun haben. Der Scherbenhaufen ist eine wechselnde Landschaft, eine Luft- oder Wassermasse unendlichen Schutts, der sich dem Ich auf brutale Weise als seine einzige und wahre Innerlichkeit zu erkennen gibt. Der Scherbenhaufen ist die Lagerhalle der Zeit ohne die Ordnung einer Geschichte oder Erzählung. Der Scherbenhaufen ist die Konsequenz jener Verlorenheit, die einen überfällt, wenn man plötzlich mit Sicherheit weiß, dass alles, was bis dahin fest und dauerhaft erschien, ein Anker unseres Lebens, unweigerlich auf jener Schutthalde enden wird, die wir zu sehen glauben. Im Scherbenhaufen verspürt man mit höchster Furcht, aus welch wahnsinniger Heterogenität wir Lebenden unsere Stimme erheben und in welch wahnsinniger Heterogenität sie sich unweigerlich verlieren wird. Ich, die bisweilen an derselben Krankheit leide wie Olga, die Hauptfigur aus Tage des Verlassenwerdens, stelle es mir wie ein sich steigerndes Surren vor, ein wirbelndes Zerbröckeln lebender und toter Materie: ein Bienenschwarm über den unbewegten Wipfeln der Bäume; ein plötzlicher Wirbel im ruhigen Flusslauf. Aber es ist auch das richtige Wort für das, was ich glaube in meiner Kindheit gesehen zu haben – oder auf jeden Fall in jener vollkommen erfundenen Zeitspanne, die wir als Erwachsene Kindheit zu nennen pflegen – kurz bevor das Sprechen zu mir kam und mich auf eine einzige Sprache eichte: eine bunte Explosion von Tönen, Tausende und Abertausende von Schmetterlingen mit klingenden Flügeln. Oder es ist nur meine eigene Weise, die Furcht vor dem Tod auszusprechen, das Entsetzen ob der Vorstellung, dass die Fähigkeit, sich auszudrücken, durch eine Lähmung der Stimmorgane verloren gehen könnte, und dass alles, was ich von meinem ersten Lebensjahr an bis heute zu kontrollieren gelernt habe, tröpfchenweise oder zischend aus einem Körper entweichen könnte, der nur noch ein Ding wäre, ein Ledersack, der Luft verlöre und Flüssigkeiten.
Ich könnte diese Aufzählung fortsetzen, es ist eines der vier, fünf Wörter meines Familienlexikons, in die ich alles stecke, was ich brauche. Aber in diesem Fall ist es mir besonders nützlich, um auszudrücken, was der Schmerz für meine beiden Figuren bedeutet: sich dem Scherbenhaufen stellen. Ich habe eine Seite aus Lästige Liebe aufbewahrt, die ich nicht verwendet habe, die aber hier sehr gut zeigt, was dieses Sich-Stellen bedeutet. Die Begebenheit bezieht sich auf die besondere Qualität von Amalias sehr schwarzem Haar, und sie wird natürlich von Delia erzählt, während sie in Neapel dem Tod ihrer Mutter nachforscht.
Ich hatte die feinen Haare meines Vaters. Sie waren sehr dünn und schwach, sie hatten weder Luft noch Licht und lagen auf meinem Kopf wie es ihnen gefiel, ungehorsam, und deshalb hasste ich sie. Es war unmöglich, sie so zu kämmen wie meine Mutter sie frisierte, zu einem Haarknoten, mit einer vollen Welle über der Stirn und dem rebellischen Löckchen, das bisweilen ihre Augenbrauen streifte. Ich schaute mich wütend im Spiegel an. Amalia hatte mir in ihrer Boshaftigkeit ihr Haar verweigert. Sie hatte den üppigen Haarknoten für sich behalten, sie hatte gewollt, dass ich niemals so schön werden würde wie sie. Sie hatte mich mit Haaren gemacht, die wie ein Notbehelf waren, eng am Kopf anliegend wie ein dunkler Belag, von unbestimmter Farbe, ein Hohn, braun, aber mit einem schwächlichen Willen zum Schwarz, nicht das glänzende Pech ihres Knotens, nicht das dunkel funkelnde Glas, in das all jene ihren Atem hauchten, die ihr sagten: wie schön sie sind. Mir sagte das niemand. Auch wenn ich sie offen ließ und sie immer länger wollte, lang – so träumte ich – bis zu den Füßen, so lang, wie sie sie vielleicht nicht hatte – ich erinnere mich nicht, sie jemals mit gelöstem Haarknoten gesehen zu haben –, blieben meine eigenen Haare stets ein unelegantes Flattern im Wind, ein Blütenstand des Kopfes, der sich nicht üppig inmitten schöner Frisuren Geltung zu verschaffen wusste, nicht einmal der Schatten jener Kraft, die ihrem Haar den ßLebenswillen einer seltenen Pflanze im Frühjahr verlieh.
ELENA FERRANTE
Eines Tages, ich weiß nicht mehr, wie es begonnen hat: ich war zwölf Jahre alt; vielleicht suchte ich nach einer Gelegenheit für einen unwiderlegbaren Grund zum Leiden; vielleicht fühlte ich mich auch nur unwiderruflich hässlich, und ich war es leid, meine eigene Schönheit zu suchen; vielleicht wollte ich meine Mutter nur herausfordern, ihr schweigend meine Feindschaft zu verstehen geben; mit Sicherheit stahl ich ihr ihre Schneiderschere, ging über den Flur, schloss mich im Bad ein und schnitt mir wütend die Haare ab, meine Augen blieben trocken dabei, und ich empfand eine grausame Freude. Im Spiegel erschien eine Fremde, eine unbekannte Besucherin mit zartem Gesicht, langen, schmalen Augen, einer bleichen Stirn, ein streunendes Elend im Moos des Schädels. Ich dachte: ich bin eine andere. Sofort darauf dachte ich: auch meine Mutter ist unter ihrem Haar eine andere. Eine andere also, und andere, andere, andere. Mir schlug das Herz bis zum Halse, ich sah in das Waschbecken, auf den Fußboden, das zerstückelte Haar. Ich empfand eine doppelte Notwendigkeit: zuerst machte ich sorgfältig sauber, ich wollte meine Mutter nicht ob der herumliegenden Haarsträhnen verdrießen; dann ging ich zu ihr, um ihr weh zu tun, ich wollte ihr sagen: schau, ich habe es nicht mehr nötig, mich so zu frisieren wie du. Amalia saß an der Nähmaschine, sie arbeitete. Sie hörte mich, drehte sich um, was hast du gemacht, ein tiefer Atemzug. In ihren Augen standen Tränen, und die Ringe unter ihren Augen verfärbten sich violett. Sie schrie nicht, sie schlug mich nicht, sie ignorierte alle möglichen mütterlichen Bestrafungen. Sie sah etwas, das sie verletzte und sie erschrak. Sie begann zu weinen.
Ich weiß, weshalb ich diese Seite vor zehn Jahren aus der Erzählung ausgeschlossen habe. Mir schien, dass die Episode zu viel über die Mutter-Tochter Beziehung verriete und dadurch andere wichtige Begebenheiten hinter sie zurückträten; und auch beim Wiederlesen habe ich meine Meinung nicht geändert. Die Symbolik der Haare ist allzu evident, übertrieben herausgearbeitet; nur die Scham hat mich offenbar davon abgehalten, auf Samson und Delila zu verweisen, auf Iris, die das Haar des Lebens aus dem blonden Schopf Didos reißt, und auf wer weiß wie viel anderes mehr, das sich verworren um den Schreibenden versammelt, und ihn darum bittet, benutzt und wieder benutzt, erneuert und zitiert zu werden. Wie dem auch sei, ich finde aber auch Abschnitte, die mich heute mehr als damals interessieren: zum Beispiel die Erbitterung Delias, als sie das Bild der Mutter in ihrem Körper auslöscht, als ob ihr eigenes Frauwerden nur durch das Von-sich-stoßen der anderen überhaupt möglich sei, und am Ende das Weinen Amalias, dieses Weinen, das wir nicht recht begreifen können, dieses unangemessene, übertriebene Weinen. Tochter und Mutter, Mädchen und Frau sehen etwas, sie sehen, dass es genügt, Hand an das Haar zu legen, um ein Erdbeben auszulösen. Delia erblickt aus dem Fenster des Spiegels außer ihrem eigenen geschorenen Kopf ein Gedränge von anderen. Amalia wirft ihren Blick über die verpfuschten Haare der Tochter hinaus, und sie erkennt etwas, das sie selbst nicht recht zu deuten weiß, und dass sie sich in Tränen auflösen lässt: meine Tochter ist mir feindlich gesonnen, ich werde mich nicht in meiner Tochter erweitern, ihr Fortschreiten wirft mich zurück, es lässt mich zerbröckeln. Der Schmerz ist in dieser Bewegung, welche eine tiefe Saite anstößt: eine Frisur, die man sich gewünscht hat, eine Frisur, die man verweigert hat, das Heute, das sich mit anderen und anderen füllt, eine Geste, die alle Brücken hinter sich abbricht, eine Kette sprengt, einen Wirbel auslöst und weinen macht. Beide meiner Figuren, Delia und Olga, sind aus dieser Bewegung entsprungen: Frauen, die auf ihr Ich halten, die es stark machen und sich abhärten, nur um am Ende erkennen zu müssen, dass ein Haarschnitt genügt, um einen Zusammenbruch herbeizuführen, die eigene Festigkeit zu verlieren und sich als heterogener Scherbenfluss zu fühlen, nützlich noch und unbrauchbar, vergiftet oder gereinigt.