Eike-Wolfgang Kornhass

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Ein Ich an sich

 

Er habe seinerzeit die Gegebenheiten der Welt unkritisch apperzipiert. Zweifel am platonisch-aristotelischen Kosmos ontologischer Gewißheiten seien ihm nicht gekommen. Stift, Pinsel, Meißel habe er mehr oder weniger genau nach der für objektiv erachteten Natur geführt: Mimesis. Man habe diese Phase seiner künstlerischen Entwicklung als Weiße Periode bezeichnet, welche geprägt gewesen sei von einer unmittelbaren, im existentiellen Sinne beinahe naiven Anschauung des darzustellenden Objekts. Zwar habe er sich mit der Zeit allmählich gelöst von der Methode exakter Reproduktion des vorgegebenen Sujets, sei der Gegenständlichkeit aber grundsätzlich verbunden geblieben. Bereits in frühen Jahren habe seine ständig verbesserte, annähernd altmeisterliche Technik Aufsehen erregt und kontinuierlich steigenden Ruhm mit sich gebracht. Als schließlich hochbezahlter Porträtist vieler Zelebritäten sei er in die Rolle renaissancehafter Malerfürstlichkeit hineingewachsen. Schon habe er geglaubt, den Zenit kreativer Selbstverwirklichung erreicht zu haben. Doch dann vollkommen unerwartet die Möglichkeit, in den Olymp veritabler Omnipotenz aufzusteigen!

Im 50. Lebensjahr sei ihm sein Damaskus-Erlebnis beschieden gewesen, hervorgerufen durch die Lektüre einiger Schriften des heute nahezu vergessenen romantischen Philosophen Johann Gottlieb Fichte. Insbesondere dessen „Wissenschaftslehre“ von 1794 habe sein Innerstes getroffen gleich einem coup de foudre. Dieser geniale Denker, der als deutsche Antwort auf die epochalen Pariser Ereignisse des Jahres 1789 die „Revolution des Geistes“ ausgerufen habe, beziehe spekulative Gegenposition zu allem, was in der europäischen Geistesgeschichte bis dahin als gesichert erschienen sei. Man vergegenwärtige sich die intellektuelle Kühnheit, dem Platonischen Nus oder Kants „Ding an sich“ sein neues „Ich an sich“ bzw. „absolutes Ich“ entgegenzuschleudern! Zu Recht habe man den Jenenser Professor als Atheisten gebrandmarkt, wenn jener die Kollegen philosophischer und theologischer Fakultäten mit Kernsätzen provoziert habe wie: „Aller Realität Quelle ist das Ich, denn dieses ist das Unmittelbare und schlechthin Gesetzte. Erst durch und mit dem Ich ist der Begriff der Realität gegeben.“ Er, der Maler, habe eine derartige Position seinerzeit als Fanal verstanden, als bündige Formulierung eines Manifests zur radikalen Umwertung aller Werte oder, in des Meisters Worten, als „die vollständige Lösung des Rätsels der Welt und des Bewußtseins mit mathematischer Evidenz.“ Welches Allmachtsgefühl habe die immanentisierte Offenbarung in ihm ausgelöst, daß der Mensch erst mittels des „absoluten Ich“ die Wirklichkeit erschaffe, welche demnach ohne seine Vorstellung überhaupt nicht existiere! Der Mensch als Schöpfer allen Seins und gleichzeitig seiner selbst, was für eine Vision! Endlich sei in Gestalt des Johann Gottlieb Fichte ein Prophet auf den Plan getreten, der uns vom ewig lastenden Joch der Empirie befreit, dem von orthodoxen Klerikern niedergehaltenen Menschlein seine eigentliche Würde geschenkt habe, die Würde des von Götterherrschaft emanzipierten, Welt und Selbst erzeugenden und sich erlösenden, divinisierten Ich!

Die Erkenntnisse der „Wissenschaftlehre“ hätten einen qualitativen Sprung in seiner künstlerischen Karriere bewirkt. In der Rückschau müsse er konstatieren, daß sein Ich der Weißen Periode trotz gewisser egomanischer Züge doch halbwegs geerdet gewesen sei. Das eben erworbene Fichtesche „Ich an sich“ aber habe ihn personszentral dergestalt verändert, daß er sich in die pure Abstraktion hineingesteigert habe. In Adaption der romantischen Lieblingsfarbe sei er nach eigener Definition zu jener Zeit in die Blaue Periode eingetreten. Sie sei gekennzeichnet durch immer nachhaltiger vorangetriebene Eliminierung jeglicher Gegenständlichkeit. Das hätten bekanntlich auch andere Künstler getan. Er erinnere an die „Internationale Ausstellung von nichts“ vom Juli 1960 in der Hamburger Kunsthalle. Dort habe man das Nichts letztendlich darzustellen versucht durch ein leeres Blatt Papier. Das sei jedoch keine konsequente Ausführung des Gedankens, denn auch ein weißer Bogen sei noch gegenständlich, darüber hinaus von etlichen Akzidentien der Materie wie Raum, Luft etc. umgeben; das Nichts aber könne zumindest philosophisch gesehen nie von Stofflichkeit begrenzt sein. Er habe demgegenüber das Problem stringent zuende gedacht. Sein Wille zur Zerstörung aller Dinglichkeiten sei geleitet gewesen von der Obsession, das reine Ich zu schaffen. Dies sei für ihn nur denkbar, wenn dem absoluten Ich das absolute Nichts gegenübergestellt werde. Wohl sei ihm bereits damals die Paradoxie einer creatio nihili klar gewesen: ein existierendes Ich könne kein Nichts schaffen. Und doch habe er unter dem schier unausweichlichen inneren Zwang gestanden, konsequent bis zum ultimativ Denkbaren zu gehen und so dem Dämon eines pathologischen amor sui alle erfahrbare Realität zu opfern. Daß er mit solch radikaler Loslösung von jedwedem Außerichlichen weit über Fichtes immer noch wirklichkeitshaltige Dichotomie von Ich versus Nicht-Ich hinausgegangen sei, halte er für legitim: dem Künstler stehe im Gegensatz etwa zum Philosophen das Recht zu, sämtliche für gültig befundenen Grenzen des Denkens zu überschreiten.

Höhe- und Schlußpunkt seiner Arbeit am Nichts sei die Ankündigung gewesen, daß eine definitiv letzte Ausstellung nicht stattfinden werde, in der er das Nichts nicht zeigen könne. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sei seine Gattin Vogel zeigend mit den Worten auf Distanz gegangen, sie wolle nicht weiter an der Seite eines verichten Astralleibes leben. Hinzu komme, daß sein Publikum ihn nach der letzten Verlautbarung kopfschüttelnd schließlich ganz verlassen habe. Auch jener Tatbestand sei ihm als in höchstem Maße qualvoll bewußt geworden. Denn was könne für einen ehemals berühmten Künstler unerträglicher sein als Schaffenskraft und damit verbundene Befriedigung der Eitelkeit auch noch selbst zu liquidieren? So sei am Ende seines subjektivistischen Purgatoriums eine furchtbare Einsamkeit auf der ehemals als seligmachend erstrebten Insel des absoluten Ich geblieben. Die Aporien seiner voluntaristischen Revolte kenne er. Dennoch betrachte er es als einfach undenkbar, vom einmal erreichten Elysium des reinen Ego reumütig zurückzukehren in seiner Großmutter Vorstellung vom thronenden Himmelvater, in die ordinären Tiefebenen des gegenständlichen Jammertals, in die dem geheiligten Ich fremde Welt blöder Empirie. Seine Lage sei somit nach eigener Einschätzung aussichtslos.

Unter solchen Vorzeichen habe er aus gegebenem Anlaß die verbliebenen Freunde eingeladen, sich in diesem jeder Alltäglichkeit fernen, leeren Raum auf dem höchsten Punkt des Bergmassivs um ihn zu versammeln. Der Schnee sei großenteils schon weggetaut und das Blau des Gletschersees tue seinen trüb gewordenen Augen gut. Er bitte, von Geburtstagsgaben abzusehen. Habe er doch selbst ein Geschenk mitgebracht, welches ihm der hochverehrte japanische Dichter Yukio Mishima nur wenige Wochen vor seinem spektakulären Ende mit ritueller Verbeugung und wissendem Lächeln überantwortet habe.

Man reiche ihm nunmehr den Dolch.

– Systemphilosophie, Ich-Artistik, finale Performance, Eitelkeit –, murmelte der Leser des uralten Berichts und legte das Feuilleton beiseite.