ALEXEJ  MOIR

 

Der unbehauste Gott der Muslime

 

 

 

 


Ana 1-haqq - »Ich bin die Wahrheit (=Gott)«
(AJ-Halladsch)

 
Wie ausgefranste Kleider hingen die Tierleiber von den Haken herab. Hunderte von Fliegen bedeckten die gehäuteten Rücken der Schafe und Lämmer. Der Windzug eines vorbei-­ rumpelnden Kleinlasters scheuchte sie auf. Sie schwärmten auf das Flachdach, wo ich schweißgebadet auf einer Pritsche lag und ließen sich auf mir nieder. Die Hitze des frühen Morgens war unerträglich. Von dem Gestank des Fleischbazars unter mir wurde mir übel: ein süßlich verwesender Geruch, der Urin von Mensch und Tier. Ein von einem Maultier gezogener Karren polterte um die Ecke, schmiss einen Obststand um und verschwand. Die überreifen Melonen zerplatzten auf dem Pflaster. Ein stämmiger Knabe mit einer Tonsur durchschnitt einer Färse die Kehle und rief dabei: »Im Namen Gottes, Gott ist groß!« Im Zimmer unter mir wimmerte eine Frau. Dann schrie sie und rief unverständliche Sätze, die ein Röcheln auswischte. Ich blickte in die tiefstehende Sonne. Am Rande der Stadt tasteten sich die letzten Lehmhütten in die Wüste. Graubraunes, schartiges Tuch Wüste, das jetzt im Licht brannte. Plötzlich lastete dieser übermächtige Schatten darauf. Ich lag benommen auf dem Dach. Der Schatten, unbeweglich, verschluckte jedes Geräusch, vertilgte jeden Geruch. In seinem Halbdunkel versuchte ich irgendwelche Konturen auszumachen. Umsonst. Weit entfernt glaubte ich Schritte zu hören. Sandalen, aus denen der Sand rieselte, schlurften über die Felsen. Jemand irrte allein durch die Wüste. Ein Verrückter? Ein Prophet? Er schien etwas mit­teilen zu müssen. Über den Schatten. Über die Vergeblichkeit des Fleisches. Über die All­macht des Schattens. Ich wusste es nicht.

 

Schon in den ältesten uns bekannten Kulturen ist allein die Tatsache der menschlichen Existenz ein religiöser Akt, denn Nahrung, Sexualität und Arbeit haben eine zutiefst sakramentale Bedeu­tung. Um die Wirklichkeit, die Welt als sinnvoll begreifen zu können, entdeckt der Mensch das Heilige, das einzige, wenn auch zwiespältige Mittel gegen den chaotischen und gefahrvollen Fluss der Dinge, ihrem zufälligen, sinnlosen Aufgang und Untergang. Doch das Sakrale führt zwangsläufig in eine labyrinthische Vielfalt von Handlungen, Glaubensvorstellungen und Theo­rien, die sich jeder Formel, jeder scharf umrisse­nen Definition entziehen.

Das Phänomen des Religiösen beginnt bei einem Tabu, einem Ritual, einem Symbol und steigert sich dann zum Mythos, zum Dämon, zum Gott. Bisweilen obliegt es einer eifernden Priesterkaste, den tradierten Kult ihres strengen Gottes vor jeder Veränderung zu bewahren. Ein rigoroser Formalismus drang­saliert den Gläubigen auf Schritt und Tritt, nimmt ihm den Atem und auch schon mal das Leben. Daneben tummeln sich Scharen von Göttern mit »menschlicherem Antlitz«. Die Olympier, das Pantheon der Griechen, palavern, lieben, raufen, betrügen und zechen wie die Sterblichen, nur ausschweifender, zügelloser und ungestraft.

Auch die sumerischen, ägyptischen und babyloni­schen Gottheiten sind neben ihren transzenden­ten Pflichten zu jedem Schabernack bereit. Ohne Groll dulden  sie die Götter  besiegter Völker neben sich. Dennoch ist ihre Toleranz gegenüber ihren Artgenossen immer mit einer nie versiegen­den Kampfeslust gepaart. Einige Götter haben sich geradezu auf den Krieg spezialisiert. Entsprechend der von Schlachten »kolorierten« Ideologie und Praxis der Germanen hat sich ihr oberster Gott Odin neben der Dichtung, der Weisheit und Ekstase vornehmlich dem Krieg verschrieben. Der Heldentod wird zur privilegier­ten religiösen Erfahrung.

In dem Maße, wie das europäische Denken im Zuge der Aufklärung komplexe philoso-­ phische Systeme entwickelt, gerät die Vor­stellung des Göttlichen zunehmend in einen abstrakten Bereich. Gott sei das Urgegebene des menschlichen Bewusstseins. Er existiere - so Max Scheier - als das Urseiende, das nur durch sich selbst ist und von dem alles andere abhängt. Der werdende Gott wachse im Herzen des Menschen und dieser sei Mit­bildner, Mitstifter und Mitvollzieher einer im Weltprozess und mit ihm selbst werdenden ideellen Werdefolge. Der Mensch sei der einzige Ort, in dem und durch den das Urseiende sich nicht nur selbst erfasst und erkennt, sondern er sei auch das Seiende, in dessen freier Entscheidung Gott sein bloßes Wesen zu verwirklichen und zu heiligen vermag.

 

Seltsam blass und nach Kräften elaboriert erscheinen diese Gottesbegriffe gegenüber jenen in den drei Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam. Der hebräisch-christliche Jahwe und der muslimische Allah verfügen ungeachtet  ihrer transzendenten Existenz über eine Reihe von anthropomorphen Eigenschaften: Sie haben die Macht zu erschaffen, sie können zerstören, belohnen und strafen, sie können lieben und vergeben. Und wenn man davon ausgeht, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde schuf (Feuerbach), dann gewinnt der Gedanke an Plausibilität, dieser persönliche und zugleich nicht fassbare Gott müsse das Geschöpf einer Wüstenei sein.

Er entstammt einer Gegend, die nicht mehr empfängt und nicht schenkt, nicht nährt, durch nichts mehr genährt, ausgeschieden aus dem Kreislauf des Lebens. Erde ohne Verwandlung, die nichts begreift. Erde, die schicksallos ist, ohne Freuden und Leiden. Sie ist das Antlitz des Todes, und nicht einmal das. So ist nicht der Tod, der kommt und schrecklich ist oder sanft. So ist nur Gestorbensein, weit weg vom Menschlichen. Sie ist das ausgemacht Öde, das Ausgelöschte, Getilgte.
An diesem lebensfeindlichen Un-Ort, genau­er: auf dem Berg Horeb hinter lodernden Flam-­ men, offenbart sich Gott zum ersten Mal dem israelitischen Propheten Moses. Generationen später zeigt sich derselbe Gott - diesmal unter seinem arabischen Namen Allah in der Bedeu­ tung »der Gott« schlechthin - dem mekkani­schen Kaufmann Muhammad auf dem Berg Hira. Und wieder verbirgt Er sich, diesmal hinter einem Lichtschein, der seinen größten Propheten blendet und fast um den Verstand bringt. Insofern hat Jahwe sein Einsatzzentrum von Israel nach Arabien verlegt, ohne seine Vorliebe für die Wüste und ihre Lebensweise aufzugeben. Alle frühen Gestalten der Heils­geschichte sind Hirten. Abel, Jakob, Moses und David, deren Bedeutung neben der Bibel auch der Koran hervorhebt, stehen dem Wüstengott besonders nah. Der unglückselige Brudermörder und Ackerbauer Kain dagegen kann durch das Opfern seiner Feldfrüchte Jahwes Wohlwollen nicht gewinnen. Liegt nicht seit der Vertreibung aus dem Paradies auf der Landwirtschaft ein Fluch?

Auch wenn der Islam im Laufe seiner Geschichte eine raffinierte urbane Zivilisation entwickelt, verleugnet er seine nomadischen Wurzeln nie. Ein Hadith lautet: die göttliche Glorie ist unter den Hirten. Ein jeder Prophet muss eine Zeitlang Hirte gewesen sein. Selbst die maurische Architektur mit ihren zwiebelförmigen Kuppeln, den dünnen Säulen, den Hufeisenbögen und doppelten Spitzbögen greift die Konstruktion des Zeltes wieder auf. Auch heute genügt manchmal ein geringer Anlass, dass der Muslim sein »Zelt« aufpackt, um sich einen neuen Wohnsitz zu suchen. Wohin er seinen Islam tragen kann, da findet er seine Heimat.
Das rastlose Nomadenleben hat seine Ent­sprechung im unsteten Handwerk des Krieges. Man kann weder Jahwe noch Allah eine pazi­fistische Neigung unterstellen. Beide rufen ihre Klientel immer wieder zum Kampf auf und greifen in das Gemetzel mitunter selbst ein. Im Buch Josua heißt es: Und Gott sprach zu Josua: Fürchte dich nicht vor den Kanaanitern! Denn morgen um diese Zeit will ich sie alle erschlagen geben vor den Kindern Israel. Ihre Rosse sollst du lähmen und ihre Wagen mit Feuer verbrennen.

In seinem Kampfeseifer steht der Koran dem biblischen Vorbild in nichts nach: Und dass die Ungläubigen nicht denken, sie könnten sich retten; sie werden gewiss nicht entkommen. So rüstet wider sie, was ihr vermögt an Kräften und Schlacht­rössern, um in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euren Feind und andere außer ihnen, die ihr nicht kennt, Allah aber kennt. Bei aller Bereitschaft zur Gewalt ist dieser Gott jedoch keineswegs mit dem Kriegsgott Ares der griechischen Mythologie gleichzusetzen. Dazu ist er zu mächtig, zu allumfassend, zu verborgen, zu widersprüchlich. Einige der ihm zugeschriebenen neunundneunzig Attribute lauten zwar al-Musil, »der Zerstörende«, al­ Mumit, »der Tötende«, al-Muntaqim, »der Rächer«.  Andererseits  heißt  er al-Qayyum, »der Erhaltende«, al-Halim, »der Sanftmütige« und as-Salam, »der Frieden«. In Seiner abso­luten Transzendenz entzieht Er sich jedem menschlichen Versuch, Ihn begreifen zu wol­len. Er »existiert« jenseits aller Vorstellungs­- kraft und ist dem Menschen doch »näher als seine Halsschlagader«. Der Koran nennt Ihn den Ersten und Letzten, den Inneren und den Äußeren. Gewissermaßen ist Er ein per­sönlicher Gott, aber Er ist keine Person. Dem menschlichen Intellekt ist es untersagt, über das Wesen des Schöpfers nachzudenken, weil es keine Beziehung zwischen den Seinsweisen der beiden gibt. Es gilt geradezu als Sünde, sich Gott mit dem menschlichen Verstand zu nähern oder Ihn gar zu konzeptualisieren. Und so ficht es die islamische Orthodoxie auch nicht an, dass dieser absolut gerechte Gott einigen seiner Geschöpfe den rechten Weg weist und andere absichtlich in die Irre führt. Willkür, arglistige Täuschung oder eine faden­scheinige Moral sind dem Irdischen verhaftete Begriffe, denen der transzendente Gott nicht zu unterliegen scheint.

 
Der konsequenteste und tiefste Ausdruck für eine rein religiöse Auffassung der Welt und der menschlichen Existenz ist der Gedanke der Prä­destination. »Fünf Dinge sind es« - so weiß es der Hadith - »die Gott für jeden seiner Diener festgelegt hat: die Dauer seines Lebens, seine Taten, seine Wohnorte, seine Reisen und sein Schicksal.« Dass Gut und Böse seit Beginn der Welt unwiderruflich festgelegt und auf den Tafeln der göttlichen Beschlüsse nieder- geschrieben sind, gilt als sechstes Dogma des muslimischen Glaubensbekenntnisses. In der Geschichte des Islam hat es nicht an Versuchen gefehlt, diese rigorose Lehre von der Vorherbestimmung des Schicksals, taqdir, die ja auch den freien mensch­lichen Willen negiert, zu entschärfen. Die Mu'taziliten haben wohl am heftigsten gegen dieses von höchster Instanz verordnete Fatum opponiert. Doch ihr Standpunkt gilt nach wie vor als Häresie. So bleibt es Gottes Geheimnis, warum Er die Ungläubigen straft, deren Lebens­weg Er doch selbst vorgegeben hat. Er gibt dem Menschen zwar die Kraft zu leben, aber auf die Gestaltung dieses Lebens hat dieser keinerlei Einfluss. Alle guten und bösen Taten, die er begeht, geschehen letztlich auf göttlichen Beschluss. Der Mensch, eine Figur in einem seinen Verstand übersteigenden Schattenspiel, wird auf eine existentielle Zweidimensionalität reduziert. Er kann sich nur dem Willen seines Schöpfers vertrauensvoll hingeben (tawakku1) und sich Ihm unterwerfen. Nichts anderes bedeu­tet ja das Wort islam.

Diese Haltung, die fort­währende Betonung der Allmacht Gottes, hat das Bewusstsein der Muslime zutiefst geprägt und zu einem erstickenden Fatalismus geführt. Der Islamwissenschaftler Gustav E. von Grunebaum beschreibt das Verhältnis Gott-Mensch folgender­maßen: Es gibt keine Macht außer in Ihm, keine Urheberschaft neben Ihm, kein Sittengesetz, das unabhängig von Seiner Entscheidung zustande käme, kein Schicksal, das etwas anderes als die Kundgabe seines Willens wäre ... die Größe des Menschen ist eine vermittelte Größe, eine nur geduldete Größe. Der klassische Islam hat den Menschen Gott geopfert.

Die schon erwähnten neunundneunzig Attribute Gottes haben Diesen in einen Käfig von Defini­tionen gesperrt. Um ihn aus einem solchen ver­knöcherten  System  herauszulösen, benutzen die islamischen Mystiker die Technik des dhikr, des »Erinnerns«, einer Art Litanei, die aus laufend wiederholten rituellen Formeln besteht. Begleitet von Musik, Tanz und Poesie gelangen die Gläubigen in einen Trancezustand, in eine kollektive mystische Ekstase, die schließlich zur Vereinigung der Seele mit Gott führen soll. Denn letztlich existiert nur Gott. Er ist in allen Dingen, und alle Dinge sind in Ihm. Das schließt eine eigenständige menschliche Existenz aus.

Den­noch sehnen sich die »Gottesnamen« danach, offenbart und in der Welt reflektiert zu werden. Gott will seine Schönheit in der Vielfalt der geschaffenen Dinge erblicken. Dazu braucht Er seine Geschöpfe. In letzter Instanz sind beide voneinander abhängig, wenn nicht gar eins. AI-Halladsch, eine der bedeutendsten Persönlich­ keiten der islamischen Mystik, fasst diese Erkenntnis in dem Satz zusammen: ana '/-haqq»ich bin die Wahrheit«, d.h. Gott. Als H'äretiker und Gotteslästerer verbringt er acht Jahre und sieben Monate im Gefängnis. Schließlich verurteilt ihn ein Tribunal in Bagdad zum Tode. Er wird an den Pranger gestellt und gegeißelt, dann werden ihm in Anspielung auf Worte des Korans Hände und Füße abgeschlagen. Er wird gekreuzigt und enthauptet. Sein Leichnam wird öffentlich verbrannt und die Asche in den Tigris gestreut.

 

Mehr als die Liebe - im Koran wird sie kaum erwähnt - bestimmt die Furcht vor Gott das Leben des Gläubigen. Sie ist die  eigentliche Triebfeder und Stütze des Islam. So häufig wie in keiner anderen Religion beschreibt der Koran die Freuden des Paradieses und die Schrecken der Hölle. In mehr als zweihundert Versen schildert er wortgewaltig und bildstark das Inferno. Die dschehennam - vom hebräischen gehinnom entlehnt - bildet ein System von sieben konzen­trischen Stufen. Die erste, relativ harmlose Abteilung ist für alle von Gott gestraften Muslime gedacht. Dann nehmen Qual und Pein von Stufe zu Stufe zu. Die /aza enthält nach der Aussage muslimischer Kommentatoren das Höllenfeuer für die Christen. Al-Hutama birgt ein heißes Feuer für die Juden. Die sa'ir, die »glühendheiße« war­tet auf die Sabier, die einem Sternenkult an­hängen. Saqar, die »Lodernde« ist den Magiern zugedacht. AI-Dschahim ist der schreckliche Wohnort aller Götzendiener. Schließlich ver­schlingt die hawija, ein bodenloser Abgrund, die Heuchler.
Allah selbst scheint mitunter im Paradies zu weilen. An diesem Ort der Seligen dürfen Ihn einige Auserwählte schauen, wenn die Zeit da ist und Er es will. Sein Thron umfasst Himmel und Erde. Doch Er »sitzt« auf ihm, ohne ihn zu berühren und ohne auf ihm zu ruhen. Sein Domizil vermag der Mensch nicht zu ermitteln. Ob Er über den Dingen oder in ihnen existiert, ob Er im Herzen der Menschen wohnt oder im steinernen Labyrinth der Berge und Wüsten, ob es Ihn überhaupt gibt - wer wüsste das zu sagen. Vielleicht wirft Er nur einen riesigen Schatten, in dem der Mensch seit Urbeginn die unterschiedlichsten Konturen zu erkennen glaubt.
 

 

 

 

 

 

 

 


ALEXEJ  MOIR    ••••