Der Weltgeist im Elysium
„Auch ich bin ein Kind meiner Zeit. Den Kommilitonen des Tübinger Stifts, Schelling und Holder, aber auch Schiller, Fichte oder Novalis bin ich Bruder im Geiste. Gleich Ihnen ist mir im Angesicht der großen Französischen Revolution die Welt in Bewegung geraten. Die von den Alten beschworenen, in aeternam gültigen Bedingungen des Seins vermögen unserem Streben nach neuer Erkenntnis nicht mehr zu genügen. Wir ersehnen das Reich Gottes im Diesseits und unsere Hände sollen nicht müßig bleiben im Schoße: Es gilt, unser geistverlassenes, heilloses Zeitalter zu überwinden, die christliche Offenbarung in unserem Sinne zu deuten, id est die Vollendung des Menschengeschlechts zu inaugurieren, den heraufziehenden Endzustand aus >eigenen Mitteln herbeizuführen, das Ist dem Sollen, das Sein dem Werden zu opfern.
Und so reihe ich mich ein in die Phalanx der Heilsverkünder auf Erden. Auch ich mag es nicht zufrieden sein, am göttlichen Logos bloß teilzuhaben und der Erlösung in der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits zu harren. Ich will ihn vielmehr tätig in Besitz nehmen in dem im Bewußtsein zu sich selbst gekommenen Geist. Auch ich muß dem spiritus dei im Prozeß des Werdens die Freiheit des Menschen und die Aneignung der Wahrheit abringen.
Bei allem Gleichklang der Seelen aber rage ich aus der Schar der Mitstreiter weit heraus. Erst mir ist es beschieden, im gewaltigsten und geschlossensten philosophischen System meines Jahrhunderts die abendländische Metaphysik zu ihrem Höhepunkt und Ende zu bringen. Erst mir ist es beschieden, dem lähmenden An sich der Welt das Für sich des Bewußtseins hinzuzufügen, um schließlich im An und für sich zum Selbstbewußtsein zu gelangen und damit zur vollendeten Freiheit des Menschen. Erst mir ist es beschieden, in meiner genialen Phänomenologie des Geistes Substantialität und Subjektivität, Vernunft und Freiheit, Wirklichkeit und Idee zusammenzuführen und dergestalt des absoluten Wissens oder auch des absoluten Geistes teilhaftig zu werden, die Wahrheit als wissenschaftliches System derselben…“
„Genug, genug, genug lieber Georg Wilhelm Friedrich, vanitas vanitatum vanitas! Vergessen Sie nicht, daß Sie in der von Ihnen selbst so benannten leeren Nacht es übersinnlichen Jenseits bereits angekommen sind. Offenbar scheinen Sie selbst im Fegefeuer nicht abgelassen zu haben von Ihrem gotteslästerlichen Eschatologisieren, Ihrer pietistisch-mystischen Hybris als divinisierter Großmeister der Philosophie. Sie sollten das Privileg, hier in der Sektion für Geistesheroen wesen zu dürfen, nicht überstrapazieren. Ihre achristlichen, jeglicher Demut entratenden Tiraden wirken höchst befremdlich im Reiche des HERRN und sind, wenn ich dies für meine Person hinzufügen darf, obendrein wenig unterhaltsam. Ich dachte, meine Fußreflexzonenmassage würde Sie etwas beruhigen. Ein Kopfkraulen wäre wohl angebrachter gewesen, obgleich ich auch da inzwischen meine Zweifel habe. Augenscheinlich verharren Sie weiterhin in der Rolle eines an Selbstüberschätzung leidenden ontologischen Wüterichs. Das wundert mich umso mehr, als Sie sehr wohl wissen, daß nicht nur Ihre Zeitgenossen, sondern auch diverse Nachgeborene reichliche Portionen der von Ihnen angerührten Götterspeise verkostet haben: Nietzsche etwa, der als halb leidender, halb fröhlicher Prophet den von Ihnen immerhin noch mit kuriosen Einschränkungen geduldeten Gott gleich ganz für tot erklärt hat, um das freigeräumte Terrain ersatzweise mit der mythischen Chimäre des berüchtigten Übermenschen zu besetzen. Oder Karl Marx, der dem proletarischen Pauper Einlaß zu Ihrem immanentisierten Kosmos verschafft und mit dem Auftrag versehen hat, die Revolutionierung des Bewußtseins in Tateinheit mit der Revolutionierung der politischen Verhältnisse blutig umzusetzen. Ihnen und Ihren Geistesverwandten in ganz Europa ist es überdies zu verdanken, daß ein im Überschwang des Hegelschen Selbstbewußtseins aus der conditio humana ausgebrochener Mensch nunmehr in einem fast schrankenlosen Individualismus angekommen ist, als dessen ungewollte Kehrseite wir nicht nur neue Formen politischer Willkür, sondern auch die größte bislang bekannte Vereinsamung der scheinbar autonomen Psyche zu beklagen haben.“
„… die Wahrheit als wissenschaftliches System derselben zu begreifen. Erst mir ist es beschieden, die Dialektik als Begriff in der Philosophie zu verankern. Thesis und Antithesis gelangen im gegenseitigen Erkennen zur Versöhnung in der Synthesis, der Einheit des Lebens, der Liebe. Leben, Liebe, Natur sind sichtbar gewordener Teil des göttlichen Geistes. Der als Selbstbewußtsein definierte menschliche Geist ist Teil des göttlichen. Und auch letzterer ist zu verstehen als werdendes Selbstbewußtsein, welches sich im Prozeß der Dialektik vollzieht. Auch Gott ist zunächst seiner selbst nicht bewußt. Erst in Anschauung der Natur, der Schöpfung, des Menschen erkennt die Gottheit sich selbst. Als Anschauende und vom Menschen Angeschaute ist sie ein und dieselbe und kommt im Akt des sich vollziehenden Selbstbewußtseins zum vollendeten Bewußtsein ihrer selbst …“
„Er steigert sich ins Sprachdelirium. Wenn ich das alles in meinem beschränkten Frauenbewußtsein richtig verstanden habe, so ist der Allerhöchste beileibe nicht allmächtig, wie mir im Religionsunterricht beigebracht wurde, sondern bedarf zur Selbst- oder Gottwerdung des Menschen, vorzugsweise vertreten durch Herrn Professor Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der Privateigentümer des absoluten Geistes beansprucht demnach die Lizenz, erst durch seine Mithilfe dem ohne ihn unvollendeten Halb-Gott zur Vollgöttlichkeit zu verhelfen? Da mag unser Himmelvater aber froh sein, daß es den idealistischen deutschen Philosophen gibt. Für mich als Opernliebhaberin ist es immerhin tröstlich zu wissen, woher Richard Wagner sein dem „Parsifal“ zugrundeliegendes Motiv „Redemptio redemptori“ bezogen hat: Erlösung dem Erlöser. Dennoch vermag ich mitnichten Gefallen zu finden an Ihren Vorstellungen von der Liebe. Als antithetische Frau eines thetischen Mannes wäre das Gefühl der Verschmelzung synthetischer Natur? Sowas kann sich nur das synthetische Hirn einer dialektisch umsichschlagenden, ungeliebten und liebesunfähigen Denkmaschine zurechtlegen. Bei all Ihrer Abstraktionswut sollten Sie nicht vergessen, daß auch Sie in der niederen Hürde der Gottesgeschöpfe vom Weibe geboren wurden, das Ihnen die Brust gegeben, das Säuglingsärschlein gesalbt und gepudert hat, Lebenswärme und Sprache gegeben hat.“
„…Und schließlich ist es auch mir erst beschieden, die Beziehungen der Menschen untereinander und im Verhältnis zu Gott als Emanation des absolut Wahren, Vernünftigen im Staat zu sehen, den ich schlechterdings als die Wirklichkeit der sittlichen Idee definiere. Der Staat ist die Realität des Geistes in ihrer Vollendung. In ihm ist die Wirklichkeit des substantiellen Willens, das an und für sich Vernünftige, er ist göttlicher Wille, als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist. Ich sage dies hier an der Universität zu Berlin, der Hauptstadt Preußens als des Staates, welcher in ganz Europa den unabdingbaren Grundsätzen und Forderungen meiner Rechtsphilosophie am ehesten entsprechen mag und solchermaßen…“
„Nachdem Sie unter dem Eindruck der Schlacht von Jena Napoleon als Weltgeist zu Pferde gerühmt haben. Lobpreis von Revolution und Elogen auf einen zwar reformierten, gleichwohl restaurativen Preußischen Staat wußten Sie als widerstreitende Elemente durchaus zu vereinbaren, was von einigem Opportunismus zeugt. Aber immer noch scheinen Sie sich zu weigern, Ihre Ankunft im Elysium zur Kenntnis zu nehmen; immer noch Realitätsverweigerung, wo Sie doch längst mitten im Realissimum weilen? Begreifen Sie endlich: Niemand, ganz zu schweigen von Allerhöchstdemselben, interessiert sich in diesen heiligen Hallen noch für Ihr monomanisch abgespultes, anachronistisches Selbsterlösungsprogramm. Und deshalb erkläre ich diesen Duolog jetzt für beendet. In aeternitas philosophus tacet. Mulier locuta, causa finita! Seien Sie froh, daß ER dem Weltgeist Hegel ein seiner ehemaligen Bedeutung angemessenes Asyl gewährt und ihm ein prominentes Plätzchen innerhalb des zahlreichen Bestands seiner himmlischen Hofnarren zugewiesen hat, die ihm ein wenig Entspannung bieten mögen, wenn er am Feierabend seiner tagtäglichen Erdbeschau immer heftigere Zweifel hegt angesichts seiner aus den Fugen geratenen Schöpfung. Jedenfalls scheinen Sie innerhalb der Schar auferstandener Geister dank der Protektion von ganz oben eine herausragende Stellung einzunehmen. Und da ich solches zu schätzen weiß und Sie ungeachtet meiner harschen Kritik im Vergleich zu mediokren Autoren wie Kotzebue oder Jellinek, nicht zu reden von Minderdichtern wie jenem falschen Sänger Hans-Dieter Eberhardt, ein brillanter Kopf zu sein scheinen, stehe ich nicht an, Ihnen untertänigst einen posthumen Heiratsantrag zu machen. Sie wissen ja: wenn man eine Frau zum Äußersten treibt, heiratet sie sogar einen Philosophen. Das sollte einem 235-Jährigen doch schmeicheln, oder? Als Ehegattin trüge ich den Namen Friederike Maria Göttchen-Hegel, was trotz Diminutiv den Anschein renommierter Verwandtschaft erwecken sollte. Im übrigen verspreche ich hochheilig, während der Ehe trotz unwesentlicher Streitgespräche wider die elysische Langeweile Ihre spekulativen Ambitionen nicht weiter grundsätzlich in Frage zu stellen, Ihnen allwöchentlich die schütteren Haare zu schneiden einschließlich der aus Ihren alten Ohren sprießenden Puschelchen, Fuß- und Fingernägel zu coupieren, Ihnen auf erste Anforderung das absolute Ärschlein zu salben, erwünschtenfalls auch die Brust zu geben. Also, wie wär’s mit uns beiden, mein Allzeitphilosopherl, mein dialektisches Monsterchen, mein absolutes Geisterchen und Meisterchen, mein Göttchen-Hegel, Hegel-Göttchen? Deine künftige Gattin wird Dich nie wieder nach Weiberart unterbrechen und stattdessen in Ewigkeit loben, loben, loben. Du mußt Dich ja nicht gleich entscheiden; Bedenkzeiten können wir hierorts reichlich gewähren, von mir aus auch tausende von Jahren. Im Augenblick jedenfalls schaust Du ein wenig irritiert aus. Und nach Deinem Denkerschläfchen sollten wir zusammen etwas essen. Bei Kant gibt es Klopse, dicke Bohnen und Teltower Rübchen; Rossini hat Tournedos mit Cannelloni auf der Pfanne; in der bayerischen Abteilung lädt Alois Lujasogi-Hingerl zum Mannagulasch ein. Oder wir bleiben zuhause und ich koche Dir eines Deiner Lieblingsgerichte: Himmel und Erde oder Schwäbisches Himmelreich.“
„… Amen“.