Philipp Schaffner

World Incorporated - oder: das Kopftuch

                                               «Wir haben alles ausdefiniert. Schluss!» [Spruch aus dem 21. Jahrhundert]

I.) 
Die Brille sitzt. In der Londoner U-Bahn betrachte ich die Einheiten, meine Mitmenschen, welche sich zur Arbeit begeben. Auch sie tragen eine auf ihrer Nase. Eine Brille. Ausnahmslos alle tragen eine. Denn wir sind Bürger, Weltenbürger von World Incorporated. Bürger, Citizens, einer Welt, die ein Unternehmen geworden ist. Ein Unternehmen, welches den Globus umklammert.

Auf jeder Brille, durch deren dunkle Gläser wir blicken müssen, steht die Personalnummer, die Brutstätte und die Firmenzugehörigkeit. Personen über vierzig gibt es nicht mehr. Sie werden aus funktionellen Gründen eliminiert. Unsere Kinder wachsen in abgeschotteten Brutstätten auf. Ihre Gene werden von Jahr zu Jahr besser. Bald werden wir durch die Gentek das intellektuelle Niveau der neuronalen Netze erreichen, wir Menschen der zweiten Generation.

Die neuronalen Netze, sie leiten uns, sie führen uns. Versteckt, im Hintergrund arbeitend. Auch diese Londoner U-Bahn wird von solch einem Netz kontrolliert und koordiniert. Sie sind es auch, welche die Kinder in regionalen World Incorporated Kindergärten großziehen. Danach geht es an die World Incorporated Universität.

Die U-Bahn hält in Temple. Einige Einheiten, auch Mitmenschen genannt, steigen aus. Ich bleibe. Noch drei Stationen.

II.) 
Öl und Kopftücher gibt es in unserer Welt nicht mehr. Damals, vor vierzig Jahren, da gab es einen großen Knall. In einer Zeit, in der sich die Menschen global gegenseitig die Köpfe einschlugen, haben dann die neuronalen Netze übernommen. Technokraten gegen Totalitäre. Das konnte für die Menschheit der ersten Generation nicht gut gehen. Und wenn zwei sich streiten, dann freut sich der Dritte. Ein altes Sprichwort, nichtsdestotrotz wahr!

Auf das Öl ist heute niemand mehr angewiesen. Die Fahrzeuge funktionieren ausnahmslos mit Ionen-Antrieben. Und ohne Fahrer. Denn die neuronalen Netze steuern und leiten in World Incorporated.

Die U-Bahn hält in Embankment. Noch zwei Stationen, dann muss ich aussteigen. Das zeigt mir meine Brille auf dem Innendisplay an.

PHILIP SCHAFFNER

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III.) 
Mensch und Maschine ergänzen sich gut. Mensch und Maschine entsprechen den aktuellen WISO-Standards; den Standards der «World Incorporated Standard Organization». Schnittstellen zwischen den beiden Lebensformen sind darin genauestens definiert. Aus diesen Definitionen resultieren auch das Corporate Behaviour und die Corporate Language. Letztlich definiert die WISO alle Sub-Bereiche der World Corporate Identity. Auch das Corporate Design von Mensch und Maschine. Und darin, im Corporate Design, finden Kopftücher ganz einfach keinen Platz! Weshalb schießt mir dieses Thema überhaupt durch den Kopf, denke ich, während die U-Bahn geräuschlos und sanft durch die Tunnels gleitet. Da kommt mir in den Sinn, dass ich vor dem Stopp in Embankment über das alte Thema «Öl und Kopftücher» nachdachte. Nun, im erweiterten Sinn ging es also um die produzierten und instrumentalisierten Konflikte zwischen «Ost und West» zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Diese Probleme gibt es auf World Incorporated nicht mehr. Wir haben keine Probleme. Menschliche und technische Einheiten von World Incorporated haben keine Probleme. Wir haben einfach keine. Keine Probleme. Nicht wir. Die wir keine haben.

Die Londoner U-Bahn hält abrupt. Ich denke kurz, was wohl geschähe, wenn doch nicht alles so tadellos klappte in World Incorporated. Hat die Bahn nicht doch etwas zu schlagartig ...? Doch bald fährt sie wieder an, die U-Bahn. Noch eine Station. Dann bin ich da. Die nächste Station ist meine Station. Meine.

IV.) 
Wir sehen alle ähnlich – wenn nicht gar gleich – aus, wir menschlichen Einheiten von World Incorporated. Das ist gut so. Das bringt uns näher. Das macht uns gleicher. Und Gleichheit bedeutet Ausgeglichenheit, Fairness und Gleichbehandlung. Wir alle tragen dasselbe Logo auf unseren Brillen. Es ist das Logo von World Incorporated. Einer monolithischen Markenarchitektur folgend, sieht es überall auf der Welt gleich aus, ist wiedererkennbar und klar ersichtlich. Wichtig aber sind die Werte und Normen, welche hinter dem Logo von World Incorporated stehen. Wenn wir Menschen dieses Symbol der Allmacht erblicken, so schießen uns nun all die erlernten Werte und Normen durch den Kopf, die wir im World Incorporated Kindergarten lernen durften. Und überall, auf jedem Objekt dieses Planeten, finden wir das World Incorporated Logo vor. Jeder einzelne Stein, jeder Baumstamm, jedes Haus, jede Telefonzelle, jeder Bürogummi und Hammer hat an einer definierten Stelle das Logo eingraviert. Unsere Werte sind einfach und einprägsam. Es sind nicht viele. Dafür sind es die einzig richtigen: Freiheit und Gleichheit!

Nein, wir brauchen keine Kopftücher mehr in World Incorporated. Wir haben unsere Brillen. Die funktionieren ganz gut.

Und als die meinige auf ihrem Innendisplay aufblinkt, rutschen meine Augen wie automatisch in die richtige Richtung. Die WISO-normierte Brille sagt «Endstation».