Asye S. Eingemauert. In mir.
„Du hast Wasser verschüttet“, sagte Großmutter. „Und wer unser kostbares Wasser verschüttet, der muss eine gerechte Strafe erfahren.“ Und am anderen Tag dann, wir waren bei der Feldarbeit und die Sonne zeigte sich ohne Erbarmen, wie jetzt fast täglich zu dieser Jahreszeit, und Großmutter verbreitete, wie gewöhnlich, große Furcht unter uns Kindern, mit ihrer gottgegebenen Strenge, mit ihrer schrankenlosen Macht bewachte sie unseren Wassertrog mit einem Ausdruck in ihren Augen, der jeden Gedanken daran, auch nur leicht unsere Lippen befeuchten zu wollen, nur ein Händchen zu füllen, ein paar Tropfen auf die fiebrige Schläfe zu streichen, erstickte, bis ein unachtsamer Moment, allein, um meinen flüchtig benässten Finger, wie mit einer unsichtbaren Kraft, meine Zunge zu führen, mich, plötzlich, einem Blitzschlag gleich, den Stock auf meinem Rücken spüren ließ, den Stock auf meinem Hals und mein Gesicht im heißen Staub spüren ließ, mit einem Schmerz, der erst nach Stunden der Gewohnheit weichen wollte.
Und am Abend dann, als unsere Kraft nicht mehr ausreichte, um zeitig zurückzukehren, fanden wir den Esstisch, den sonst stets karg bestellten Tisch, gesäubert vor und unsere Brotzeit, die einzige an diesem Tag, sicher verriegelt im türhohen Schrank.
„Weil du heute kein gutes Kind warst“, sagte Großmutter, „gehst du nun ohne zu Bett!“
Großmutter! Großmutter war Vaters Stiefmutter und wie das Stiefgroßmütter häufig so tun, das hatte ich gehört in unserem Dorf, behandelte sie die ihr anvertrauten Kinder nicht besser als Arbeitstiere, und es bedurfte nicht viel, nur ein wenig Unordnung, nur ein Fingerchen mit Schmutz, um ihr einen Anlass zu geben, häufig ganz ohne einen Grund für ihr herzloses Herz, Mutter, hörst du, Mutter, der Hunger war es, der lautlose, alle Zeit anwesende, uns unablässig traurig und einsam machende Hunger, der uns die größte Qual war, und der mich am meisten quälte, weil ich die Älteste war, hier, in unserem anatolischen Zuhause, in unserer Erdenhölle, war ich die Älteste, weil Emine, die Älteste ja mit dir, Mutter, und mit Vater nach Deutschland, weit weg von der Armut auf der Reise nach Arbeit, fort, so schnell fort, und wir zurückblieben im Elendshaus, wo warst du nur, Mutter, wo warst du, damals, als Großmutter uns zu den Bahngleisen schickte, jeden Morgen durch den Wald ganz pünktlich um Vier, mit einem Eimer zu den Gleisen, in den wir die noch glühenden Kohlen, abgeschaufelt von der Lock und von uns gesammelt mit bloßen Händen, und zurück dann mit dem Eimer, der fast so groß wie wir, barfuß zurück und mit verbrannter Haut, wo warst du nur Mutter, an dem Tag, als ich mich zum Schlafen legte, nieder auf die Schwelle, aufs kühlende Eisen, dem ich folgte, mit verschlossenen Augen der Schiene entlang, zum Unendlichen folgte über die Schwelle hin zum Nichts, zum Ende aller Tränen, bis die Schreie der Schwestern mich wieder ins Elend zurückholten, zu Großmutter zurück?
Ich bin tot, Mutter, in mir, schon so lange tot. Hast du es nicht gewusst, nicht geahnt, Mutter?
Unser Leben in dem Ort, an dessen Namen Ich mich nicht erinnern will? Ohne Freude, ohne Spiel, hier war die Schule für die Anderen, und das Feld war für uns, für die Schlampen, für die Kinder der Hure, die in Deutschland lebte, schon so lange fort, und für uns blieb nur das Füttern, das Melken, das Graben und Ernten und die Angst als Nahrung für die Nacht, verspottet, geschmäht und mit Steinen beworfen im feindseligen Dorf.
Warum nur Mutter, warum haben unsere Träume uns verlassen, warum hast du uns verlassen?
Erst an dem Tag dann, weißt du noch, als der Brief kam von der Nachbarin: „Wenn du ein Herz hast, komm zurück, ich bitte dich, deine Kinder halb verhungert und geschlagen und weiß nicht, was sonst noch passiert“, an dem Tag dann fuhrst du los, ohne Gepäck in den Zug, und ich sah dich dann plötzlich im Türgang stehen, die Augen weit offen, die Hände im Gesicht, als Großmutter gerade in blutrotem Tosen ihren Stock auf mir zerschlug, und du voller Entsetzen dich über mich gebeugt, und Hals über Kopf dann aus dem Haus mit allen Kindern zur Nachbarin hinüber.
Aber Vater, ja, Vater entschied dann, wenig später nur, alle Kinder zu verteilen in die Stadt nach Kayseri, zu Frauen und Männern ohne Kinderglück, war ich sieben, Mutter, weißt du noch? Alles ging so schnell damals, am Abschiedsmorgen, als ihr wieder fort nach Deutschland für so lange Zeit, und wir dann zu fremden Eltern zum Ausbeuten verdammt. Es war unser Abschied von der Sehnsucht, von der Phantasie und vom Geheimnis des Lebens, wie konntest du nur, Mutter, was hast du getan? Ich bin tot, Mutter, eine lebende Totgeburt, habe keine Wurzel mehr, schon seit so langer Zeit.
„Du hast Seife verschüttet“, sagte die fremde Mutter, „und wenn das noch einmal passiert, dann spürst du die Nadel bis tief unter deine Haut!“ Und ich spürte die Nadel so häufig am Tag, wenn beim Reinigen der Teppiche, beim Bürsten und Klopfen bis spät in die Nacht, die Arme versagten unter der steinschweren Last.
„Und nun wisch noch den Boden, du kleines Stück Dreck, sonst sperr ich deine Mahlzeit weg!“ Hörst du nicht, Mutter, den allabendlichen Nachtgesang? Wann kommst du, Mutter, was habe ich getan, wann holst du mich ab?
Nach zwei Jahren im Haus mit Schlägen und Tritten und Erniedrigung, ohne Bildung, ohne Wärme und ohne Echo in mir. Warum nur hält das Leben so viel Hässliches für mich bereit, wozu, Mutter, wozu lebe ich?
Nach zwei Jahren dann sah ich dich plötzlich im Türgang stehen, mit herabhängenden Armen von ausgemergelter Gestalt, suchte dein Gesicht wie einen auf dem Grund eines Teiches, suchte deine Augen und das Wesen dahinter, das erklärt und verändert, deinen Mund, der Gnade spricht, der Mitleid flüstert, bitte, Mutter, nimm mich mit, leg einen Blumenkranz um meine Fieberstirn und führe mich hinaus, mit duftendem Schmerz hinaus in die Gegenwart, wo meine fröstelnde Seele den Boden deiner Güte leckt; wo meine bleierne Traurigkeit zum Schöpfbrunnen deiner Zärtlichkeit wird, ich weiß nicht mehr, ob ich auf der Erde bin, Mutter, was wird aus mir, was wird aus mir?
Und dann, dann suchtest du meine Hand, und ich bettete sie hinein mit festem Vertrauen in deinen entschlossenen Griff, der mich hinausführte ans wärmende Licht, ins blendende Leben.
„Jetzt, Kinder, jetzt bleibt ihr bei mir!“, und jetzt nahmst du mich mit, Mutter, weißt du noch, zu den anderen Kindern zunächst, und in geteilter Freude und gemeinsam dann nach Deutschland, ins glänzende Land, hinein in den Zug, über Ankara, Istanbul, Wien, vorbei an erhabenen Bergen und mächtigen Wassern, doch ich, ich hatte nur Augen für dich, Mutter, mein Leben, mein Blut, meine Luft zum Atmen, in diesem Zug Richtung Abendland, durch endlose Tunnel und verborgene Gedanken bis endlich nach Aachen in die große deutsche Stadt, wo du wohntest, alleine, weil du Vater nicht verzeihen konntest, dass er uns Kinder zu fremden Eltern gegeben, und weil Vater mit einer anderen Frau lebte, bei der auch Emine lebte, darum wohntest du alleine und hattest Raum für uns Kinder in deiner Wohnung in der Stadt, ganz in der Nähe vom alten Rathaus, wo wir spielten auf dem großen Platz.
Ob ich jemals einen glücklichen Moment hatte? Ich weiß es nicht. Vielleicht in dieser Stunde, dort, im Mondlicht auf dem großen Platz, ich kann mich nicht erinnern, weiß es einfach nicht, drehe mich im Kreis und der Mond bescheint meine Erregung, im trägen Strudel aus Gefühlen und Gedanken, im Einsturz meiner Phantasie, ich kann mich nicht erinnern, weiß es einfach nicht.
Aber dann, an einem frühen Morgen, ich weiß es noch genau, kam Vater, das erstemal nach so langer Zeit, das erstemal und mit Zorn in seinem Gesicht, sprach er nur zu dir, Mutter, und uns Kinder sah er nicht, und nach kurzer Zeit schon hörten wir ihn schreien, hörten wir ihn schlagen, hörten dein Klagen und Wimmern und verstanden kein Wort, kein einziges Wort, und stürzten ins Zimmer bis dicht vor Vaters Faust, bis nah an dein Gesicht, dein blutendes Gesicht, „So lass doch, Vater, so geh doch wieder fort, so geh doch wieder fort!“
„Ab jetzt bleibt ihr im Haus“, sagte Mutter, „für eine lange Zeit!“, als Vater dann wieder fort war, „und wenn ich zur Arbeit gehe, dann verriegelt die Tür!“
Ja, Mutter, wir verriegelten die Tür und gaben acht, doch an dem Tag, du weißt schon, als Vater mich holte, da bot sie keinen Schutz vor seiner entfesselten Gewalt, als er mich zu sich holte ins Stolberger Land, wo er wohnte mit Phroso, einer griechischen Frau, und mit Emine, der geliebten Schwester, die ich so lange nicht gesehen und deren Tränen ich küsste, als sie erzählte vom einsamen Leben, getrennt von uns Anderen unterm Druck der fremden Frau, ... „behandelt sie mich“, sagte Emine, „wie das Stiefmütter häufig so tun, gut genug fürs Kochen, Nähen, Putzen und Kriechen, und behandelte mich, Mutter, wie einen Hund an der Kette, wie ein aussätziges Tier, „und nun wisch noch den Boden; du kleines Stück Dreck, sonst sperr ich deine Mahlzeit weg!“, hörst du nicht, Mutter, das Jammergeläut, ohne Liebe, ohne Wärme, ohne Chance ein Mensch zu werden, wann hört das endlich auf, wann holst du uns hier fort?
Nach zwei Jahren dann endlich, erhieltst du das Recht für alle Kinder, durftest allein für uns sorgen, mit Wohnen und Schlafen und gemeinsamem Spiel und ohne Angst vor Vater, der nun stillhielt, der nun Ruhe gab für eine lange Zeit, für unsere Zeit der Hoffnung auf ein Leben nur mit dir, Mutter, du bist jetzt da, und du gehst nicht mehr weg, für unsere Zeit des Ausruhens, des Ankommens, des Heilens und des Aufkeimens einer Freude, geliebt zu werden, und für meine Zeit der Schule, in die ich nun mit zwölf zum erstenmal, lernte ich Schreiben und Lesen und mich zu entfalten, Gedanken und Gefühle und Träume vom Dasein ohne Kindsein, ... bis zu jenem Tag, dann, jenem Tag, als Besuch kam, Mutter, weißt du noch, völlig unerwartet, irgendwoher, sechs Männer in unserer Wohnung mit finsteren Gesichtern, austauschbar, nahmen sie Platz am großen Tisch und saßen, zwei, vielleicht drei Stunden dort, regungslos, keine Gestik, ohne Mimik nahezu, ohne jegliche Neigung, freundlich zu sein, bis einer von ihnen mit einer kurzen, deutlichen Bewegung mich hinauswies aus dem Zimmer und „mach bitte Tee!“, und dann, dann hörte ich dich reden, und du hörtest ihnen zu, als sie sprachen mit leisen Stimmen, sehr geheimnisvoll, als ging's um mich, Mutter, als ging's um mein Leben, damals, servierte ich den Tee unterm Eindruck des Schweigens, wiederum, und niemand war darunter, der mich ansah, meinen Blick fand, meinen misstrauischen, ängstlichen, fragenden Blick, „was ist, Mutter, wo sind ihre Frauen, wo sind ihre Kinder, warum kommen sie alleine, was wollen sie von uns?“
„Schweig!“, war deine Antwort aus trockenem Mund, „schweig, Tochter!, und beruhige deine Gedanken, nur keine Sorge, gleich werden sie gehen. Aber bald, bald kommen sie wieder, und dann werden wir sehen.“
Und sie kamen bald wieder, in Begleitung ihrer Frauen und ihrer Kinder dieses Mal und brachten Geschenke, Kleider, Schuhe und einen Armreif aus Silber, „und wenn du ihn zum Mann nimmst,“ so waren deine Worte, so unvorstellbar, Mutter, „und wenn du ihn zum Mann nimmst, den jüngsten der Brüder, dann bringen sie dir Münzen aus allerfeinstem Gold.“
„Mutter, meine Mutter, was du redest, ich kann's nicht glauben, bin ich fünfzehn, hörst du, so kurz vorm Leben und will lernen, mich bilden und mit eigenen Füßen gehen und nichts weiter sonst, allein das ist mein Wunsch.“
„Man schimpft mich Hure, hörst du, Asye, deine Mutter eine Hure, für ein Leben ohne Mann, bin ich wertlos, so wie ich bin, und wenn du Verstand hast und mich lieb hast, dann gib ihm dein Wort!“
„Ich denke nicht an Heirat!“, sprach ich wie zu einer Wand, „nicht ohne Liebe, nicht unter Druck, nicht für mein Leben, will ich ihn zum Mann!“
Und dann, Mutter, wo warst du, als er dastand, einen Ring in seiner Hand, und ich vernahm seine Worte, im Schwindel und Taumel und mit zittrigem Leib, Worte wie Schwefel aus einem brennendem Hals, niemals zu vergessen bis zum allerletzten Tag:
„Ich aber will dich, du kleines Stück Dreck, und willst du nicht folgen, dann hol' ich dich weg!“ Weg! Weg von hier! Weg aus der Wohnung, fort von der Stadt, mit Bestürzung, mit panischer Eile Richtung süddeutsches Land, in Hoffnung auf Abstand von erdrückenden Bräuchen, würgenden Zwängen und bedrohlicher Macht, zu Onkel und Tante, wo ich Unterkunft fand.
Aber schon nach Tagen, nach wenigen Tagen nur, sah ich sie morgens im Türgang stehen, mit finsteren Gesichtern und den Mund voll Besorgnis sprachen sie zum Onkel, Mutter sei erkrankt, es handele sich um einen Notfall und sie brauche meine Hilfe, sie wolle mich sehen, ... mich sehen, Mutter, wolle mich sehen, was ist, Mutter, was ist mit dir geschehen, was haben sie dir ..., was soll ich nun tun, was glauben, Mutter, willst mich sehen, was soll ich ... im Moment der Entscheidung, wenn das Blut schlägt im Kopf, unter der Schädeldecke bis zum Platzen, und die Verzweiflung den Leib lähmt bis zur Ohnmacht, und die Angst die Sinne raubt, ... hörte ich, von ganz weit her, Onkels Stimme, hörst du denn nicht, Asye, wir haben keine Wahl, wenn sie uns braucht, deine Mutter, dann machen wir uns auf den Weg, also nimm deine Sachen und zögere nicht!
Und so nahm ich meine Sachen, hilflos, mit verwirrtem Kopf und schlich mich vorbei, gedrückt und gedrungen, an den Unheilsboten, die mir folgten, bis zur Tür von Onkels Wagen und acht gaben, dass ich Platz nahm neben Tantes Platz.
Die Fahrt schien endlos, bis hinein ins Dämmerlicht, nach schläfrigen Stunden im Schutz von Tantes Schoß, bis zum Schwerwerden der Glieder im monotonen Geräusch, bis zum Einswerden unserer Körper, wohltuend in der Wärme, und Hineingleiten in ein Niemandsland aus Gefühlen und Gedanken und Einatmen und Ausatmen und Leichtwerden bis zu einem Anflug von Schweben, von Sein ohne Dasein, ohne Grund, ohne Ahnung einer Welt, wie sie ist, wie sie wirkt und wie sie lebt im vollständigen Verdrängen einer Gefahr, der trügerischen Gefahr im Geleit unseres Fahrzeugs, der hinterhältigen Bedrohung in Gestalt von sechs Männern, die, kurz vor unserer Ankunft und von einem Blick auf den anderen, unseren Wagen bedrängten bis ganz an den Rand, brutal bis zum Stillstand und zielstrebig dann und mit einem Ruck unsere Türen öffneten im Scheinwerferlicht, und alles, alles ging so schnell und ohne sich zu besinnen ... „wollen wir nur das Mädchen, alter Mann, sie gehört jetzt zu uns!“ „Asye, niemals, niemals gebe ich Asye in eure schmutzigen Hände!, sie ist unter meinem Schutz, ehrloses Gelump!, vorher müsst ihr mich töten!“
„Forderst es heraus, du törichter Greis, du wirst es gleich spüren!“, und zerrte ihn am Kragen heraus auf den Boden, und schlug ihn, mit einem dumpfen Schlag und völlig ohne Skrupel, mit dem Griff einer Pistole von hinten in den Dreck.
Und dann, ganz tief aus Entsetzen, aus abgrundtiefer Furcht, Tantes Aufschrei um Hilfe, um gnädiges Erbarmen bis hin zu einem Wimmen in tiefster Verzweiflung, bis zum plötzlichen Verstummen unter der Hand ihres Bewachers mit rohem Gesicht.
„Und nun heraus, du kleines Stück Mist, gleich werden wir dir zeigen, was du ohne uns bist!“, und ergreift mein Haar wie den Strick eines Galgens und zerrt den Zopf, meinen knielangen Zopf, bis zum Platzen der Schläfen, bis zum Entleeren der Blase unterm stechenden Schmerz, heraus aus dem Wagen mit dem Rücken auf Asphalt, entblößte Füße, die über Steinspitzen schleifen, zerrt er meinen Körper wie ein Opferlamm zum Schächten, mit blutenden Fersen, zerschnittenen Beinen durch Dreck und durch Schlamm bis zum Wagen hinüber, wo er wartet, der mit dem Ring, „der ist für dich, kleine Schlampe, und hier noch ein Geschenk!“, und zerreißt mein Kleid bis zum Gipfel aller Scham, zerreißt meine Würde wie einen Fetzen Papier, zwei halten die Beine, meine blutbeschmierten Beine, und zwei meine Arme, ein anderer am Kopf mit knebelndem Griff, und dann sticht er den Schmerz bis tief in meinen Leib, bis tief in mein Ich, „für dich, für dich, für dich!“, unterm Keuchen und Schwitzen, und was ist mit meinen Beinen, warum schmerzen sie so, und so viel Blut an den Füßen, den zerschnittenen Füßen, zerschnitten wie mein Leben, meine Reste von Leben, ein viergeteilter Mensch, „eine Hure, beschmutzt und entehrt, und jetzt kannst du gehen, jetzt kannst du sehen, wer dich nimmt, wer dich will, jetzt gehörst du zu uns, zu unserer Ehre!“
Und ich wollte gehen, Mutter, irgendwohin, hörst du, gehen und mich niederlegen, einfach niederlegen, tot, ich bin tot, Mutter, in mir, schon so lange tot, eingemauert, in mir, hörst du, wollte gehen, und konnte nicht gehen, konnte nicht, und fand mich, wenig später nur, ohne Kraft, völlig ohne Mut, im Wagen der Folterer Richtung belgisches Land, Richtung Grenze bis zur Schranke, wo einer dann in Uniform ganz nah vor die Scheibe trat, „und wo wollen Sie denn hin mit der jungen Frau, so ganz früh am Morgen ..., ja dann steigen Sie mal aus, und dann kommen Sie mal mit ...!, direkt ins Gefängnis, auf direktem Weg, weil Onkel, guter Onkel, gute Tante sofort zur Polizei, ... “eine Entführung, wenn Sie verstehen, ja, minderjährig, mit sechs Männern mit Pistole und finsteren Gesichtern, bitte helfen Sie!“
Und dann, dann brachten sie mich heim, nach vergeblichen Fragen, Untersuchungen, mit zerrissenem Kleid, mit zerrissener Seele, heim ins Schweigen, von dir, Mutter, und von mir, nichts als Schweigen in abgrundtiefer Scham, doch wo waren deine Tränen, Mutter, wo war dein Mitgefühl?
Schon nach Tagen nur, nach wenigen Tagen, ließt du sie in unsere Wohnung, die Geschwister und Gebrüder meines Peinigers, meines Schänders, und sie beschworen dich und bedrückten und bedrohten dich, jede Woche, sieben Monate „sie gehört jetzt zu uns, und zustimmen muss sie, die Ehe ist die halbe Religion, sie beschmutzt unsere Ehre, es ist unser Recht, sie gehört jetzt uns, und wenn sie nicht zustimmt, dann fürchte um ihr Leben, auch deiner anderen Kinder, das verlangt unser Recht!“
Und du, Mutter, hast mich bekniet, bearbeitet, bis zu meinem Jawort, ohne zu wissen, was ich tat, damit man sie freiließ, die Verbrecher, und alle waren wieder frei und kamen zu Besuch, mit ihren Frauen und Kindern und ohne Gewissen, als wäre nie etwas geschehen, als wären wir uns nie zuvor begegnet, saß er dann da am großen Tisch, vollkommen gleichgültig, schien ihn nichts zu berühren, und ich konnte nichts begreifen, außer Ekel und Abscheu, den trag ich durch mein Leben, Mutter, hast du das gewusst?, wollte niemanden sehen, „will niemanden sehen, niemals mehr sehen, niemals mehr leiden!“, „doch du musst da jetzt reingehen, das musst du jetzt tun,“ sagtest du, Mutter, „was verlangst du von mir, wo ist meine Entscheidung, bin ich nichts mehr, bin ich Dreck, was machst du mit mir, was mache ich jetzt nur?, ich bin tot, Mutter, hingerichtet, habe nichts mehr!“, „doch es gibt keinen Weg, Tochter, keinen anderen Weg, das ist jetzt dein Leben, das erwarte ich von dir, und wenn du nicht zusagst, dann werde ich dich verfluchen, auf meinem Sterbebett verfluchen!“
... verfluchen, dein Fluch, Mutter, wie ein Schlag ins Gesicht, wie ein Tritt in den Leib, bis tief in meine Seele, eingeschlossene Seele, spürte ich den Druck, den unermesslichen Druck, und ging hinein, Mutter, zu den Entführern, zu den Züchtigern und Vergewaltigern meines unreifen Lebens, weil du es so wolltest, Mutter, und „weil ihr es so wollt, dass ich ihn zum Mann nehme, ihn, der mein Glück von mir nimmt, und so nehme ich ihn dann, und nehme ihn mit Hass, ohne jemals zu verzeihen, und erst, wenn er tot ist, kann ich wieder leben!“
Leben!, Mutter, und so lebte ich dann, mit verstecktem Leid, mit unterdrücktem Schmerz, von Nacht zu Nacht aufs Schlimmste zu, auf die Nacht nach der Hochzeit nach einem wortlosem Fest, auf den Beweis seiner Unschuld vor versammelten Gästen, ein Laken mit Blut, mit meinem jungfräulichen Blut, vergossen und verschmiert auf der Rückbank seines Wagens am schuldigen Tag.
„Sie werden es nicht merken,“ sagte er vollends ohne Scham, „denn ich weiß, wie man es macht!“, und unternahm den Versuch, einem Handstreich gleich, seine Tat zu verwischen, als wäre sie niemals geschehen.
„So will ich nicht leben!“, schrie ich aus vollem Entsetzen, „beschmutzt, entehrt und als Lügnerin geheißen!, so kann ich nicht leben!“, und lief hinaus auf die Straße in die sternenlose Nacht, hinein in den Nebel bis zum Ende der Stadt, bis zur völligen Erschöpfung und will nicht mehr atmen, das Atmen tut so weh, wozu soll ich atmen, Mutter, das Leben tut so weh, hörst du, Mutter?, warum nur hast du mich geboren, warum hast du nicht gesagt, ich bin bei dir, Asye, er kann dir nichts tun?, dieser Mann, der mich nun holte, zum gemeinsamen Leben, „du gehörst jetzt mir, und du bist Teil meiner Ehre, und wenn du fortgehst, dann fürchte um dein Leben und das deiner Schwestern!“, sagte dieser Mann, der mich nun holte, zum gemeinsamen Leben, voller Schläge und Tritte und Demütigung, „du hast Tee verschüttet, du kleines Stück Dreck, und wer kostbaren Tee verschüttet, der muss eine gerechte Strafe erhalten!“, und schlug zu, bis zur Entstellung meines Gesichts, bis zum Ausbruch meiner Zähne, schlug er und schlug, und ich spürte es nicht, weil meine Seele nicht mehr dort war, spürte ich keinen Schmerz im stillen Gebet, Oh Gott, gib mir Kraft, warum kann ich nicht töten?!
Im selben Jahr dann, Mutter, gebar ich Afer, geliebte Afer, meinen Engel, der mich heilte, der mich brauchte, mein Grund, zu atmen, einzuatmen und zu pressen und pressen und auszuatmen, sehr heftig. Sehr blutig, so viel Blut an meinen Beinen, und niemand, der meine Hand hielt, ich bin bei dir Asye, du schaffst es, nur ein letztes Mal noch pressen, und ein kleinwenig Geduld und einatmen und ausatmen bis zur völligen Entkräftung, bis zum Schrei durch mein Herz, Ja, du sollst leben, kleine Afer, und ich will für dich da sein, und ich will für dich sorgen!
WOLFGANG VINCKE
seite 11
Denn er, Mutter, der Vater des Kindes, er sorgte sich nicht, nicht einen einzigen, gottgefälligen Tag. Weil er ein kranker Mann sei, sagte er kalt in mein Gesicht, weil er nicht gesund sei, arbeite er nicht!
Und von früh am Morgen bis spät in den Abend und ohne eine Wahl, übergab ich mein Kind in die Obhut des Versagers, bis zu dem Tag dann, Mutter, jenem Tag, als ich heimkam von der Schicht, und in froher Erwartung in ihr Zimmer trat zum abendlichen Gebet, und sah in ihr Bettchen und fand sie dort nicht, meine Kleine, wo bist du, was ist mit dir geschehen?, und lief kopflos durch die Wohnung in tiefster Verzweiflung, und stürzte in sein Zimmer, wo er da lag, schlafend und sorglos, und panisch und ohne zu zögern schlug ich, mit beiden Fäusten, in sein trunkenes Gesicht ... nun sag schon, was ist, wo ist das Kind!? „Ich weiß nicht, was weiß ich, ich bin krank und kümmere mich nicht!“, und eilte hinüber mit rasendem Puls zu den Nachbarn hinüber, „wo ist Afer, meine Kleine, habt ihr sie gesehen?“
„Keine Sorge, Asye, nichts ist geschehen, die Kleine ist bei uns, seit wir sie holten schon vor Stunden, weinend und wimmernd und allein aus der Wohnung, weil er, der Vater, außer Hause ging, sich nicht '..., kümmerte, als wär's nicht sein Blut.“
Oh, Gott, gib mir Kraft und gib mir Geduld, nur ein wenig Geduld, um mein Schicksal zu tragen, bis ans Ende, nur wie, wie soll ich leben mit dem Mann, was ist das für ein Mensch?!
Ich suche den Grund, Gott, für meinen Stoß in die Hölle, wo sind meine Fehler, warum liebst du mich nicht?, warum liebt mich niemand?, niemand, der mich je geliebt, eine Ausgeschiedene, mir tut alles weh, Mutter, warum hast du mich allein gelassen?, mir tut alles weh, wenn ich an ihn denke, wenn ich ihn sehe, schmerzt mein Hass im ganzen Leib, wie soll ich trinken, essen, atmen, alles tut mir weh, warum tötest du mich nicht?!, warum töte ich mich nicht?!, mit einem Strick um einen Ast im nahen Wald, um meinen Hals, Oh, Gott, gib mir Kraft, und mich fallen lassen, dann, mit geschlossenen Augen und nicht mehr zurückblicken jetzt, nie mehr nach vorne in mein Leid, nur fallen lassen und zurücklassen, alles wie es ist, bis der Knoten sich zieht und nicht mehr atmen dann, das Atmen tut so weh, niemand wird es merken, niemand mich vermissen, nicht mehr da sein!, einfach nicht mehr leiden, nicht mehr leben, nicht mehr atmen, fallen lassen, jetzt, und niemand, der mich hört, meinen Schrei, in mir, in meinem Kopf: häng dich auf, erlöse dich!, meinen Schrei in meinem Herzen: atme, Asye, atme für dein Kind!, oh, Gott, was kann ich tun?, was soll ich nur tun?, ich weiß es nicht, weiß es nicht, gib mir Hilfe, gib mir Kraft, was soll ich tun?, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!