Maria del Carmen González Gamarra

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Frauen ohne Brunnen


                                                                       Für meine Schwester Montserrat Gonzalez Gamarra
Wasser gab es kaum in dem kleinen Dorf, das so alt war, wie die Entdeckung del Nuevo Mundo. Denn das Dorf wurde gerade wegen der Neuen Welt 1492 gegründet. Von hier bekam Colón, wie er dort genannt wurde, das Mandat, die Neue Welt zu erobern im Namen des Heiligen Glaubens. Und so wurde das kleine Dorf auch getauft: Santa Fé.
   Als die Mutter noch klein war, hatten nur sehr wenige Häuser im Dorf Wasser, wenn sie einen Brunnen im patio besaßen. Der Rest der Dorfbevölkerung musste dann um Wasser bitten und betteln gehen. So hatten die Frauen des Dorfes seit Jahrzehnten gelernt, sich mit der einen oder anderen Brunnenfrau aus der Straße. in der sie lebten, gut zu stellen und bei ihr Wasser mit alten Aluminiumeimern holen zu dürfen. Mindestens einmal am Tag mit je einem Eimer rechts und links an der Hand, um das Gieichgewicht nicht zu verlieren, wie die Mutter sagte, zogen die Frauen ohne Brunnen durch die staubigen Dorfstraßen entweder quer über die Straße zum nächsten Haus mit einem Brunnen oder schräg über die Straße entweder nach links oder rechts ein paar Meter weiter bis zur nächsten Haustür einer Brunnenfrau. An der Haustür angekommen, tauschten beide Frauen einige freundliche Worte aus, so dass die eine Frau die andere stets freundlich empfing, wenn diese Wasser holte; dann ging die Frau ohne Brunnen direkt durch das Haus, ohne sich in den Räumen umzusehen.. denn das galt als unhöflich. durch die sala zum patio, wo der Brunnen stand. Beide Frauen waren sich der Macht des Wassers bewusst.
   Entstand irgendwann einmal eine unvemieidliche Auseinandersetzung zwischen beiden Frauen, zum Beispiel, wenn eine Frau ohne Brunnen unbedingt zu einer Tageszeit Wasser holen musste, weil ein Kind krank geworden war oder sich ein ähnliches Geschehnis ercignet hatte, und die Brunnenfrau gerade Siesta machte oder sie das Haus geputzt hatte und der Steinboden noch nass war, dann konnte es vorkommen, dass die Brunnenfreundschaft zerbrach und die Frau ohne Brunnen sich eine neue Brunnenfrau in der Nähe ihres Häuschens suchen musste. Diese Suche war oft schwer. Denn schnell ging die Meldung unter der Hand von Brunnenfrau zu Brunnenfrau durch die Straße, dass die eine Frau ohne Brunnen nicht so taktvoll sei, wie von ihr erwartet wird und nicht weiß, wann es
angebracht ist, Wasser zu holen oder es zu unterlassen. Die nächste Brunnenfrau hörte dann oft von der vorangegangenen Brunnenfrau, sie soll bloß aufpassen, wenn die taktlose Frau ohne Brunnen kommt und fragt. ob sie bei ihr Wasser holen darf. Aber solche Ereignisse kamen zum Glück nicht all zu oft vor. Frauen ohne Brunnen blieben lange bei Brunnenfrauen. Manchmal sogar ein Leben lang. Einige von ihnen wurden sogar richtige Freundinnen. Und manche fühlten sich über Jahrzehnte sogar wie Schwestern. besonders dann. wenn ihre Kinder in die gleiche Dorfschule gingen, miteinander auf
der Straße spielten und die Frauen sich vorn Geschrei der Kindern genervt fühlten, was sie fast alle verband. Dann tauschten sie auch jeden Gedanken miteinander aus. Denn die meisten Dorfehemänner waren selten zu einem Gespräch mit den Frauen bereit. Männer zogen morgens früh los, wenn der Hahn krähte und kamen abends nach Sonnenuntergang zurück. Dann erwartete sie Ruhe, und ein Eimer mit frischem Wasser musste bereit stehen, damit sie mit beiden Händen Wasser trinken und den Rest zum Waschen verwenden konnten.
   Auch die Mutter hatte keinen Brunnen. Das Haus war alt und es gehörte nicht ihrer Familie. Das ihrige musste der große Bruder verkaufen vor Jahren, nachdem zuerst ihre Mutter und dann der Vater gestorben war und er die Versorgung der kleinen Kinder sichern musste. Damals zogen sie in ein winziges Häuschen mit zwei Zimmern, je einem rechts und links von der Küche, in die der Eingang von der Straße direkt ging.
   Die Mutter hatte, seit sie ein Mädchen war und in diesem Haus lebte, gelernt, zur Nachbarin zu gehen, die über die Straße ihr Haus hatte und einen Brunnen besaß. Mutter hatte sich auch stets bemüht, nur zur bestimmten Zeit Wasser zu holen, wenn sie genau wusste, die Encarna hat noch nicht den Fußboden geputzt und sie ist nicht wütend, wenn einige Tropfen Wasser aus dem Eimer überschwappen. Auch dann, als Mutter eine erwachsene Frau war, behielt sie diesen Rhythmus und die Behutsamkeit bei. Doch es kam immer wieder vor, dass Wasser aus den Eimern überschwappte. Denn das konnte die Mutter wirklich nicht verhindern. Egal wie sehr sie sich bemühte. Sie hatte sogar eine Zeitlang die Eimer nur zweidrittelvoll mit Wasser gefüllt. Das war vor vielen Jahren. Aber nachdem sie sah, dass sie auch so einige Tropfen verlor, versuchte sie es einmal sogar nur mit einem halbvollen Eimer. Doch mit Tränen in den Augen musste sie feststellen, dass ihr ganzes Bemühen umsonst war. Immer wieder fielen wertvolle Wassertropfen auf dem
Steinboden, der über Jahre von den Wassertransporten der Frauen ohne Brunnen Tropfendruckstellen zeigte.
   Dennoch schmerzte es die Mutter immer wieder am meisten, wenn sie vom Brunnen kam,
durch das Haus der Brunnenfrau lief, an der Haustür hielt, sich umdrehte und dabei wieder
feststellen musste, dass sie einen Tropfenweg hinter sich gelassen hatte. Mit den Jahren hatte sie den Wunsch aufgegeben, jemals diesen Weg hinter sich zu lassen, ohne einen Wassertropfen verschüttet zu haben.
   Es kam selten vor, dass Mutter zu einer unpassenden Zeit zu Encarna ging und fragte, ob sie ausnahmsweise einmal Wasser holen kann. Bereits die Vorstellung zu bitten verursachte ihr ein körperliches Unbehagen. Sie schämte sich. Sprach es aber nie in ihrem Leben aus. An dem Tag, an dem sie mehr als zwei Eimer Wasser holen musste, war sie wütend. Schrie auch die Mädchen ungerechtfertigt an. War den ganzen Tag schlecht gelaunt. Manchmal versuchte die Mutter, wenn sie mehr als zwei Eimer benötigte, was sie, wenn es vorkam, nie im Voraus sagen konnte, zu einer anderen Brunnenfrau zu gehen. Dann erzählte sie, die Encarna sei einkaufen, und hoffte beim Lügen nicht erwischt zu werden. Denn das war genauso beschämend. Dann musste die Mutter zu solchen Zeiten Wasser holen gehen, wo sie genau wusste, dass Encarna wirklich an diesem Wochentag und zu dieser Zeit einkaufen ging und auch die andere Brunnenfrau dies wusste. Beide Frauen sprachen dann miteinander an der Haustür, während die Frau ohne Brunnen, mit dem Blick zum Boden gerichtet, redete und dafür sorgte, dass sich kein langes Gespräch entwickelte. Auch die Mutter ging
so vor. Und solange die Mutter in diesem Häuschen lebte, schämte sie sich, um Wasser zu bitten. Eine neue Nachbarin für zwei Eimer Wasser zu finden, eine neue Brunnenfrau aufzusuchen, nachdem sie gerade die erste Brunnenfrau besucht hatte, war nicht leicht, denn die zweite Brunnenfrau hatte vielleicht den Boden gerade gewischt oder sie wollte trotz mehrmaligem Klopfen an der Haustür nicht öffnen, auch wenn Mutter das Klappern von Geschirr aus der Küche vernahm. In diesem Moment wäre sie am liebsten in den Boden vor dem Brunnenhaus versunken, erzählte sie später als alte Frau im eigenen Haus. Zum Glück war es ihr in 30 Jahren gelungen, ein eigenes Haus zu erwerben mit drei Wasserquellen, betonte die Mutter, eine im Bad, in der Küche und im patio, um die Blumen zu gießen. Doch solange die Mutter im Häuschen lebte während der 30 Jahre Sparen für das Haus mit den drei Wasserquellen, war sie schlecht gelaunt und zu den zwei Mädchen oft ungerecht, wenn sie zusätzliches Wasser zum Waschen oder Putzen benötigte. Denn die zwei Eimer Wasser deckten nur den täglichen Wasserbedarf der Familie zum Kochen oder Trinken ab. Danach war das ganze Wasser verbraucht. Manchmal habe ich geweint, erzählt die Mutter noch heute, wenn sie irgendeinen von ihren Wasserhähnen aufdrehte. Ich musste hin
und her betteln. Obwohl ich nicht wollte. Aber woher sollte das Wasser kommen, wenn ich nicht betteln ging?, fragt sie auf den Wasserstrahl schauend. Du weißt gar nicht, was das ist, sagt sie nachdenklich zur Tochter, zu bitten und zu betteln um Wasser.
   Als die Mutter das Land verließ auf der Suche nach der Verwirklichung des Traums mit den drei Wasserquellen, sah die Tochter das Meer zum ersten Mal. Links neben ihr, als sie im Bus saß, tauchte plötzlich das Meer hinter einem kleinen Sandhügel auf. Jahre lang glaubte die Tochter seitdem, das Meer kommt immer hinter einem unbedeutenden Hügel hervor. Sie fuhren lange davor durch ein weites Land bis unerwartet, einfach hinter einem belanglosen Hügel, plötzlich das Meer auftauchte. Da war es. Das Wasser - in seiner Grenzenlosigkeit. Während Mutter wegen weniger Tropfen Wasser auf einem fremden Steinboden irgendeiner Nachbarin Tränen vergoss. Nun stilles, blaues Wasser! Wohin ihre Augen reichten, dehnte sich die horizontale Wasserfläche vor ihrem Blick. Und je näher der Bus an dem Hügel, dann dem Strand und der steinigen Küste entlang fuhr, desto lebendiger wurde das Meerwasser, das mittlerweile weiß an der Oberfläche und schaumig an der Wellenspitze war. Als dann der Bus kurz anhielt, sagte der Busfahrer, Schaut Euch genau das Meer an, und er zeigte mit seiner rechten Hand hin zur unendlichen blauen Weite.
  Dann fügte er hinzu: Denn viele von Euch wissen gar nicht, ob sie diesen Anblick jemals
wieder vor Augen haben werden. Die Tochter verstand es nicht. Sie sah nur die Tränen der
Mutter in den Augen, die sie auch nicht verstand.
   Erst viele Jahre später begriff sie, als sie plötzlich wieder das tiefblaue Meer, wie vor Jahrzehnten, hinter einen Berg hervorblicken sah, was der Busfahrer damals gesagt hatte und auch die rollenden Tränen der Mutter über ihre Wangen. Auf dem Meer schien die Sonne und sie konnte sehen, wie die Strahlen das blaue Wasser durchdrangen und jeden metallicblauen
Wassertropfen in einen Wärmestrahl einhüllten. Wie eine persönliche Einladung nahm sie den plötzlichen Anblick des kobaltblauen Wassers, das hinter einem unscheinbaren Hügel aufgetaucht war, entgegen. Sie rannte mit Herzklopfen zum bläulichen Wasser, fühlte erst den weichen, warmen Sand unter den nackten Fußsohlen. Dann den mit Meerwasser durchtränkten Strand. Die ersten kleinen Ausläufer einer hellblauen Wasserwelle hatten ihre Zehen erreicht. Kleine babyblaue Wellen umspülten ihre Haut. Sie machte einen Schritt weiter hinaus zum Meer. Der graue Wellenschaum klatschte jetzt gegen den Fußkamm und fiel genauso sanft wieder vom Fuß, wie er hochgespült worden war. Einen Schritt ging sie weiter und noch einen, so dass sie bis zu den Knöcheln im Meerwasser stand. Unter ihren Füßen wurde der Sand von einer zurückgehenden weißen Welle in das weite Meer mitgenommen und dieser sog sie an ihren Füßen zur Tiefe des dunkelblauen Meeres. Eine unbegreifliche tiefblaue Wassermenge lag vor ihr, ging es ihr durch den Kopf, während sie an die vor Jahrzehnten verlorenen glasklaren Wassertropfen der Mutter in einem fremden Haus dachte, die immer zu Tränentropfen bei der Mutter geführt hatten.
   Schritt für Schritt ging sie immer weiter in das lauwarme Meer hinein. Die Wellen schlugen bereits leicht an die Waden und das silberblaue Wasser reichte schon bis zu den Knien. Sie spürte, wie das himmelblaue Wasser mit den Beinhärchen spielte. Ein Hin- und Herschwingen. Dann fühlte sie den Boden unter ihren Füßen sich bewegen, und wie das dunkel werdende Wasser sie immer tiefer in das Meer hineinzog. Bis an die Oberschenkel war das Wasser mit jedem weiteren Schritt hin zum Horizont gestiegen. Kleine Muscheln und Steinchen wurden mit leichtem Wasser über den Fuß gespült, weicher loser Sand mit fliederblauem Wasser zog an den Fersen entlang, dünne Algen ringelten sich um  die Knöchel, als würden sie sagen wollen, jetzt bist du da, während sie einen Schritt nach dem anderen immer weiter in die Meerestiefe ging. bis sie den Boden unter den Füßen ver1or und ihr Körper vom Salzwasser getragen wurde. Sie schloss die Augen, bewegte die Arme und Beine nicht und ließ sich nach unten sinken. Salzwasser kam durch die Nase und beim Versuch zu husten, auch durch den Mund. Sie riss die Augen auf  und sah eine riesige, jedoch elegante Welle auf sie zu rollen, als wolle diese sie zu Hause - im Wasser - begrüßen. Salzwasser klatschte rechts und links auf ihr Gesicht.  Sie versuchte Luft zu holen zwischen den unzähligen kristallenen Wassertropfen, die ihre Mutter ihr Leben lang vermisst hatte. Die Welle schlug sie so hart ins Gesicht, dass sie spontan die rechte Hand hob und die Welle genauso zurückschlug; so, sagte sie, ich kann dich auch schlagen. Dann lachte sie. Die nächste Welle ergoss sich sogleich lustvoll über ihrem Kopf und ihre langen Haare legten sich auf die Augen. Plötzlich fiel ihr ein, dass das Meer sie vielleicht nur begrüßen wollte, so wie sie vor vielen Jahren mit der Mutter zu Besuch bei den Tanten war und die Tanten sie vor Freude rechts und links auf die Wange so küssten zur Begrüßung. dass sie im Gesicht sehr unangenehm nass wurde und sie sofort mit der geballten Hand darüber fuhr. Vielleicht freut sich heute das Meer so leidenschaftlich wie die Tanten damals.