René Egger


 

Der Einbaum

 


Treiben lassen, sich dem Strom, der Strömung, den Stromschnellen überlassen. Auch wenn es in diesen zerklüfteten Flussbetten anfangs auf Biegen und Brechen geht. Ohne Abschürfungen und Schrammen läuft es jedenfalls nicht ab, wenn so ein Riese von Baumstamm, sieben oder acht Meter lang, sozusagen von Stapel gelassen – vielmehr vom Stapel weggerissen wird, mit den Frühlings-Fluten splitternd und krachend zu Tal fährt. Um sich unversehens in einem Felskessel wieder zu finden, wo er dann, in einer Art Verlies, in einer Art von Quarantäne, um sich selbst kreist, sich fortwährend im Kreis dreht. Denn wenn immer der Baum, der ohne Geäst bloß noch ein Stamm ist, den Ausweg gefunden hat, schon loslegen will, um sich kühn in die Tiefe – ins Tosen hinein zu stürzen, treibt ihn das Widerwasser im letzten Moment zurück, worauf er dann sichtlich ungeduldig, mit wütender Bewegung auf und ab stampft.

Und wie er zuletzt doch noch passieren – dem Wirbel doch noch entkommen kann, von einem hochgehenden Schmelzwasser eines Tages vielleicht mitgerissen wird, geschieht es, dass er im unteren Teil der Schlucht, nach einem Katarakt, einem Sturz aus großer Höhe, plötzlich feststeckt zwischen den Felsen, in den donnernden Wassermassen sich hoffnungslos verkeilt hat. Im Wasserstaub nun zusehen muss, wie andere, weit mächtigere Stämme aus einem Kahlschlag an ihm ungehindert vorbeipreschen. Im schäumenden Wasser, das von der Böschung eine lehmgelbe Farbe angenommen hat, unglaublich Fahrt machen, talwärts, Richtung Meer bolzen.

Der Stamm kommt erst im folgenden Frühjahr frei: Findet die befreiende Rinne, weiß in der Strömung zu bleiben und die Felsblöcke, die sich ihm in den Weg stellen, geschickt zu vermeiden. Worauf er außer Sicht gerät, erst gegen den Winter, zu Beginn der Herbststürme, mitgenommen und zerschunden, ein paar Seemeilen vor Catania, in grobem Gewell und mit einer Besatzung von vier Schwarzen aus Mali, die ihn nach dem Untergang ihres Bootes mit letzter Kraft geentert haben, unvermittelt wieder auftaucht. War gerade zur Stelle, als der morsche Kahn von der Bildfläche, die in diesem Augenblick bloß eine aufgewühlte, horizontlose Wasserfläche ist, mitsamt der Ladung, die im Wesentlichen aus nicht deklarierter Hoffnung besteht, verschwindet.

Der Stamm dreht sich – natürlich dreht er sich, dreht sich fortlaufend, kann gar nicht still halten, so dass die vier, die anfangs sieben waren, eben noch fünf gewesen sind, andauernd nachfassen müssen. Was eine Menge Kraft kostet. Kraft, die sie gar nicht besitzen, längst schon verloren haben.

Im Meer treiben: Wenn's hier Quallen gäbe, sie würden sie sofort verschlingen – mitsamt den meterlangen Tentakeln. So wie sie auch die kleinen Schnecken, die sie auf treibendem Tang gefunden haben, verzehrten. Einmal träumt einer, wie er einen ihn angreifenden Hai attackiert. Es ist nur ein kleiner Hai, ein junger Grauhai vielleicht, und der verliert, denkt er, mehr als er gewinnt – mit der halben Rückenflosse wird er's nicht leicht haben. Und er? Kann es verschmerzen: Wozu braucht er schon eine Wade? Er will nicht mehr weglaufen, nach seinen jüngsten Erfahrungen.

Dass die Hände vom Stacheldraht, der sie alle einzäunte, vom Meer fern hielt, wieder bluten, hat auch sein Gutes. Es brauchte zwar Überwindung, in die Stacheln zu fassen, doch jetzt, wo das Blut fließt, schmeckt es wunderbar. Wenigstens drei Tage, kalkuliert er, wird er sich an seinen zerrissenen Händen laben. Mit ihnen, wenn's denn sein muss, einen Raubfisch ködern, der zur Not auch als Speisefisch dienen kann. Halluzinativ denkt er da an den Seehecht, den er, auf einer Silberplatte und in einem Bett von jungem Lauch, den Gästen in jenem Hotel auf Djerba, im Sommer 2003, als Aushilfskellner serviert hat.

Dieses unaufhörliche Heben und Senken. Mal ist er oben, dann wieder unten. Was nach seiner Erfahrung erhebender ist, als immer nur unten zu sein. Noch schöner wäre es, denkt er, einer richtigen Erfolgswelle aufzusitzen, die ihn dann, naturgemäß, bis nach ganz oben spülen würde. Erfolgswellen, so hat er gehört, kann man an ihrem Kamm erkennen. Der Kamm soll durchsichtig sein, im Gegenlicht wie flüssiges Gold schimmern. Die Kämme der Wellen hier sehen eher wie schartiges Blei, manche auch wie erstarrte Lava aus. Vor allem am frühen Morgen, wenn die Sonne nur Kälte ausstrahlt, das Meer ein beschlagener Spiegel ist.

Einfach nur festhalten, ja den Halt nicht verlieren! Doch auf Dauer funktioniert die Strohhalm-Methode nicht sonderlich gut. Wer schon mal versucht hat, sich an einem Baumstamm, nur so zum Bade-Spaß, festzuhalten, kann sich leicht vorstellen, wie prekär das wird, wenn zehn oder fünfzehn Schiffbrüchige, entkräftet und verzweifelt noch dazu, in äußerster Not dies gleichzeitig versuchen.

So etwas müsste man auf alle Fälle koordinieren und kommandieren und vorher schon mal ohne Wellengang üben. Aber wo soll man in Mali oder Mauretanien, wo es weit und breit nur diese Wadis, diese ausgetrockneten Flusstäler gibt, das Reiten beziehungsweise das Balancieren auf einer entasteten Rotfichte üben? Nicht alle, die nach Europa flüchten, von diesen Fluchtwellen periodisch hier angeschwemmt werden, wohnen am Tschadsee oder haben an den Stanley-Fällen das Wellenreiten geübt.

Andererseits sind Baumstämme nun mal Baumstämme – und bleiben es, auch wenn es nun ausgehöhlte Baumstämme sind. Und wer anders als die Vorfahren der heutigen Boat-People sind mit den ausgehöhlten Baumstämmen, ihren Kanus, mit bis zu 60 Paddlern drin, im laut gesungenen Takt über den Niger und den Sambesi gerudert, wie ja schon Mungo Park und Livingstone berichtet haben und Kupferstiche noch heute bezeugen.

Da müsste doch eigentlich, da dürfte über die Generationen hinweg, im Grunde genommen, ein gewisses Geschick, eine gewisse Vertrautheit – besser: ein Zutrauen zum Material Holz und seiner legendären Tragfähigkeit noch immer vorhanden, jedenfalls nicht gänzlich verschwunden sein. Nur dass so ein unbehauener, rundum runder Baumstamm in der Dünung halt rollt und sich gerade in der Nähe des „rettenden“ Ufers, also in der schäumenden Brandungszone, ziemlich imponderabel verhalten wird. So dass man in Sichtweite des Strandes höchstwahrscheinlich, sagen wir statt­dessen: mit an Gewissheit grenzender Sicherheit den Halt verlieren dürfte. Und obendrein höllisch aufpassen muss, dass der instabile, in den überschlagenden Brandungswellen auf und nieder springende Stamm am Ende nicht noch seine bisherigen Passagiere erschlägt.

DassderselbeBaumstamm, unbemannt nun wieder und aller Passagiere ledig, irgendwelchen seltsamen, bis dahin völlig unbekannten Strömungen, Kielwassern, Hochwassern und Gezeiten­strömen folgend, unerforschlich also und auf kartographisch noch gar nicht erfassten Kanälen, in den Bodensee (!) gelangen könnte, ist in höchstem Masse unwahrscheinlich, aber offenbar nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Wie anders kann es geschehen, dass unser unbemannter Baumstamm plötzlich auf Kollisionskurs mit einem stark krängenden Segelboot ist, dem er dann vorne beim Bug, an der Steuerbord-Seite, sogleich ein Leck schlägt, was vom Autor vielleicht vorauszusehen, aber nicht wirklich zu verhindern war.

Doch jetzt ist nicht die Zeit, sich lange Gedanken zu machen, jetzt heißt es vom Boot, das sich offenbar nicht mehr länger an die auf dem Rumpf eingezeichnete Wasserlinie halten will, das schon am Absacken ist, wegtaucht, wie es den Anschein macht, vielmehr in drei-zwo-eins-null absaufen wird, auf den inzwischen ja bekannten Baumstamm überzuwechseln.

Ein Baumstamm ist kein Boot, ist weit davon entfernt, auch nur ein Einbaum zu sein. Vor allem hat er keine Reling, und ebenso wenig eine Plicht, die vor Spritzwasser schützt. Sodass es nicht ganz einfach ist, sich auf dem glitschigen Ding halbwegs zu behaupten. Immerhin weiß jetzt der Freizeit-Schiffbrüchige wie schwierig es unter gewissen Umständen sein kann, Land zu gewinnen. Dass er den verschneiten, zwischen den Wellenkämmen jeweils nur kurz sichtbaren Säntis für den Kilimandscharo hält, darf man ihm in diesem Seenot-Fall und angesichts auch der im schnellen Takt zuckenden Blitze der Sturmwarnung nicht verdenken. Hauptsache, er kann den Blick überhaupt noch erheben. Kriegt seinen Kopf halbwegs aus den Wellentälern heraus.

Die Seepolizei in Bregenz fischt ihn zuletzt mit knapper Not (so steht's im Rapport) aus dem Wasser, das mittlerweile meterhoch auf die Mole hinauf klatscht, mit jeder fünften oder sechsten Brandungswelle selbst die Sitzbänke auf der Promenade überflutet. Dass er kein Schwarzer, sondern ersichtlich ein Weißer – dazu mit orangeroter Schwimmweste ist, erleichtert die Rettungs­aktion irgendwie halt doch. Obwohl das hier niemand zugeben mag, und die Schwarzen, die sie unten am Stiefel und in Sizilien zu Hunderten aus dem zu dieser Jahreszeit nicht sonderlich warmen Meer fischen, nach wochenlanger Irrfahrt, auch nicht mehr so schwarz aussehen – verkrustet wie sie jetzt vom Salzwasser sind.

Einfach sich festhalten, irgendwie, und obendrein versuchen, sich an einen halbwegs tragfähigen Gedanken, wenigstens oberflächlich, zu klammern. In Gedanken, pourquoi pas, einen Studienplatz an der Sorbonne belegen, in Gedanken ein Covergirl, nicht irgendein Covergirl, sondern ein ganz bestimmtes Model aus der Vogue-September-Nummer 02 vögeln, irgendwo unterkommen, wenigstens eine Bidonville-Bleibe finden, in einer Bar locker einen Baccardi bestellen, dabei das Glas so halten, dass man die Ringe sehen kann, am Strand von Rimini, warum eigentlich nicht, einen Bauchladen mit echten Rolex-Uhren betreiben. Und was der hilfreichen Gedanken in so einer rettungslosen Situation halt noch mehr sind.

Obsiesich überhaupt Gedanken machen, die Vertriebenen, im Wasser treibenden, in ihrer Situation Gedanken überhaupt machen können, überhaupt noch Gedanken machen wollen, ist freilich umstritten und zuverlässig auch nicht zu ermitteln. Bedenkt man allerdings die Umstände, die vorauszusehende Rückschaffung sowie die entwürdigenden, damit verbundenen Modalitäten, so möchte man (an der Stelle dieser Leute und versetzt man sich ernstlich in ihre Lage) wohl lieber auf den Grund des Meeres, in diesem Fall: des adriatischen Meeres absinken. Muschelkalk bilden da unten, zusammen mit anderen zu einer Korallen-Kolonie werden.

Wie die hier aufkreuzen!hört man die Leute sagen, welche die Gestrandeten haben stranden sehen – und sie jetzt, ungepflegt, unverpflegt und schlotternd vor Kälte, aus sicherer Distanz beäugen, misstrauisch in Augenschein nehmen. Bevor sie dann erst einmal in Gewahrsam genommen werden. Wie es aussieht, sind sie in einem erbärmlichen – aber nicht unbedingt erbarmungswürdigen Zustand.

Den Baumstamm, der die Schifffahrt gefährden könnte, wie der Chef der Polizia Portuaria sagt, haben sie in den Hafen geschleppt und dort festgemacht. Damit er nicht wieder Reißaus nimmt, wie der Capitano scherzhaft sagt.

 

 


RENÉ EGGER