Hans D. Boeters
Mit dem eingetrockneten Blut meiner Amme
„Tragischer Unfall, Mord oder Selbstverbrennung auf der Brücke an der Marienklause oberhalb Münchens? Zeugen gesucht.“
Diese Notiz der Süddeutschen Zeitung überraschte mich nicht! Ich habe den Kleindruck wieder und wieder mit meiner Lupe überflogen und schließlich im Brennpunkt in Flammen aufgehen lassen. Es genügt, daß ich mir diese jetzt gut zwei Tage alte Aufforderung aus dem Lokalteil für immer – und bis zur Sprachlosigkeit – auswendig hersagen könnte. Ich habe mich nicht gemeldet. Wir wissen es bis zum Überdruß: Es war mein Vater.
Und seit heute weiß ich nun auch: Man hat meine Schwester zu Protokoll geladen. Man wird Kenntnis erhalten haben, daß sie Testamentsvollstreckerin ist.
Ich weiß nicht, was meine Schwester von Protokollen, Geständnissen, Beichten hält. Eher von Vermächtnissen, Letzten Willen, letztwilligen Verfügungen. Was mich betrifft, ich habe mich mein Leben lang gegen abverlangte Protokolle gewehrt. Ich werde mich weiterhin wehren! Was ich könnte: Ich könnte mir selbst – von mir, und nur von mir aus! – ein Protokoll aufsetzen: Wie es gewesen, wie es zu jenem Vorfall gekommen sein kann. Gekommen sein könnte. Als vage Annäherung, soweit sie mir gut tut. Zur Glaubbarmachung. Wenn es einmal nötig werden sollte. Denn mehr als jedes immer mögliche Fehlverhalten in den Augen anderer, mehr noch als Versäumnisse fürchte ich, daß ich mich jemals widerrufen müßte. Nicht so sehr geht es mir um Getreue. Ich wüßte nicht, daß es mir jemals um Getreue gegangen wäre. Um was es mir geht: Gesinnung! – das ist es, um was es mir geht. Um was es mir ein Leben lang gegangen ist!
So versuche ich mich denn als Protokollant in eigener Sache, die verbrannte Notiz verkrümmt noch immer vor mir auf dem Tisch: Das Blatt hat sich brennend aufgewölbt, verworfen, faltig zusammengezogen, ohne zu zerfallen, so daß die druckschwarze Nachricht auf weißhäutiger Asche noch immer gut zu lesen ist: „Zeugen gesucht“. Schon gut! Es sei wie es sei! So protokolliere ich denn als Zeuge eigenhändig.
Dazu vorab: Kein anderer als meine Kinderfrau sei mir vorab zu protokollarischem Beistand gerufen. Bei ihr – wo sonst – kam ich bereits als Kind zu Wort! Sie stehe mir für allen Anfang.
So lasse ich mich denn wie früher nochmals ihr gegenüber nieder, flegele mich vor sie hin. Stehe auch hinter ihr. Kann tief durch den bauschigen Halsausschnitt ihres Kittels Haar betrachten, das sie mir wollig aus breiten Schenkeln kraus entgegenwuchern läßt. Durch welche Halsausschnitte auch immer, die Brüste meiner Mutter sah ich nie. Nur die der Kinderfrau. Verstohlen. Sprachlos. Tatenlos. Sie hat mir nie viel von sich erzählt, – was ich weiß: Ihr Vater soll Deutscher oder zumindest deutschstämmig gewesen sein. Ihre Mutter Italienerin.
Was ich mir wünsche, was ich mir gleichsam als Auftakt, vielleicht auf den Bohlen meines Kinderzimmers, vor ihren Rockzipfeln, protokollierend erfülle: Ich schreibe irgend etwas, was meine Amme verstören sollte. Eine Liste aller unfruchtbaren Tiere, die ich aus den Grimmschen Märchen her kennen müßte: Kapaun, Wallach, Ochse, mühsam in Großbuchstaben. Die keine unzutreffenden Unterlängen zulassen. Während sich meine Amme zu zwei Händen Weidenkörbe näher an die Knie zieht und ungebügelte Wäsche mustert. Sie kramt. Nestelt dann an eine Hose meines Vaters, an der auszubessernden Knopfleiste herum, Nadel zwischen den Zähnen, dass ihr zwei kurze, abgerissene Fäden wie die gespaltene Zunge einer Schlange von den Lippen hängen, solange ich mich wortlos mustern lassen muß, während ich wie auf der Flucht immer wieder die Bilder an der Wand hinter ihr streife; – links, was meine Eltern mir mit ihrem großen Dürer zumuten wollen: das große Rasenstück; den Hasen; die betenden Hände, – als ob man Hände oder auch Füße so für sich beten lassen könnte; – rechts, eine Dreingabe der fernen italienischen Mutter, oder des deutschstämmig-deutschen Vaters, ein Prospekt des Zugangs zum Prigione, der Ponte dei Sospiri hinter dem Dogenpalast, dort hat man einmal Europas größten Hurer arretiert und dann entweichen lassen, – will ich das, – will ich das wirklich erinnern, zumal im Tonfall meines Vaters? Will ich nicht weitaus kindlicher eine Brücke betrachten, diese Ponte, die man mit einem Gesicht passiert, wie die Frau, mir gegenüber, mit bedeutungsvoller Miene mir weißmachen will? Sie sagt: Schau, die Seufzerbrücke! Sie sagt: Da könnt ich dich mal über die Brücke schicken, da kommst du in den Kerker! Dann mußt du weit die Arme vorstrecken, schau, so! – sie wickelt sich den Hosengürtel um die Knöchel und züngelt mir mit der Lasche über den Mund, – dann legt man dir hier an den Gelenken Fesseln an!
Dazu springe ich krachend auf meinen Kinderstuhl, trommele uns mit angewinkelten Beinen, mit den Fersen gegen die Unterseite des hölzernen Sitzes, auf dem ich mich hingelümmelt halte, einen wüsten Wirbel, einen traurigen Tusch, bis sie mich endlich fragt, bis sie mich endlich nach meinen Tieren fragt, bis ich mich kaum noch halten kann, – bis ich aufspringen will, bis sich mir rechts, auf der linken Wange meiner Kinderfrau, meiner Linkshänderin, bis sich mir scharf rechts ein winziger Tropfen zeigt, stichig geperltes Blut, aus einern jähen Einstich, einem verstohlenen Stich durch die Wange, der sich sparsam, nahezu jungfräulich vertröpfelt. Ich würde diese Perforation – vielleicht überhaupt nicht – entdeckt haben, gäbe sich nicht die verletzte Frau blutlos blaß und düster, – um bei den Grimmschen zu bleiben: weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz.
Das nur als Vorspiel. Für den, der warten kann. Der sich nicht fragt, wie letztlich die Nadel, wenn sie denn linkshändig in die Mündhöhle gestoßen wurde, wie die sperrige Öse inwendig aus der Wange zu lösen, wie der Stahl unter den Gaumen zu rollen ist, bis die Zungenspitze die Oberlippe schürzt und die glanz-glänzende Spitze der Nadel schiebt, und schiebt, und vorwärts kitzelt, fast wie die Errichtung eines prallen Daumengliedes zwischen Mittel- und Zeigefinger, das ich mir immer wieder nachbarschaftlich in der Schule zeigen lassen muß.
Es bleibt bei Kapaun, Wallach, Ochse, ohne trächtige Unterlängen! Borg, Bork, Barke, kastriertes Schwein: gab mir mein zärtlicher Vater erst später hinzu.
Ich weiß: Meine Kinderfrau würde mir heute zu allem widersprechen. Nie hätte sie ihr Nadelkissen verlegt, stattdessen ihre Wange hergenommen! Ich weiß es besser! Denn auch den Docht habe ich manchmal ihr aus der Wange hängen und Lymphe wie weiches Wachs abtropfen sehen. Ich habe ihr zugeschaut, wie sie sich Nadel samt Faden durch Wange und Mundhöhle zog, sich das Beinkleid meines Vaters zu beiden Knien nahm und den Knopfbestand des Hosenverschlusses sicherte.
Und doch erinnere ich auch, daß meine Amme – oder wenn ich kaum Kind mehr gewesen sein sollte, wenn ich denn Tag um Tag mit dem Hosengürtel meines Vaters an meiner spaltbreit geöffneten Kinderzimmertür verwartete, daß mich die Frau vor mir sofort verstand, als ich sie endlich wieder mit ihrer Wäsche durch den Korridor gehen sah, und fragte: Gehst du mit mir – ? – Ja, wohin? – Über die Brücke? Ja? – nein? Sie ging.
Ich breche hier ab. Ich habe vor Stunden hier abgebrochen! Faden samt Nadel waren mir irgendwie verloren gegangen. Bis ich mir klarmachen konnte, daß ich das Garn mit dem Tage wieder aufnehmen könnte, an dem ich zum ersten Mal die abgelegte Hose meines Vaters trug. Mit allen Knöpfen. Mit dem eingetrockneten Blut meiner Amme.