Editorial

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Sie kauen kleine, verschrumpelte Oliven und rücken noch näher ans Feuer heran,
wenn der blinde Barde in der Winternacht mit brüchiger Stimme den Schlachtenlärm
heraufbeschwört. Dann lässt der zürnende Achill - die Stimme des Erzählers überschlägt
sich, er greift mit beiden Händen in die Luft- die Anwesenden jäh erstarren, ihre Kaumuskel
erlahmen, als habe der Zorn des Helden jeden einzelnen von ihnen getroffen. Fast immer
vermag der fahrende Sänger seine Zuhörer mit dieser Szene zu packen. Und doch - ohne sie
hätte er seine Stimme nie erhoben, wäre der trojanische Krieg in seinem Kopf nie entstanden. Ohne sie hätte er keinen einzigen Vers hervorgebracht. Ohne sie wäre er ein Niemand. Den Ziegen oder den Fischen im Meer etwas zuraunen zu wollen - absurd! Homer weiß sehr gut, wie abhängig er von seinen Zuhörern ist. So abhängig wie die olympischen Götter von ihm, die er in seinen Epen ihre Intrigen spinnen lässt.

   Und die Götter wären nicht, gäbe es keine Menschen, die sie wahrnähmen, auf sie hörten,
ihnen Leben verliehen. Wenn ein umtriebiger Kaufmann aus Mekka seinen Landsleuten kein
Buch entgegengestreckt hätte, das - wie er nicht müde wird zu betonen - von Ihm selbst herabgesandt sei, wer hätte je von der Existenz Allahs erfahren? Nur die Hörer und Leser
machen Ihn, obwohl Er unsichtbar ist, real. Nur sie lassen Ihn in einem fast erschreckenden
Maße aktiv sein.
   Zuhörer, Zuschauer, Leser- sie entscheiden, was aus der Fiktion ins Leben geholt wird.
Dostojevskij hätte sich in den Periodika gegen seine Schuldner nicht die Finger wund
schreiben können, wäre in den langen russischen Winternächten nicht eine zahlreiche
Lesergemeinde seinen Helden auf deren Leidensweg gefolgt. Und warum hätte Balzac zur
Feder greifen sollen ohne die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts? Ihr kommen
die voluminösen Romane gerade recht, um sich gegen die grassierende
ennui zu wappnen.
   Selbstverständlich hätte auch der TORSO die Jahrtausendwende nicht überdauert ohne seine Leser. Leser, die sich über die Jahre auf die unterschiedlichsten Beiträge einließen:
wohlwollend, bisweilen mit ein wenig Häme, aber auch begeistert und immer voll Neugier.
Eine witzig-makabre Geschichte fesselte einen prominenten bayerischen Politiker so sehr,
dass er eine Liebesnacht kurzum umfunktionierte und sich schlicht »verlas«.
   Den Leser und den Autor, der diesen in seinen Bann zu ziehen versucht, setzt eine
Zeitschrift voraus. Sie würde aber nie das Licht der Welt erblicken ohne ihren Layouter, der
ihr Gestalt, ein Gesicht verleiht.
   Wir haben das große Glück, jemanden in unserer Mitte zu haben, der seit fast vierzehn
Jahren diese Aufgabe professionell und leidenschaftlich erfüllt. Der den TORSO kritisch,
vielleicht auch bangend begleitet hat. Der bisweilen auch hartnäckig, ja störrisch seine
Meinung vertrat. Zum Wohle des Ganzen. Der uns immer mit Rat und Tat zur Seite stand.
Der großzügig darüber hinwegsah, wenn Termine nicht eingehalten wurden. Ein Mahner,
ein Begeisterter, ein Freund.
   Helmut Fiedler, wir danken Dir.


                                                                                                                                         a.m.