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papa-gen-
Als sie zurückkommt, sind beide nicht mehr da. Schon bereut sie, den Jungen nicht selbst
mitgenommen zu haben. Sobald er aus ihrem Blickfeld gerät, wähnt sie ihn in Gefahr.
Nur weil jede öffentliche Toilette ein Inferno ist, hat sie ihn ausnahmsweise seinem Vater
anvertraut, dessen Augen meist ein Stockwerk höher gerichtet sind als die ihrigen, die in die
bodennahen Schlünde der Bakterien starren: Dass nur der Junge nicht krank wird. Dass ihm
nichts zustösst.
Der Platz ist beinahe leer. Knapp ein Dutzend Touristen wie Däumlinge vor der
Mächtigkeit von Palast, Tempeln und Toren. Und nur wenige Einheimische, die anderswo
zuhauf mit ihren zu Marktkarren umfunktionierten Fahrrädern durch die Straßen ziehen,
bieten Apfelsinen, Mangos und Bananen an. Als sei dieser Ort in seinem Reichtum
ein unberührbarer Fremdkörper inmitten des Landes. Nicht einmal Müllberge, in denen
heimatlose Kinder und räudige Hunde zu Spiel und Nahrungssuche zusammenfinden, sind
zu sehen.
Sie hat gleich gewusst, dass diese Reise zu groß ist. Wenn nicht für das Kind, dann für
seine immer - nur - Mutter. Ein Land, in das man als Helfer fährt und nicht als Tourist, hat
sie gesagt. Ein Land, dem der Tourismus helfen kann, hat er dagegen gehalten und vom
Ende her argumentiert, an dem der Entschluss zu dieser Reise stehen musste. Das letzte
Jahr ohne die Fesseln der Schule.
Kind oder Kultur, du musst dich entscheiden, hat sie sagen wollen. Ein Satz, der
von ·ihrer Mutter hätte stammen können und den sie daher heimlich heruntergeschluckt
hat. Stattdessen hat sie so getan, als habe er sie umgestimmt. Natürlich auch, weil sie
gedacht hat, dass sich eine Frau, die nicht auseinander kommen will mit ihrem Mann,
zusammennehmen muss. Bei ihrem ersten Mann hat sie die Finger auf die Wunden gelegt
und nicht gewusst, dass sie sie hätte verdecken oder liebkosen sollen. Da ist er gegangen,
ohne sie geschwängert zu haben.
Ihr zweiter Mann ist kein junger Vater mehr. Zwei halbwüchsige Töchter aus erster Ehe,
die er gelegentlich besucht. Er weiß bereits, dass das Heranwachsen von Kindern
unbemerkt die besten Jahrzehnte der Eltern tilgt. Man tut alles, dass sie groß werden, und
wird dabei immer kleiner. Um dem vorzubeugen, bei der Geburt die Entbindung von der
Mutter, in der Pubertät die Entbindung vom Vater. Gerechtigkeit muss sein. Ein Witz, über
den sie überhaupt nicht lachen mag. Darum wiederholt er ihn so gerne. Sonst aber ist er
nett gegenüber Frau und Kind und allem anderen. Eine Nettigkeit, die ihm einen großen
Spielraum gibt. Nur manchmal hat sie den Eindruck, Menschen und vom Menschen
Geschaffenes bedeuten ihm ungefähr gleich viel, doch das liegt daran, dass er Künstler ist
, oder zumindest als ein solcher gerne vorgestellt werden möchte.
Wahrscheinlich sind ihre Sorgen wirklich übertrieben. Natürlich wird auch jetzt alles in
Ordnung sein, der Vater den Jungen nur bei Laune halten und ihm vielleicht etwas zu trinken
kaufen wollen. Sie setzt sich auf eine der vielen Treppenstufen, um ein paar Minuten den
Blick über die unvergleichlichen Hinterlassenschaften der Newar schweifen zu lassen. Ein
paar Minuten ohne Kind und Mann.
Der klare Herbsttag leiht dem Himmel ein kräftiges Lapislazuliblau und den Fassaden
farbliche Entschiedenheit. Das schwarze Salholz der Schnitzereien, Türrahmen und
Fenstergitter, die roten Ziegelmauern und das Gold des Tores vereint ein tiefes, fremdes
Leuchten. Als habe sich die Sonne hinter dem wolkenlosen Himmel zurückgezogen und als
sei wie bei einer partiellen Finsternis das diffuse Licht durch ein deutlicheres ersetzt. Die
Grenzen sind schärfer als in dem Dunst vergangener Tage. Messerscharf. Und hart die
Schatten, die die Vormittagssorine auf den hell gepflasterten Platz wirft.
Dann sucht der Blick der Frau doch wieder rastlos den Platz ab. Abschätzig betrachtet
sie die neue Fotografengeneration, die ohne Unterlass die ganze Gegend kartiert. Endlich
sieht sie ihren Mann aus einer Seitengasse kommen. Atmet auf, ist gleichzeitig aber
verstimmt. Wie oft hat sie ihn gebeten, den Jungen an die Hand zu nehmen oder ihn zumindest im Auge zu behalten. Unbeschwert kommt der Mann näher. Wie immer mit einem Lied auf den Lippen.
Der Abstand zwischen ihm und jener Tempelecke, die die Einsicht in die Seitengasse versperrt, wächst. Auf zehn Meter. Zwanzig Meter. Hundert Meter. Es ist nicht mehr der Abstand, in dem ein
fünfjähriges Kind seinem Vater folgt. Es ist, als sei das Bild, das sie sieht, noch nicht vollständig entwickelt. Ein Fotokarton, auf dem zunächst blinde Flecken bleiben, wenn das
Silberhalogenid im Chemikalienbad geschwenkt wird. Doch so sehr sie sich darauf auch konzentriert: das, was ihr am wichtigsten ist, bleibt wegretuschiert.
Jetzt hört sie schon die Melodie, die er pfeift. Es ist das höchste der Gefühle, wenn viele,
viele Papa-Papa-Papagen. Nicht ein einziges Mal blickt er sich um. In seinem Gesicht steht
keine Vermisstenanzeige, sondern ein Strahlen über die Sternstunden der Baukunst.
Phantastisch, ruft er. Das musst du dir anschauen! Ein dreißig Meter hoher Pagodentempel,
keine fünf Minuten von hier!
Wo ist Viktor? Angsterfüllt reißt ihm die Frau das Strahlen aus dem Gesicht. Viktor, sagt
er wie von weit und guckt sich hilflos nach allen Seiten um. Er muss doch hier sein. Betont
den Satz so, als könne er die Wirklichkeit auf die Norm verpflichten.
Der Frau ist plötzlich, als rase sie mit einem Fahrstuhl in die Tiefe. Wieso hier? Hast du
ihn etwa nicht mitgenommen? Ihre Stimme klingt schriller, als dem Mann lieb ist. Ich hab'
ihm gesagt, dass ich gleich zurückkomme, flüstert er beschwichtigend.
Er hat plötzlich keine so große Lust gehabt auf das Kind, durchzuckt es sie. Als sei
das möglich: einfach für ein paar Minuten keine Lust mehr zu haben auf sein Kind. Ein
hinduistisches Mandala, eine buddhistische Stupa, eine abendländische Oper. Zeitlose
Bedeutsamkeiten, die er sammelt, wichtiger als sein fünfjähriger Junge. Sein Gesicht aber,
das unverschämt nett aussieht in diesem Moment, nennt es nicht Schuld was geschehen
ist, sondern Schicksal. Doch mildernde Umstände für einen, der sich als Künstler glaubt,
lässt sie nicht gelten. Und daher schiebt auch sie, obwohl der Wortwechsel kostbare Zeit
vernichtet, noch einen Satz hinterher. Einen Satz, der eigentlich schon Gegenstand späterer
rechtlicher Verhandlungen ist. Wie kannst du nur weggehen und Viktor allein hier stehen
lassen? Fast schreit sie. Und weil das ja keine Frage sein kann, antwortet der Mann jetzt
auch nicht mehr.
Dann geht alles ganz schnell. Und dehnt sich wie ein Film in Lebenslänge. Vergeblich
suchen sie die Seitengassen des Platzes in allen Winkeln ab, verloren in dieser verworrenen
Stadt, in der sie die Götter nicht von den Dämonen unterscheiden können. Womöglich ist
der Weg des Jungen von den Kameras der anwesenden Touristen digitalisiert worden. Ein
hellhäutiger Junge? Warum hat niemand ein solches Bild gespeichert? Irgendwo in der
Nähe muss er ja sein, verdeckt nur von Bauten, verdeckt von Kunst und Architektur.
Ich gehe, du bleibst hier und wartest.
Nein, lass uns gemeinsam gehen. Die Worte des Mannes ein Flehen, als könne er sie
an einem Ort festhalten, an dem sie nie zusammen gewesen sind.
Aber denk doch, wenn Viktor zurückkommt und keiner von uns hier ist! Am liebsten
würde sie diesen Mann jetzt rütteln. In der Wirrsal derer, die zu allem entschlossen und zu
nichts mehr fähig sind, stützt sie sich am Fuße des Tempels auf eine der Steinfiguren, die
die steile Treppe flankieren. Mann mit Kind und Hund auf der linken und Frau mit Kind und
Hund auf der rechten Seite. Strikt von einander getrennt. Weit oben, noch ein Stockwerk
über der Kunst, blicken unzählige Götter und Götzen, die sichtbarer sind als die Polizei,
starr in ihre Himmel, ohne von dem, was unten vorgeht, Notiz zu nehmen.
In diesem Moment wird ein kleiner hellhäutiger Junge an der Hand eines dunkelhäutigen
Erwachsenen aus einer der Eckgassen auf den Platz geführt. Die Schuld im milden
Schicksalsverlauf getarnt, könnte nun alles wieder ins Lot kommen, wäre für die Frau nicht
plötzlich durch die Entwicklung das latente Bild sichtbar geworden.
Viktor, ruft sie, läuft dem Kind entgegen und versteckt es in ihrer Umarmung, als habe
es auf der Welt niemand anderen als seine Mutter.