Walter Malbaden

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Hotel Mozart


Am Anfang waren die Wände. Am Anfang waren die kahlen Wände, die bilderlosen, alten,
mit schon vergangenen Tapeten verklebten, vergilbten Wände. Es waren die Jahrhunderte
alten Wände dieses Hotelzimmers, die Wände dieses kleinen, verbraucht riechenden,
verrauchten, feucht-dunklen Hotelzimmers, die schwiegen. Am Anfang war das Schweigen
der öden, ermüdenden, lächerlichen Wände dieses Hotelzimmers. Nur blass wurden die
schweigenden Wände vom Licht einer farblosen Glühbirne beleuchtet - nur beleuchtet vom
Licht einer nackten Glühbirne, die an der Decke hing, an der stürzenden Decke. An der
stürzenden, fallenden Decke hing die ausdruckloses, kaltes, hilflos-unwirkliches Licht
spendende Glühbirne, an der ausgleitenden, hinstürzenden, schrägen Decke dieses
Hotelzimmers. Im Licht der Glühbirne war schweigendes, regloses, erstarrtes Sitzen. Am
Anfang war wortloses, gedankenverlorenes, still regungsloses Sitzen auf einem unbequemen
Stuhl, dann auf einem elenden Bett, auf einem zu kleinen Bett, auf einem schiefen Bett, auf
einem schon durchgelegenen, von unzähligen Unbekannte·n geformten, durchhängenden
Bett. Auf dem Bett zwischen kahlen, vergilbten, nackten, modrig riechenden Wänden unter
stürzender Decke, in kaltfahlem Licht, in diesem einzigen Licht des Hotelzimmers dieses
alten Hotels, dieses schweigenden Hotels, war das Warten auf die Anderen, die drei
Anderen wortlos. Vom schrägen Bett aus war während des Wartens nur die Zimmerdecke
zu sehen mit der untröstliches, fahles Licht spendenden Glühbirne. Die blass beleuchtete
Zimmerdecke war zu erkennen, sonst nichts, die sich neigende, fallende, mit jeder
Bewegung des Kopfes in eine andere Richtung stürzende, sich dehnende, nicht schützende
Zimmerdecke, die alles erdrückende, gelbdunkle, die nicht zudeckende, nicht verdeckende,
dunkle Zimmerdecke.


   Nichts, kein Laut, kein Geräusch war zu hören, kein Ton - nur das in zu langen
Abständen 'tropfende Wasser eines undichten Wasserhahnes im unverschließbaren
Badezimmer. Das in unerträglich langen Abständen tropfende Wasser aus dem
Wasserhahn im türlosen Badezimmer war der einzige Laut, war das einzige Geräusch, jetzt.
Dieses Geräusch ließ sich nicht abstellen, mit keiner noch so großen Anstrengung
ausschalten oder sonst wie beenden; mehr noch: mit jedem Versuch, es zu beendigen,
wurde es lauter, unerträglicher, folternder. Über dem Wassertropfen verlierenden
Wasserhahn war ein Spiegelschrank befestigt, ein kleiner, weißgrauer, schmutziger
Hängeschrank mit einer zweiteiligen Spiegelschiebetür. Im Spiegel der Schiebetür fand
sich jetzt, unerwartet, plötzlich, unzeitgemäß, in dieser Gegenwart, in dieser einzigen
Gegenwart, ein Gesicht. Es gehörte dem Anderen.


   Es gehörte dem Anderen hinter dem Spiegel. Es war ein Gesicht ohne Erinnerung - ohne
Erinnerung an damals. Es war ein Gesicht ohne Erinnerung, aber mit allen Zeichen des
Alterns, Ein Gesicht zeigte sich im Spiegel ohne Wissen an alle seit damals vergangenen
Tage, an diese vergangenen, unwiederholbaren, unwiederbringlichen Tage, an alle diese
vergangenen, vergessenen, verlorenen Tage, Monate Jahre, zwanzig Jahre. Es war dies
ein unwissendes Gesicht, ein älter werdendes Gesicht, ein alt gewordenes Gesicht, ein
Gesicht mit geplatzten Äderchen im Weiß der Augäpfel - ein erinnerungsloses Gesicht.
Zu sehen war ein sich ärgerndes, blasses Gesicht, ein unrasiertes, ein trockenes, müde,
ungeduldiges Gesicht mit rot unterlaufenen Lidrändern, mit schmalen Lippen, dunkelroten
Lippen, fast blauen Lippen, die sich nicht öffneten, jetzt in dieser Gegenwart, die sich in
dieser Gegenwart nicht öffneten, nicht in dieser Gegenwart.


   Dieses Gesicht gehörte dem Anderen hinter dem Spiegel, dem Anderen im Zimmer, dem
Anderen, der sich gleichzeitig in diesem uralten Hotelzimmer aufhielt, im Spiegel, in dieser
Gegenwart gegenwärtig war, in dieser unerträglichen Gegenwart, die nicht verging, nicht
vergehen wollte, jetzt nicht vergehen wollte, jetzt noch nicht. Das Gesicht im Spiegel gehörte
dem Anderen, dem Fremden, der jetzt zusätzlich anwesend war, ungefragt, ungerufen, der
die Einsamkeit aber nicht aufhob, sie nicht, die Einsamkeit all der verflogenen Jahre, der sie
nicht aufhob sondern verdoppelte. Hinter der Spiegelschiebetür des kleinen Hängeschrankes,
die mit einem Schlag nach links aus dem Gesichtsfeld zu schieben war, mit einer
Bewegung nur, mit einer leichten, nichtssagenden Handbewegung aus dem Gesichtsfeld
verschwand, war aber das Schwarz des Spiegelschrankgehäuses, ein schmutziges, ver-.
staubtes, mit Wasserflecken, Seifenspritzern, Parfumresten besudeltes Schwarz, ein von all
den seit damals vergangenen Jahren besudeltes, beschmiertes, Schwarz, ein von unzähligen,
unbekannten, unkenntlichen, ungesehenen, noch lebenden, schon toten, längst verwesendvergangenen und vergessenen, ja vergessenen Menschen beflecktes Schwarz, doch befleckt. Hinter der Spiegelschiebetüre war alles verdreckt, war Dreck, sonst nichts.
Während des Wartens auf die drei Anderen, jetzt um 9 Uhr abends, war hinter dem Spiegel,
der ein aschgraues Gesicht gezeigt hatte, über dem tropfenden Wasserhahn, nichts, nur ein
schmutziges Schwarz, nur Schwarz.


   Während des Wartens auf die drei Anderen, die sich doch verspätet zu haben schienen,
die jetzt noch nicht da waren, noch nicht angekommen waren.lin dieser Gegenwart verging
die Zeit im dunklen Hotelzimmer nicht. Im Hotelzimmer des Hotels mit dem Namen 'Mozart' stand die Zeit. Sie wollte nicht vergehen, nicht ablaufen, nicht fortschreiten. Ein Blick aus dem Badezimmerfenster, welches nicht auf den Hinterhof zeigte, nicht auf den dunklen, taubenbelebten Hinterhof, sondern das nach vorne wies, sich auf der Frontseite des Hotels befand, gewahrte eine schmale Fußgängerzone, die hier 'Salzburger Gasse' hieß, ja
'Salzburger Gasse' genannt war, half nicht. Ein Blick hinaus half gerade nicht. Denn auf der
schmalen Gasse bewegten sich Menschen, langsam, fröstelnd, an diesem kalten
Novemberabend. Sie bewegten sich immerhin. Vermummte Gestalten, dunkel, unkenntlich,
scherenschnittartig im Lampenlicht der 'Salzburger Gasse' gezeichnet, bewegten sich dort,
jetzt, in dieser Gegenwart. Dort unten verging also Zeit, verging Zeit zwischen dem Halt vor
dem ersten Schaufenster und dem nächsten Schaufenster, zwischen dem ersten und dem
zweiten Betrachten, zwischen dem vorletzten und dem letzten Staunen. Auf der sogenannten
,Salzburger Gasse' dort unten war immerhin Bewegung zu erkennen, eine Andeutung von
Bewegung - somit verging dort Zeit, dort, außerhalb des Hotelzimmers. Später, noch nicht
jetzt, werden alle vier Teil dieser Bewegung auf der 'Salzburger Gasse' sein.


   Später, noch nicht jetzt, werden sie Teil der vermummten, dunklen, in der Kälte des
späten Abends gebückt gehenden, unbekannten Gestalten sein, für die die Zeit vergeht.
Dann werden die drei Anderen, die Erwarteten, die vermeintlich Verspäteten, wie selbstverständlich und wiederum doch unerwartet aus der Eingangstüre des Hotels 'Mozart' getreten sein, so, als ob sie schon immer da gewesen wären, schon immer, so als ob sie schon
immer im Hotel 'Mozart' gewohnt hätten, die ganze Zeit über dort gewohnt hätten, alle Zeit,
immer. Sie werden schon aus der Türe getreten sein und den Vierten zurückhaltend-verhalten
begrüßt haben, den Vierten, der zuvor, in der Zwischenzeit, hinunter auf die 'Salzburger
Gasse' gerannt sein wird, um dort das Vergehen der Zeit zu kosten, doch - ihr Vergehen.