Vasile V. Poenaru


 

Die gesüßte Seite unserer Tintenwelt

 

Nach was schmeckt Österreich?

 

Österreich ist ein kleines Land mit einem großen Fragezeichen – ein keimender Leitgedanke in musikalischer Begleitung hinter einem vielsagenden Gedankenstrich, der bisweilen gleichsam durch die verblichenen Rechnungen der nur noch touristisch maßgebenden Hofburg zuckt; eine längst halbierte Doppelmonarchie, als mehrfach überholtes europäisches Semikolon getarnt. Das zusammenschrumpfende, konvergente Reich schleppender Parallelaktion in seiner glorreichsten PR-Gestalt. Und natürlich vor allem auch ein kleines Land mit ausgedehnten Texten.

Ein Reich der Anschaulichkeit ist Österreich. Ein mitteleuropäischer Mittler hinter der abgelegenen Mitte Europas, ein beständiger, wiewohl diskreter regionaler Klatsch hinter dem überlauten Weltgeschehen, eine anspruchsvolle Fußnote hinter dem langsam abklingenden transkontinentalen Diskurs der Erweiterung und Integrierung, ein tänzelndes Wahrzeichen hinter der Wahrheit, ein rollender Donner hinter dem Blitz.

Von Apfelstrudel zu Mozartkugel, von Hundertwasserhaus zu Ars Elektronika, von Dom zu Dom: ein Bezeichnetes hinter dem Bezeichnendem. Ein Danke sehr hinter dem Bitte sehr. Ein Küss die Hand nach dem Grüß Gott. Ein Wind nach der Windstille. Österreich: Weingärten, Stahlindustrie, Heimat, Anti-Heimat, Nibelungenstraßen, Getreidegassen und ein manchmal beinahe unverständliches Vielvölkerverständnis fliegen nur so durcheinander, wenn sich die Feder seiner vielgerühmten Söhne rebellisch, methodologisch und zugleich kapriziös-dichterisch rührt. Alles, was man wahrhaben will, wird im zuvorkommend gefälligen oder willkürlichen Akt des Schreibens aus der jeweils abgesegneten Perspektive der Stunde schnellstens bewahrheitet.

Alles ist da: Text und Kontext. Pferd und Kutsche. Wort und Klang. Besitz und Bildung. Sinn und Verstand. Jederzeit sozusagen in Hülle und Fülle vorhanden, des metaliterarischen Seins einer neuen zentralisierten Eurolust teilhaft, in beliebigen mehr oder weniger politisch korrekten Kontexten ohne viel Aufhebens integrierbar, so durch und durch präsent, hundertprozentig zum Aussagen bereit, hundertprozentig im öffentlichen Bewusstsein aufgehoben, der Vaterlandsverschönerung oder – Verleumdung dienlich, ja auf Anfrage sogar ohne weiteres etwa mit Walzer, Alpen und Donau serviert. Mit hochverehrten Herren und gnädigen Frauen. Und mit Spiegelgeschichten und Mundartdichtungen und Rittern und Tod und Teufeln und Burgen und Schlössern. Da kann man sich nämlich in gemütlicher Besessenheit verbarrikadieren und jahrelang von den sorgfältig aufbewahrten Halbwahr heiten leben, die den Zusammenbruch der Donaumonarchie wie dem Sichverflüchtigen der Ständerepublik überlebten und weiterhin das seltsame Identitätsgefühl rund um ein gleichsam mit Schmetterlingsflügeln geflügeltes Servus in Austria! prägen.

 

Was ist Österreich? Was ist es nicht? Was darf es sein? Was soll es sein? Und vor allem: Wie soll es sein? Mit Hundertwasser muss man sich waschen, um zwischen diesen Fragen 3 9  T O R S O hindurch zu blicken. Die Ringstraße muss man entlang spazieren, den Stephansdom erklimmen. Man muss sich das ganze Ding als geistige Landschaft vorstellen. Jede Seite ist die grüne Seite. Jedes Wetter ein Kaiserswetter. Jedes Lied ein Hohelied. Die Heimat eine Donau-Welle, das Vaterland ein Stammlokal, das Wort ein vorbehaltlos gefeierter, allgegenwärtiger Ton-Ort. Wo einer anfangen soll? Herr Ober, noch ein Glas!

 

Es hat sich noch nie jemand etwas Öster reichisches ausgedacht, ohne gleich in kontrastiver Anschaulichkeit die spezifischen Charakteristika hervorzuheben, anhand derer so österreichisch wirkt, was österreichisch ist. Ein Chefkoch würde natürlich gleich sagen, es sei das Wiener Schnitzel, dass uns zu dem macht, was wir sind. Einem Musil hingegen würde wohl schon eher dünken, es seien die Eigenschaften, derer wir entbehren, oder besser, derer wir uns enthalten, und ein Wittgenstein würde in altlogisch-altphilosophischer Art und Weise selbstredend darüber schweigen, worüber er nichts zu sagen hätte.

Im Ernst: angenommen, dass literarische Werke an sich essbar (oder doch wenigstens lesbar) seien – im Café, beim Elfmeter, auf dem Campus, am Bahnhof wie sonstwo: Nach was schmeckt Österreich?

Die Antwort fällt schwer, denn österreichische Tinte, das will erzählt werden. Eine Menge Löschpapier ist vonnöten, um im schnellen Tempo der Lektüre zu trocknen, was da alles an der sauberen Wäscheleine zwischen der Schweiz und Ungarn hängt. Unmöglich, davon zu schmecken, ohne sich zu bekleckern. Unmöglich, Österreichs schreibender Zunft auf den Zahn zu fühlen, ohne wenigstens zum Teil selber philosophisch-polemisch zu werden. Unmöglich, über strapazierte Definitionen hinweg zu setzen, wenn es wieder mal darum geht, auszumachen, wer „mir“ sind.

Auf einen Versuch jedoch soll es immerhin ankommen, das volle Herz im gebrechlichen Brustkasten (mit begrenzter Haftung), die gängigen Vorurteile und Illusionen des jüngsten Österreich-Bilds trotz besserer Ein sichten vorsichtshalber parat, den scharfen Blick auf die eifrig betriebenen und manchmal auch einigermaßen ernst genommenen Literaturhäuser und Forschungs institute ger ichtet, die Traditionen breit angelegter Standortbestimung im Sack, die Tage der deutschsprachigen Literatur auf CD; alles gemütlich-verführerisch, ja geradezu schmackhaftig-behaglich verpackt: der Skandal eine Insze nierung, die Vergangenheit eine k. und k. Variable, der Weg in die Zukunft bereits wie beiläufig im Rahmen zahlreicher Konferenzen sozusagen auf geistiger Ebene eingeschlagen.

Austria, here we come! Vienna calling. Aus aller Welt sausen die Kongressfreunde auf die Kongressstadt Wien zu. Seit geraumer Zeit herrscht allerdings Windstille auf dem in der Regel so selbstverständlich dünkenden Gebiet österreichischer Selbstverständlichkeit. Die rotweißrote Flagge des pensionierten Adlers flattert kaum mehr über seine mittlerweile entmythisierte, doch immerhin großzügig-malerische Kulturlandschaft, die einst von Wien und Prag über Budapest und Temeswar bis nach Galizien und in die Bukowina reichte.

Der prächtige Vogel ist seiner selbst müde und doch so stolz auf die guten alten Tage. Ein Ei hat der Adler leider nicht gelegt, aber viele Hühner, die alle zwei Tage selbstbewusst und wichtigtuerisch angeben, auf nichts weniger als dem Gott sei Dank wundersam überlieferten wahrhaftem Ei des Adlers zu sitzen, gackern durchaus fröhlich und lebendig, ja tadellos patriotisch in gar manchem friedlich anmutenden Bauernhof des Vaterlandes, während auf der Hofburg Wien drei weiße Tauben das ihre tun.

 

Franz Innerhofer hat eines der Hühnereier aus der staatlich beglaubigten Idylle der Nachkriegszeit heraus geschmuggelt und der Öffentlichkeit zugeworfen. Dafür wurde er berühmt. Dafür wurde er dann aber auch wieder vergessen. Peter Handke machte sich als Rache prompt daran, das Publikum zu beschimpfen. Die Eier, die man ihm zuwarf, waren jedoch, wie sich später herausstellte, die tatsächlichen Sprößlinge des verschollenen kaiserlichen Adlers, und leider sind sie wegen der allgemeinen Erhitzung nun lediglich eine große überregionale Palatschinke. Heimat bist du großer Söhne – und weiträumiger Tintenfässer. In der leeren Kaiserloge spukt ein armer Spielmann, während die vollen Stände der Ständerepublik aus der aufgemöbelten Ver gangen heit ihren gemischten Reigen antreten. Mir sein mir / Noi siamo noi. Österreich ist gleichzeitig überall, nur eben nicht so ganz zur gleichen Zeit.

Also nach was: nach Kaffee und Apfelstrudel und Mozartkugeln und Alpenmilch und Jodeln? Nach dem Brenner Sattel, dem Staller Sattel und dem Wiener Telefonbuch? Nach Menasse und Hackl? Nach Handke,Turini, Bernhard und Jandl? Von Gott erhaltenes, schönes, viel, nein, leidlich geliebtes Land am Strome: nach Äckern und Domen? Nach Kaiserlichkeit, Reitschulen und Oberdeutsch? Nach Schweigen und Sagen? Nach ewigem Klagen?

Wenn der Großglockner einen kräftigen Glockenton von sich gibt, wackeln die kleineren Gipfel. So ist es auch im Literaturbetrieb. Es gibt nichts Neues in Österreich, und wenn es etwas gäbe, so würde es schnell altern. Doch wir wollen uns jetzt nicht allzusehr darüber ärgern, sondern die Feiertage so feiern, wie sie im Kalender stehen. Denn heutzutage kommt das Schreiben an und für sich ja ohnehin keineswegs mehr so gut an wie früher. Man muss immerfort den Abgöttern der sogenannten wissenschaftlichen Forschung frönen, wenn man sich zu Wort melden will. Und man muss sich politisch engagieren und entsprechend ästhetisch definieren.

Österreich: Wie macht man das? Über die Seitentür deutscher Dichtung? Über das Gespenst des Multikulturalismus? Über ein Dutzend Zechenlieder? Übers Wochenende? Über das Gesetz der großen Zahl? Oder gar über das Gesetz einer großen Erzählung?

Wenn sich einer so durch die moderne österreichische Literatur herumtut, trifft er jedenfalls einen Haufen Schriftsteller vor, die sich mehr oder weniger zweckmäßig wie bunte Schwarmfische (nein, wie graue Nörgler-Fische) über alles ausschweigen, was sich je diesseits und jenseits der Wässer getan hat.

Ransmayr sieht fast grimmig aus, der Mund lässt jedenfalls darauf schließen, dass er es sei, die Augen auch, besser gesagt die Brauen, weil die Augen an sich ja eigentlich gar nicht so grimmig aussehen, sondern eher ein bisschen uneigentlich trüb.

Handke lächelt gutmütig. Es scheint ihn zu freuen, dass in seinen Adern die Stunde der wahren Empfindung schlägt. Noch mehr aber scheint ihn zu freuen, dass ihm Don Juan höchstpersönlich von sich selbst erzählt. Wenn Handke ein Torhüter wäre, dann wäre die Sprache sein Tor. Dann hätte niemand mehr Angst davor, den Mund aufzumachen. Aber Handke ist kein Torhüter.

Gstreins leerer Blick greift tief hinein in das Handwerk des Tötens – und natürlich auch in das Handwerk des Schreibens. Er hat was gesehen. Er hat es aber nicht selber gesehen, sondern durch die Augen eines erschossenen Stern-Reporters. Das Sterben, über das man nicht schreiben darf: Darüber hat er geschrieben.

 

Gauß wirkt ein bisschen verstimmt. Ihn hat ein Tintenfisch gebissen. Ein richtiger Biss war es freilich kaum, und auch kein richtiger Tintenfisch. Doch durch die Verletzung hat sich der Salzburger Buchstabenexperte eine Erbitterung zugetragen, für deren Stillung fünfzehn Bücher nötig waren, darunter seine Journale, die er nicht wie die meisten Menschen, die ein Tagebuch führen, privat hielt, sondern kurzerhand veröffentlichte – und dabei sogar Erfolg erntete. Ob man sowas darf?

Menasse scheint sich sehr zu wundern. Aber er scheint nicht sagen zu wollen, worüber genau er sich wundert. Wegen seiner verhältnismäßigen Berühmtheit reißt ihm die Kanonisierungsindustrie buchtäblich jedes Wort aus dem Mund: Buchstabe um Buchstabe. Stirnrunze um Stirnrunze. Bevor sich jedoch der allfällig feuertrunken herumtaumelnde Literaturfreund ewas von ihm erklären lassen kann, wird er aus der Hölle der Interpretation vertrieben und in das Paradies des wieder hergestellten Mythos versetzt. War das Österreich?

Ein Rundgang durch die Vergangenheit hat wenig Sinn. Ein Rundgang durch die Gegenwart ist kein Rundgang, sondern ein Stillstand. Ein Rundgang durch die Zukunft erweist sich als schlecht möglich. Manuskripte zeigen, was morgen gedruckt wird. Im Stadtpark ein Forum einrichten, das wäre schon was – nur eben leider nichts Neues. Immerhin könnte man da Schmetterlingen nachjagen. Und sich in vollen Zügen der Freundschaft hingeben. So wie Andrea Grill, deren Text „Freunde“ 2007 während der Tage der deutschsprachigen Literatur allerdings von der unbarmherzigen Jury zerfetzt wurde – vor allem weil nicht hinreichend klar war, worum es darin ging. „Ein endloses Therapiegeschwätz zwischen zwei Leuten, die sich gegenseitig psychologisieren“, so etwa Iris Radisch. Man möchte da gleich in Anlehnung an Thomas Bernhard weiter schießen. Ist das Österreich? Oder: Wird es das sein?

Im Land der strömenden Tinte gilt die Urteilskraft nach wie vor als Geschmacksache. Es streicht sich ein jeder aufs Brot, was er will: von Musils Richtbildern, den ewigen Wahrheiten, die weder ewig noch wahr sind, bis zu Ludwig Lahers x-beliebigen Wahr-Zeichen. Ließe sich dieses Land in seiner schreibenden Form als Wirtshausobjekt vorstellen, so würde einem das Wasser im Munde zusammenlaufen, ohne dass man genau wissen würde, warum. Kann man da was machen? Österreich schmeckt halt nach Eigenschaften, die es noch gibt, und nach solchen, die es noch nicht gibt.