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Cinderella
Sie laufen durch die Straßen, Hand in Hand bis zum Park.
Und dann liegen sie zwischen knisterndem, welkem Laub und er über ihr. Sie streckt ihm ihr
Gesicht entgegen, ihre Hände erkunden seinen Körper, sie schiebt seinen Pullover hoch,
kalte Haut unter ihren Fingerspitzen.
Sie frieren, denn es ist Herbst, zittern, es stört sie nicht.
,,Kaja..."
Sie gibt keinen Ton von sich, aber ihre Finger wühlen durch das raschelnde Laub unter ihr,
krallen sich in der Erde fest, als wisse sie nicht mehr, wohin mit ihren Gefühlen.
Sie öffnet die Augen. Über ihr rauschen die Gipfel der Bäume. Ihr Gesichtsausdruck ist
verzückt, Daniel hat den Kopf abgewendet.
Von weiter weg hört man Kirchenglocken schlagen.
,,Cinderella ...", flüstert Kaja.
,,Schnitt!"
„Oh, tut mir leid!" Die Schauspielerin Kaja lächelt entschuldigend. ,,Das gehörte nicht mehr
zum Text."
,,Egal", meint der Regisseur. ,,Es passt dazu. Während die Leinwand wieder hochfährt,
findet der Szenenwechsel statt. Wir dunkeln ab, damit die überflüssigen Schauspieler
unbemerkt abgehen können. Dazu Musik."
,,Welche Musik?", fragt die Schauspielerin.
,,Wird noch geklärt. Ich habe bisher nicht mit Jörn geredet."
,,Der Musikmensch heißt Jörn?" Die Schauspielerin lacht.
,,Warum lachst du?", fragt der Regisseur.
,,Ich weiß nicht", antwortet sie. ,,Ich kannte mal einen Jörn."
Er ist bei ihr.
,,Ich wollte dich heute... nee... ich habe versucht, dich heute anzurufen (oder so ähnlich)",
erzählt Kaja und schüttelt verwirrt den Kopf, als hätte sie vergessen, was sie gesagt hat.
,,Das versteh ich nicht", fügt sie hinzu.
Sie streckt die Hand aus, um ihn zu berühren, zieht sie aber wieder zurück.
,Ohne Handbewegung' notiert sich der Regisseur. ,Sie will ihn nicht berühren.'
,,Wieso hast du nicht gefragt, ob ich mitkommen will?"
,,Ich wusste nicht, ob du Zeit hast."
,,Dass du da bist", sagt die Souffleuse.
,,Ich wusste nicht, dass du da bist", wiederholt Daniel.
„Ich wusste nicht, dass du da bist, ob du Zeit hast", sagt die Souffleuse und verdreht die
Augen.
,,Das ist ja bescheuert", erwidert der Hauptdarsteller.
,,Du sagst es trotzdem." Das war der Regisseur.
,,Ich wusste nicht, dass du da bist, ob du Zeit hast."
,,Aber natürlich! Ich hab' es dir doch gesagt!"
,Beide zu übertrieben', notiert sich der Regisseur.
,,Hast du nicht. Ich hab' dich gestern angerufen!" Daniel klingt noch nicht richtig wütend.
Notiz des Regisseurs: ,Wütender?'
,,Nein, ich habe dich angerufen! Was für ein Unsinn! Du hast erst heute angerufen! Äh ...
und ich habe es dir gesagt!", ruft Kaja und die Schauspielerin murmelt „Was soll das für ein
Satz sein" in sich hinein.
Offensichtlich hat der Regisseur sie gehört, denn er sagt: ,,Mangelnde Kommunikation
zwischen dir und Daniel.".
,,Ehrlich gesagt mangle ich bei diesem Text schon an meiner eigenen Kommunikation!",
erklärt die Hauptdarstellerin, sieht dabei aber ein bisschen traurig aus.
,,Was? Nein... Ach so! Ich dachte, du wärst jemand anderes!", fährt Daniel fort.
„Jemand anderes? Aber wer hätte ich denn sein sollen? Was redest du da?" Kajas
Verwirrung wirkt echt.
,Schön', notiert sich der Regisseur.
Daniel steht am Fenster, rauchend.
Auch Kajas Blick wandert zum Fenster. ,,Seltsam, dass es nicht regnet", sagt sie.
,,In solchen Situationen regnet es normalerweise immer."
Dann verzieht sie das Gesicht, als würde sie an etwas Bestimmtes denken.
Kamera an. Es regnet. Sie stehen bei ihrem Auto und er umarmt sie und drückt sie an sich.
Ihr Gesicht ist in seiner Jacke vergraben und sie schweigt, wohl weil sie sonst in Tränen
ausbrechen würde. Schließlich löst er sich sanft von ihr.
„Du darfst nicht weinen, hörst du? Das bricht mir das Herz...", sagt er, aber ihre Züge
zerfallen bereits und sie dreht sich abrupt von ihm weg und wühlt hektisch in ihrer Tasche.
Und er geht.
Sie holt tief Luft, dann noch einmal und dann: ,,Ich ruf dich morgen vielleicht noch mal an!"
Am Ende des Satzes bricht ihre Stimme.
Zoom auf ihr Gesicht. Tränen laufen ihr über die Wangen wie vorher der Regen.
,,Schnitt"
,,Was für ein Jammer'', sagt Daniel. Mehr nicht.
Kaja starrt an die Wand. ,,Mach bitte das Fenster auf. Ich hasse den Geruch von abgestandenem
Rauch in der Wohnung."
Daniel öffnet das Fenster. Kalte Luft strömt in den Raum. Kaja friert. Daniel raucht. Daniel
drückt seine Zigarette aus und schließt das Fenster wieder. Kaja steht auf und kocht Tee.
Daniel setzt sich auf das Sofa und beobachtet sie.
,,Was meinst du - wollen wir es noch einmal miteinander versuchen?", fragt er leise.
„Okay, danke." Der Regisseur steht auf und betritt die Bühne. ,,Diese Version hat mir bisher
am besten gefallen. Kaja, ich fand es gut, dass du deine Gefühle sehr stark auf dein Gesicht
übertrage_n hast. Das genaue Gegenteil von dem, was Daniel macht. Durch den Gegensatz
ist euer Spiel interessant geworden. Versucht noch mehr, die Distanz zwischen euch zu
zeigen. Ihr seid zwei Pole, die sich jedes Mal, wenn sie sich näher kommen, sofort abstoßen.
Bei euch gibt es absolut keine Gemeinsamkeit mehr, verstanden?"
Nach der Probe haben die Hauptdarstellerin und der Hauptdarsteller in der Umkleide Sex
miteinander. Irgendwann klopft der Regieassistent entnervt gegen die Tür.
,,Beeilt euch mal, ich will endlich zusperren!"
,,Dann sperr uns einfach ein...", flüstert die Hauptdarstellerin, so leise, dass niemand es hört,
und dann: ,,Daniel..."
,,Aber wir sind nicht mehr im Stück", murmelt der Hauptdarsteller.
Schließlich ziehen sich die beiden an.