Uschi Dimper

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Wie ein Stein


Nach dem Mittagessen gehen alle in den Garten. Ich bleibe lieber im Haus. Die Flure und
Zimmer sind dann leer. Man kann duschen, ohne dass ständig an die Tür geklopft wird oder
man kann sich aufs Bett legen und nachdenken. Als ich mein Zimmer betrete, sitzt Cyril
auf meinem Bett. Die Sonnenstrahlen vom Fenster sprühen Funken in sein Haar. Er lacht
und legt den Zeigefinger auf den Mund. Ich freue mich wie toll darüber, dass er da ist.
Ich laufe zu ihm und will ihm durch die Haare fahren, aber wie immer duckt er sich unter
meiner Hand weg.


   Wir legen uns auf mein Bett und einer schlägt vor, worüber wir nachdenken wollen. Ich
sage Weihnachten. Wir schließen die Augen und ich sehe mich mit meinem Bruder und meinen Eltern Geschenke auspacken. Cyril sagt Ferien und ich rieche das Meer und fühle die
Sonne auf meiner Haut. Aber meine Familie ist nicht bei mir und ich werde traurig, darum
sage ich Fliegen. Ich sehe mich auf dem Balkon meines Zimmers stehen. Ich klettere auf
das Geländer, breite die Arme aus und gleite sanft in den Garten hinunter.


   Ich bin wohl eingeschlafen denn plötzlich steht die neue junge Ärztin an meinem Bett.
Sie ist nett. ,,Wie geht es Ihnen heute?" Ich darf nichts Falsches sagen, darum lächle ich sie
an. Sie weiß nicht, dass Cyril hier war. Jetzt öffnet sie das Fenster. ,,So schönes Wetter! Sie
sollten auch ein wenig·an die Sonne gehen." Damit ich nichts falsch mache, stehe ich auf
und hole meinen Mantel aus dem Schrank.


   Im Garten scheint die Sonne. Die Leute auf den Kieswegen haben ihre Jacken
ausgezogen und sie um die Schultern gehängt. Alle Bänke sind besetzt. Ich gehe zum
Apfelbaum an der Mauer, da kann man alleine sein. Aber heute lehnt da ein Mann mit dem
Rücken am Baumstamm. Er raucht und schaut auf den Boden. Ich drehe mich um und will
wieder ins Haus gehen. Da ruft er mir nach „Hej!" Er hat sehr helle Augen und dunkle
Bartstoppeln. ,,Hast du Angst vor mir?" Ich mag das Wort nicht und presse die Lippen
zusammen. Da werden seine Züge weich und er sieht aus wie Eric, mein Bruder.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht ärgern. Ich bin nur ein bisschen durcheinander." - ,,Dein
erster Tag?" frage ich. - ,,Ja. Und du?" - Ich schweige wieder. ,,Ist ja egal. Weißt du, wo es
hier etwas zum Kiffen gibt?" - ,,Zum Kiffen kann man am Sonntag während der Andacht
kaufen. Aber pass bloß auf." ,,Du bist nett." sagt er. ,,Übrigens, ich heiße Tom." - ,,Kaja. Aber jetzt muss ich gehen. Cyril wartet auf mich." - ,,Dein Freund?"


   Vor dem Abendessen ist immer Besprechung. Ich klopfe am Stationszimmer an und
gehe hinein. Die neue Ärztin hat gütige blaue Augen. Der Stationsarzt sieht mich an, wie
einen Gegenstand. ,,Wie geht es Ihnen?" Sie wollen immer herausbekommen, ob man
etwas Falsches denkt. ,,Können Sie schlafen?" Ich schaue auf das Muster auf meinen
Hausschuhen und nicke. Sie versuchen es noch eine Weile. Dann bin ich fertig.


   Im Fernsehraum sitzen die anderen. Ständig klingelt das Telefon an der Wand und einer
steht immer auf und hebt ab und sagt „Station 2B". Wir sitzen in den abgeschabten
Kunstledersesseln vor dem Fernseher und starren auf den Bildschirm, auf dem eine
hübsche Frau mit einem hübschen Mann tanzt. Hinter dem Fernseher steht der Kickertisch
und 4 Jugendliche drehen mit unbewegten Gesichtern an den Griffen. Das Klackern der
Kugel vermischt sich mit der Musik aus dem Fernseher. Einige Frauen stricken. Ab und zu
geht jemand zum Rauchen auf den kleinen vergitterten Balkon und kommt zurück. Ich kann
nicht lange ruhig sitzen. Darum gehe ich ins Treppenhaus und fahre mit dem Lift in den
Keller hinunter, wo die Automaten aufgestellt sind. Ich werfe Münzen ein und ein
Schokoriegel fällt in das Ausgabefach. Der Lift ist inzwischen hochgefahren. Als er wieder
da ist und sich die automatische Türe öffnet, kommt Tom heraus. Er grinst „Na, was Süßes
für die Nacht besorgt?" Er lässt am anderen Automaten eine Packung Zigaretten heraus.
,,Kommst du mit zum Rauchen?"


   Die Glastüre zum Garten ist abends abgesperrt, aber man kann vom Toilettenfenster im
Erdgeschoß in den Garten steigen. Wenn man sich zwischen die Mauer und den Apfelbaum
stellt, wird man vom Haus nicht gesehen. Es ist die Zeit, wenn die Dämmerung in die Nacht
übergeht. Die Vögel sind verstummt. Von dem Haus mit den erleuchteten Fenstern dringt
kein Geräusch hierher. Toms Zigarette glüht auf. ,,Warum bist du hier?" fragt er. Ich beiße in
meinen Schokoriegel. ,,Ich bin vom Balkon gesprungen." - ,,Wirst schon einen Grund gehabt
haben." - ,,Ich weiß nicht. Und du?" - ,,Ich hab nen zu starken Stoff erwischt. Das ist alles."
Er wirft die Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. ,,Schmeckt die Schokolade?" Plötzlich
steht er ganz nahe vor mir und fasst mich am Kinn. ,,Du bist hübsch. Besucht dich hier
jemand?" Ich rieche den Rauch in seinem Atem. ,,Ich muß gehen. Sonst kriege ich Ärger."
- ,,Sehen wir uns morgen?" ruft er mir nach.


   In der Station hat mich niemand vermisst. Ich ziehe meinen Bademantel an und sperre
mich im Duschraum ein. Ich lasse das Wasser laufen, setze mich auf den Boden und lehne
den Kopf an die Duschkabine. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Erics Gesicht.
Er lächelt und seine Züge verschwimmen. Dann stelle ich mir meine Eltern vor. Ich vermisse
sie so. Wenn man etwas Falsches denkt, muss man die blauen Tabletten nehmen. Die
blauen Tabletten sind wie der Tod. Man fühlt sich nicht und es gibt keine Farben mehr. Es
gibt keine Freude und keine Trauer. Man ist nur noch da, wie ein Stein. Und alle falschen
Gedanken sind weg. Aber was hat ein Stein davon? Jemand klopft an die Tür. Ich drehe den
Wasserhahn zu und gehe hinaus.


   In meinem Zimmer lege ich mich mit dem Bademantel ins Bett. Auf dem
Nachttischschrank steht die Wasserflasche. Daneben liegt die Plastikschachtel mit den
4 Unterteilungen: ,,Morgens, Mittags, Nachmittags, Abends." In der Mulde für abends liegen
noch·die 2 kleinen gelben und die große weiße Tablette. Ich stecke sie in den Mund und
nehme einen Schluck Wasser. Dann liege ich auf dem Rücken und warte, bis die Tabletten
wirken. Es geht immer schnell.


   Am nächsten Abend lehnt Tom am Zigarettenautomaten. ,,Schön, dass du gekommen
bist." - ,,Ich hole mir abends immer Schokolade" wehre ich ab. Wir steigen wieder in den
Garten und verstecken uns hinter dem Apfelbaum. ,,Ich hab was zum Kiffen" sagt Tom.
„Wusstest du, dass man es auch beim Frühsport kaufen kann?" - ,,Kiffen interessiert mich
nicht." -,,Ich wäre froh, wenn ich das auch sagen könnte." - ,,Ich dachte, es macht dir Spaß."
- ,,Naja. Es hat mir auch schon 6 Monate Knast eingebracht und anschließend haben sie
mich hierher geschickt." - ,,Nur wegen Kiffen?" - ,,Ich hab's dir doch schon
einmal gesagt. Ich hab was zu Starkes erwischt. Und auf einmal bin ich in meinem Auto
gesessen und auf der Autobahn gefahren. Da waren tausend Lichter, die sind mir alle
entgegen gekommen. Und ein großes Licht fuhr direkt auf mich zu. Dann gab es einen
Riesenknall und ich bin über einen Feuerwagen geflogen. Als ich wieder zu mir gekommen
bin, haben sie mir gesagt, dass in dem anderen Auto eine Familie gesessen ist. Die sind
alle verbrannt, nur das Mädchen ist heraus geschleudert worden.


   Rot. Rot. Alles brennt. Die Feuerschlangen kriechen meine Beine hoch. In der Feme
jaulen Sirenen. Alle Tabletten in meinem Magen rotten sich zusammen, bilden einen
Klumpen und werden durch meine Speiseröhre nach oben katapultiert. Jemand schreit
so laut, dass ich mir die Ohren zuhalte. Es ist meine Stimme. Die Glastüren zum Garten
werden aufgestoßen und sie kommen zum Apfelbaum gelaufen. Tom wirft ein Päckchen
über die Mauer. Sie drehen mir die Arme nach hinten. Ich warte auf den Nadelstich
in meiner Armbeuge. Dann lasse ich mich fallen.

 

   Schwaches Licht vom Fenster erhellt den kleinen Raum. Ich liege in einem Bett. Es kann

die Morgen- oder Abenddämmerung sein. Von der Decke beobachtet mich das Auge einer
Kamera. Über der Zimmertür hängt ein Kreuz. Ich fühle mich komisch, so als hätte ich nichts mit mir zu tun. Eine große Gleichgültigkeit ist in mir. Ich starre auf das Fenster bis die
Tür aufgeht und sie hereinkommen. Die Ärztin setzt sich zu mir ans Bett und nimmt meine
Hand. ,,Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht." Ich nicke. Jeder Gedanke bereitet mir
unendliche Mühe. ,,Wissen Sie, warum Sie hier sind?" Meine Zunge ist ein klebriger Stein,
der die Worte formt, die sie hören will: ,,Meine Eltern und mein Bruder sind im Auto
verbrannt. Da wollte ich auch nicht mehr leben." Sie lächelt mich an „Was ist mit Cyril?" -
„Cyril habe ich mir ausgedacht." Jetzt steht sie auf. - ,,Sie können in den nächsten Tagen
wieder auf Ihre Station zurück." Später kommt die Nachtschwester. Sie reicht mir ein Glas
Wasser und wartet, bis ich meine Tabletten genommen habe. Sie sind blau.