Helgoland
Ein Zitronenbaum – immer in Blüte – stand wie ein exotischer Gast in seinem großen schwarzen Topf neben der Kasse in Frau Popkins Laden. Der süße Duft breitete sich überall in dem kleinen vollgestopften Raum aus, und in diesem heißen Sommer überdeckte er selbst den Geruch der Süßigkeiten, die sie hier verkaufte. Wir waren 16, und Kasimir und ich kauften Eis bei Frau Popkins. Für Eis ist man nie zu alt, sagte sie, betrachtete uns dabei aber mißtrauisch, zwei Jungen, die hier Arm in Arm hereinspaziert kamen, zu alt für solche Spielereien. Frau Popkins verkaufte drei Sorten Eis: Vanille, Schokolade und Erdbeer. Kasimir war ein Erdbeermann, ich aß Vanille. Wir standen an der Kasse, leckten die schmelzenden Kugeln rundherum glatt und rochen an den weißlich-gelben Blüten des Zitronenbaums. Frau Popkins, trotz ihres Mißtrauens oder Mißfallens (wir wußten es nicht genau) über unsere Umarmungen, war froh um die Gesellschaft. Der Zitronenbaum, erzählte sie, sei per Fähre von einer indischen Freundin aus Cuxhaven gekommen, ein Geschenk zum Siebzigsten. Hinter ihrem Rücken schüttelte Kasimir den Kopf und erklärte später, daß die Geschichte von vorn bis hinten erfunden sei. Frau Popkins war nie von Helgoland weg gekommen, und in Cuxhaven gäbe es doch keine Inder, geschweige denn solche, die Zitronenbäume verschenkten. Warum sie sich die Geschichte ausdenken sollte, fragte ich. Kasimir zuckte mit den Schultern. Um sich interessant zu machen? Oder weil es ihr peinlich ist, daß sie einen Zitronenbaum gekauft hat? Was weiß ich!
Als er fünf war, hatte Kasimirs Familie drei Jahre in Indonesien verbracht, zuerst auf Sumatra, dann auf Lombok. Der Vater, ein Meeresbiologe, an den ich mich nur ungenau erinnere, den ich aber immer schmal und mit Bart vor mir sehe, hatte hier irgendwelche Studien über Korallen betrieben. In diesem Sommer, dem Sommer, als sie mich auf eine Woche nach Helgoland einluden, war die Familie – Eltern, Kasimir und seine jüngere Schwester – gerade aus Indonesien zurückgekehrt, ihrem ersten Besuch seit acht Jahren. Nicht der Zitronenbaum also, sondern Kasimir selbst hatte in diesem Sommer etwas Exotisches an sich, das den ganzen langen Weg aus Asien mit ihm zurück gereist war, das ihm anhaftete wie ein Geruch, eine Art Ausstrahlung, oder vielleicht bemerkte ich allein diese Ausstrahlung, hinter der ich all die Pflanzen und Insekten vermutete, die er auf seiner Reise gesehen hatte, das Wasser des Indischen Ozeans und der Javasee, das Unterwasser, die überwachsenen Tempel, die üppig beladenen Mittagstische in irgend einer Hütte an irgend einem Strand, die mächtige Sonne, wenn bei uns tiefste Nacht herrschte. Alles trug er mit sich herum durch die windigen Straßen Helgolands, vorbei an den bunten Häusern, die wie Spielhäuser aussahen. Ich fühlte es, jedesmal wenn ich ihn anfaßte. Vor allem aber fühlte ich die Sonne. Nicht die Sonne der Hitzewelle jenes Sommers, sondern die indonesisiche Sonne, deren robuste Wärme seinem Körper entstieg. Kasimir legte mir den Arm um die Schultern, führte mich spazieren, führte mich zu Frau Popkins, kaufte mir Eis, ruderte in dem Boot, das seine Eltern im Hafen hatten, mit mir zur Düne (einmal kenterten wir fast), wo wir im Schatten lagen, dicht, Seite an Seite, oder in der Nordsee badeten, dicht, Seite an Seite. Er rollte im Sand über mich hinweg, er kaufte mir Cola, und der Sand blieb am Flaschenrand kleben, wenn wir getrunken hatten. Nichts entging mir. Gierig verfolgte ich jede seiner Bewegungen, jeden seiner wippenden Schritte, wie er an seinen Fingern kaute, wie er im Sand auf der Seite um ein Buch gekauert lag. Doch Kasimir wirkte immer abwesend. Er tat als höre er zu, wenn wir sprachen, aber an seinem Blick erkannte ich, daß er mit den Gedanken ganz woanders war. Wenn wir spazierengingen, sprach er nur wenig, lächelte bloß auf meine vielen Fragen hin.
Abends spielten wir mit seiner Mutter und Schwester Doppelkopf. Die Mutter rauchte Kette und kommentierte unser miserables Spiel. Neben ihr füllte sich im Laufe des Abends der Aschenbecher, und mit nervösen, zitternden, strangulierenden Bewegungen drückte sie die Camel-Kippen darin aus, wobei sie aber nie die Augen von dem karrierten Block wandte, auf dem sie den Punktestand führte. Ihre zigaretten- und kartenlose Linke umfaßte ein Glas Whiskey, das Kasimir auf ihre ungeduldigen Zeichen hin nachschenkte. Je schlechter wir spielten, desto schneller rauchte sie, knallte die Karten auf den Tisch. Unter dem Tisch stieß Kasimir mich mit dem Fuß an. Er lächelte (nicht abwesend), und seine Mutter fragte, was es zu lachen gäbe, ob er unser elendes Spiel vielleicht auch noch amüsant fände.
Am Morgen stand sie als erste auf, nicht im geringsten beeinträchtigt von den Folgen des Whiskeys und der Zigaretten der vergangenen Nacht. Beim Frühstück fragte sie nach unseren Plänen für den Tag, und da Kasimir nicht antwortete, berichtete ich, was wir vorhatten. Doch seine Mutter hörte nie zu, blätterte weiter in der Zeitung, blickte hin und wieder besorgt auf ihren Sohn, der schweigend zwischen ihr und meinem Geplapper saß.
An dem Tag, als ich Kasimir meine Liebe offenbarte, waren wir den ganzen Morgen rudern gewesen, zwischen Insel und Düne, bis zur Langen Anna, zurück zur Düne. Ich hatte einen schlimmen Sonnenbrand, und erschöpft schleppten wir uns am Nachmittag zu Frau Popkins, die uns zwei Eis spendierte. Wir standen an der Kasse, außer uns war niemand im Laden, wir leckten Erdbeer und Vanille. Und dort an der Kasse, mit dem geschenkten schmelzenden Eis in der Hand, verschwitzt, verbrannt, benebelt vom Duft der indischen Zitrone, direkt vor Frau Popkins und statt auf Kasimir immer auf ein Stück Silberpapier von einer Kaugummiverpackung blickend, das hier jemand achtlos auf den Boden hatte fallen lassen und das nun in den staubigen Sonnenstrahlen des Nachmittags wie ein Insekt zu meinen Füßen flickerte, offenbarte ich Kasimir meine Liebe. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, aber die Worte sprudelten förmlich aus mir heraus, Sonnenstichworte, wirr und rasch und leidenschaftlich, voller Überzeugung, ohne Überwindung, Beichte, Schwemme, Erlösung; Kasimir blickte mich amüsiert an (nicht abwesend) und als ich fertig war, sagte er Danke. Weiter nichts. Frau Popkins blickte mich voller Spannung an, eine atem-anhaltende Minute lang standen wir alle drei da, dann lachte ich amüsiert (abwesend) und sagte War nur ein Witz. Kasimir legte mir den Arm um die Schultern (wie immer), und wir gingen nach Hause. Mir war schlecht. Die letzten Tage hatte ich mich stolz gefühlt und schön und unschlagbar, doch die dick gepolsterte Welt der Verliebtheit, die Minuten zuvor noch unerforschbar und voller mysteriöser Versprechen gewesen war, hatte sich jetzt aufgelöst, gehörte zu der Zeit vor meiner Offenbarung, hatte sich in eine Erinnerung verwandelt, die mich entblößt und verbrannt in der staken Nachmittagssonne stehen ließ.
An diesem Abend spielten wir wie immer Karten. Wir spielten besser als an den anderen Abenden, ja ich gewann sogar zusammen mit Kasimirs Mutter drei Spiele hintereinander, was dieser unendliches Vergnügen und ihren Verliererkindern gegenüber grenzenlose Schadenfreude bereitete. Die Karten knallten auf den Tisch. Pikus heißt der Hühnerhund. Zwei Herzen im Dreivierteltakt. Dann, mitten im letzten Spiel – wir waren übermüdet, der Aschenbecher voll, ich hatte ausgerechnet gerade eine Hochzeit – unterbrach sie alles, warf die Karten hin und schoß von ihrem Stuhl hoch. Kasimir, das Geschenk, wir haben ja total das Geschenk vergessen. Sie lief aus dem Zimmer, kam mit einer roten Plastiktüte des Guran-Guran Supermarktes zurück, die sie vor mir auf dem Tisch absetzte. Langsam, mit schmerzenden Fingern (sogar meine Hände waren verbrannt), streifte ich die Tüte ab, in der sich eine kopfgroße Korallenversteinerung befand, die nun zwischen uns, auf den hingeworfenen Karten lag. Verlegen blickte Kasimir auf die Koralle und ich auf Kasimir, und die ganze Hoffnungslosigkeit der Jugend lag zwischen uns.
In dieser Nacht riß mich etwas abrupt aus dem Schlaf. Es war kein Geräusch oder ein plötzlich aufflackerndes Licht, es war kein Sonnenbrandschmerz oder ein Schnarchen im Nebenzimmer. Es war ein süßer Geruch. Ich schnupperte, Nase gekräuselt, an Laken, Decke und Kissen. Nichts Süßes. Ein Nordseewind kam vom offenen Fenster herein. Nichts Süßes. Ich nahm die Koralle vom Nachttisch und roch daran, doch strömte sie nur einen fernen Seeduft aus. Und erst jetzt merkte ich (Koralle im Schoß), daß der plötzliche klammernde Geruch von mir selbst her kam, ein Geruch, der direkt auf meiner rotverbrannten Haut saß, so dicht, daß ich ihn zwischen Wachen und Schlafen förmlich spüren konnte, mit all seinen Pflanzen und Insekten, seinem javanesischen Unterwasser, seinen kühlen Mittagstischen und der gewaltigen Sonne, die mich vielleicht irgendwann schmerzend und ohne ein Angebot von Schatten wieder zum Leben erwecken würde.