Wolfram Hirche

 

Der ewige Major


Der alte Major schaut durch das Fenster hinaus auf den Frauenplan. Diesen berühmten Platz im Zentrum der Welt. Sein Blick ist unruhig, verfolgt die jungen, tollenden Dalmatiner, die Bäume und Rasen wässern. Das gab es früher nicht. Nicht von so teuren Hunden. Und das ist entscheidend-historisch.
Weimar 1995. Touristen fahren jetzt mit ihren panzerartigen Groß-Limousinen aus München vor oder Stuttgart und jagen ihre Windhunde über das Gras. Windspiele, diese zerbrechlichen Züchtungen, die im Winter alle eingehen, über kurz oder lang. Hier jedenfalls. Oder prätentiöse Afghanen.
Er liebt Hunde. Hat von seinem letzten noch ein Foto an der Wand, einem Schäferhund. Aber nicht vom Todesstreifen, dieses Klischee nicht. Er taufte ihn „Koba“. Er muss lächeln, in sich hinein, da ist nicht mehr viel, nicht innen und nicht außen; es ist ja niemand mehr da, der es sehen könnte, sein Büro ist leer. Die Wände sind leer, bis auf dieses Foto. Da war er nicht angreifbar gewesen, nicht mit dem Ansatz „Hund“ - es gab genug anderes. Man musste sich ja angreifbar machen, gezielt, man durfte keinesfalls unfehlbar erscheinen, die Unfehlbaren lebten gefährlich, sie wurden liquidiert - er leistete sich absichtlich kleine, nebensächliche Schwächen. Sein Hang zu schnellen westlichen Cabrios etwa und zu Schiller, die frühen Dramen, aber schweifen wir nicht ab. Er neigt zum Abschweifen neuerdings - Disziplinlosigkeit! Das ist er nicht gewöhnt an sich, das hat es nicht gegeben zu seiner Zeit.
Die Akten werden nach und nach geöffnet. Klar, sie wollen ihn holen. Wollen ihn, flüstert er, „grillen“. Er flüstert viel an seine leeren Wände hin. Die Vorladung liegt auf dem Tisch. Ein geschlossenes blaues Kuvert. Er muss es gar nicht öffnen. Der Postbote, immer noch derselbe, hat ihn angegrinst, „jetzt bist du dran“. Dabei hatte der Major ihm ein Jagdrevier verschafft, damals 1981, aber das ist vergessen. Hasenbraten-Privileg! Sie haben alles Positive vergessen, - Opportunitätsamnesie. Nur das „du“ blieb kleben, Egalitätsnostalgie! Ein Hass-Du.
Das Fenster führt direkt hinaus auf den Frauenplan. Diesen Platz des Alten, Goethes Platz. Er lehnt die Stirn an die Scheibe. Diese schmerzhafte Bewegung des Mundes. Der Kiefer scheint erstarrt. Er spürt den Kopf als riesigen, schweren Granit auf dem Rumpf, grau und fremd, den er aus dem Weg rollen sollte, langsam, vorsichtig, in eine Ecke des Zimmers oder unter einen Baum, damit er endlich Ruhe hätte. Gegenüber drängen sich noch immer zu Hunderten die Fremden vor dem Haus Nummer Zwei, und davor auf dem Rasen noch immer das Spiel der Windhunde und Dalmatiner, kreischende Kinder. Es gab keine persönliche Schuld. Da waren allerdings die Akten. Ein paar dunkle Punkte. Sollten sie seine Akten nur einsehen, die eifrigen Geiferer! Er, der Major gehörte nicht zu denen, die irgendwelche Akten einsehen wollten. ER gehörte zu denen, die diese Akten angelegt hatten, anlegen ließen. Es musste sein. Mit Fleiß und Disziplin, jahrzehntelang. Das war kein kurzer, billiger Flirt mit der Geschichte. Man baute etwas Neues auf, nie da Gewesenes! Den Neuen Menschen.
Er konnte sich in Rage denken, wenn er so am Fenster stand, den unsinnig tändelnden Tieren und Touristen draußen zusah und den Kopf gegen die Scheibe presste, schmerzend und matt. Es war ja nicht so, dass man das aus Lust tat, aus Witz, Macht- oder Geldgier. Opferbereitschaft! Disziplin! Seine Erkenntnis der historischen Situation und die bestürzende Unreife der anderen, der Massen, die man zwingen musste, und je mehr man sie zwang, desto weniger sahen sie ein, widersetzten sich heftiger, dieser Kreis aus Erkenntnis, Notwendigkeit, Widerstand, Zwang.
Müde sieht er zu, wie seine Hand nach der Fliege schnappt. Erinnerung, wie er noch im Sommer vor der „Wende“, die Wespen von oben zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und ihren Kopf abtrennte mit einem kurzen Knipsen seines Daumennagels. Auch dass seine Hand jetzt auf der Fensterbank vor ihm liegt wie ein fremdes, starres Tier, schwer atmend, zitternd, die Fliege verfehlt. Diese Hand taugt nichts mehr.
Auch dieser Dichter dort gegenüber taugt nichts, politisch. Was suchen die Leute da drüben in seinem Haus, als gäbe es dort Ammoniten seines Geistes, Gedankenskelette in den verlassenen Stollen seines Wortbergwerks? Warum überfallen sie zu Tausenden das Gartenhaus drüben im Park, überschwemmen den „Weißen Schwan“, der für ihn, den Major, längst unbezahlbar geworden ist. „Salve“, er spuckt es aus und einige Tropfen aus seinem Mund bleiben an der Fensterscheibe hängen und laufen langsam nach unten. Begegnen der Fliege, die daran zu schnuppern scheint.
Wenn dieser Arm nicht so taub wäre, ich würde hinübergehen und dich greifen, Dichter, jetzt, da alles offen liegt. Man hat genug Dokumente gefunden gegen dich und ausgewertet. Die „Campagne in Frankreich“ etwa mit deinem Hass auf die Französische Revolution. „Liberté“ - gehasst, „Egalité“ - gehasst - von „Fraternité“ ganz zu schweigen. Und wie du danach plötzlich versuchst, dich einzuschmeicheln bei Bonaparte, durchschaut, mein Lieber, das zieht nicht mehr. Dieser Kaiser hat dich abgehakt, ich kenne ihn gut, du stehst auf seiner Liste. Abschuss, Ende, finito. Unser großer Dichter, der sich als Schoßhund der Frauen und Monarchen durchs Leben schnorrt, Lebenskünstler, Lebenslügner!
Ach Major, sagt er leise, haucht es, während er die Lippen an die Scheiben presst, du hast doch auch nur Glück gehabt, im Grunde. Den Säuberungen immer knapp entgangen, Ulbricht, Stalin, Metternich, Napoleon, denn du hast die Akten konsequent verteidigt, die Idee, die Ordnung, die Disziplin. Blutige Ausreisser, gut, die gibt es nun mal, Treue zur Sache entscheidend. Du wählst nur einmal, auf welcher Seite du stehst in der Geschichte, aber der da drüben hat einfach konzeptlos weitergewurstelt und unverschämtes Glück gehabt, der sogenannte Dichterfürst, dass ihm die „Wende“ erspart blieb nach 1789. Hat sie einfach ignoriert! Bis jetzt. Aber ich werde dich kriegen - ich bin deine Wende, hörst du, Hofkakerlake, durchtriebene!
Ich habe dich in den Akten, mein lieber J.W. G., und zwar nicht erst seit gestern. Erinnerst du dich beispielsweise an den Nachmittag des sechsten August 1812 in Bad Teplitz, als du mit Beethoven der kaiserlich-habsburgischen Kalesche begegnet bist - wie du gebuckelt hast, ja ja, dein wahrer Lakaien-Charakter! Weißt du noch, wie unser Ludwig van - IM mit dem Namen „Genie“ sich damals über dich mokierte, als du gar nicht mehr hochkommen wolltest aus deiner Verbeugung? Ja, da staunst du, dass wir den auch bei uns hatten. Es war nicht leicht mit ihm, im Dienst der guten Sache - ohne einen Taler Bezahlung. Anders als die kleine Dicke, unsere IM Kleopatra, die du viel zu spät geheiratet hast. Vier Kinder zeugen aber nicht heiraten oder waren es fünf? Bis auf August alle blitzschnell gestorben - sie hat sich gerächt. Sie hatte dich längst satt, deine Versprechungen und Gespielinnen, das Herumlavieren am Hof dieses lächerlichen Herzogs, ahntest du das wirklich nicht? Sie stand nun wirklich 15 Jahre lang auf meiner Gehaltsliste, aber auch noch ganz andere - meine eiserne Diskretion - haben mich mit Infos gefüttert über den Weltberühmten. Ich, der Major, die Spinne im Zentrum des Netzes. Alle Fäden in meiner Hand! Und dieser Dichter, in Wahrheit längst erledigt, passé! Wenn meine Hand nicht so taub wäre, die Lippen, meine Zungenschwere, dieser Poet, zappelndes Insekt im Netz. Gleich werde ich ihn herauspflücken. Werde hinübergehen und ihn einfach packen und zwischen Dalmatinern und kreischenden Touristen hindurch hinunterschleifen in meinen Keller, schnell von oben zwischen Kopf und Schulter greifen, ausknipsen mit beiden Händen.
Die Geschichte weiß, dass sie mich braucht - mein Organisationstalent, meine Verbindungen, meine präzise Kenntnis des gesamten Netzwerks - unentbehrlich! Bitte, meine Herren Kapital-Demokraten, öffnen, öffnen Sie nur alle Schränke. Sie werden staunen, wen Sie alles finden. Eckermann, natürlich, den authentischen IM „Sekretär“, den besten, den wir je hatten, den dieser Dichter in seinem Geiz fast hätte verhungern lassen. Niemandem, glauben Sie mir meine Herren, habe ich Unrecht getan, historisch gesehen! Niemandem geschadet, alles ist minutiös belegt - Kontakte zu Metternich, Mitterrand, Molotow - alles in den Akten hier, kommen Sie, kontrollieren Sie nur, Kellergewölbe voller gelber Akten - oder glauben Sie, er gehörte doch zu uns, ohne dass ich es wusste - egal, denn es darf hier kein Zaudern geben in diesem Job, keine feinen Nuancen - nur den vollsten Einsatz, hopp oder topp! Und er weiß es, der Dichterfürst, oh ja, er kennt die Spielregeln wie kein zweiter.
Ja, jetzt wird er gleich seinen Schoppen trinken gehen, wie jeden Tag, wenn es dämmert, und dann, ja dann werden wir ihn hochnehmen. Meine Leute warten schon. Es wird leicht gehen und sehr sehr schnell!