Eike-Wolfgang Kornhass



                                                                                                 Für Friederike, Laura, Mareile und mich


Arkadien ist nirgendwo


I
Die Diagnose. Vor den Tränen ein Katarakt.
II
Ca. der glandula parotis li., pT3 pN2b pMx L1 VO Pn1 G2 R0. Totale Parotidektomie links mit Faszialisresektion und - rekonstruktion mit Hypoglosso-fazialer Anostomose, selektive Neck dissection links, Platinkettenimplantat linkes Oberlid 1, 2g, laterale Kanthopexie links. Achteinhalb Stunden OP, auch für Operateure ganz schön anstrengend, aber der Mann versteht sein Handwerk, die Ohrspeicheldrüse ist raus, außer dem Fazialis alle wichtigen Nerven gerettet, dito gottlob das Kiefergelenk. Die Gesichtsmuskeln linksseitig funktionieren halt nicht mehr, die Wange für den Rest des Lebens taub, kaum Lidschlag des linken Auges, nachts Polyphem oder händisches Zudrücken wie beim Halbtoten. Alles hängt, Mimik starr, kein Lächeln mehr, dafür saubere Nähte, Versace wäre begeistert, Maßarbeit mit delikatem Material, fein Stöffchen, Maestro. Im Spiegel eine Fratze, das bist nicht mehr du, aber dieser Andere lebt, nochmal davongekommen. Groteskerweise fast euphorische Anwandlungen: das Untier wurde delogiert, ist im Abfall gelandet, du bist befreit, dafür ist die Deformation kein zu hoher Preis, Leben als höchstes Gut des Menschleins?
II
Die Beratung vor den Folgebehandlungen ist Bastonade, Kielholen, lebendig häuten, Streckbett, eiserne Jungfrau und Elektroschock zugleich. Wie gern ich Herrn P. die Fresse eingeschlagen hätte.
III
Sechs Wochen später geht's los. Radiatio mit 65 Gy, 32 mal, simultane Chemotherapie mit 5FU, Cisplatin, ff.Gifte 14 Tage stationär, unsere Standardprophylaxe, ohne die haben Sie kaum Chancen, bei uns auf K 21 sind Sie in besten Händen. Das Geräusch, mit dem es pumpt und fließt, in mich hineinfließt, ähnelt dem ruhigen Lauf eines Riva-Bootsmotors, Gardasee, Gabriele D'Annunzio mit Freunden an Bord, weiße Leinengewänder, Havannas, Champagner, auf Ihre Gesundheit, Commendatore! Bevor ich Sie anschließe, sagt die Schwester, muß ich erst die Gummihandschuhe anziehen, möchte ja schließlich noch Kinder haben, gell? Zwanzig Stunden tagnächtlich läuft es in mich hinein, eine Woche lang, Pause, dann die zweite. Kotzen und Kacken, Kacken und Kotzen, taube oder schmerzende Glieder, schlurfender Gang, die linke Niere verkalkt, bedenkliche Werte, Blutdruck im Keller, Appetit vernichtet, Euphorie is nich mehr. Parallel dazu die tägliche Bequalung unten auf K 3, Herr K. bitte in Kabine 4, Herr K., das bin ich. Zahnschienen rein, grüne Hartschaum-Maske über das Gesicht, kaum Luft zum Atmen, Festschnallen auf dem Bestrahlungstisch, Klack und Klack, wenn's hier brennt, wie komme ich da raus, keine Bange, wir passen schon auf, sollen wir etwas Musik laufen lassen, das lenkt ab, Oldies, I can't get no satisfaction, natürlich nicht, kann schließlich kaum genug kriegen, die Ionenkanone über dir bewegt sich nahezu geräuschlos, alles heimtückisch schmerzfrei. Aber dann. Der blutig-offene Hals wird schon wieder abheilen, die täglich verschärfte Kiefersperre verhindert, daß du das Maul zu weit aufreißt und größere Brocken hineinschiebst, aber schlucken geht eh nicht mehr, kein Speichel, stattdessen Mukositis und Pilzbefall in der Mundhöhle, permanente Spülungen dagegen. Die künstliche Nahrung über den Schlauch im Bauch fließt prima und macht unabhängig gegenüber etwaigen kulinarischen Versuchungen, wozu auch verschiedene Geschmacksnoten, die eine ewig gleiche von der Astronautenkost reicht vollkommen, stinkt beim Stuhlgang höllisch und bei allen Partizipanten dieser Art von Speisung sozialistisch gleich. Schleim, Schleim, Schleim, Schleimwalzer, Schleimtango, Schleimrap. Spucken bis an die Grenze des Abkotzens. Damit lassen sich lästige Besucher prima in die Flucht speien. Verkümmerung zum vegetativ reagierenden Bündel, zum Einzeller, zur Amöbe ohne Libido, das Bewußtsein bestenfalls stand-by, alles wurscht, nachts tragen dich Lemuren ans Ufer des Styx, Charon winkt einladend, aber noch glimmt das blaue Flämmchen des Homunkulus, der durch frühkindliche Erinnerungsfetzen irrlichtert.
IV
Wieder zuhause. Die Dämmerung lichtet sich, unendlich langsam. Nachtmahre verblassen, hin und wieder leuchtet ein Gipfel oberhalb des Nebels. Uhren bleiben stehen, Lethargie und Fatigue als Dauergäste. Jede Bewegung führt zur Erschöpfung, trüber Blick, Verharren in der Matratzengruft über Wochen. Du bist statt beieinander nur noch auseinander. Aus der Plastiktüte vom Galgen „Cenaman” in die Magensonde, der halbe Tag geht damit rum, immer angehängt wie ein trauriger Köter. Du stinkst nach dem Zeug, deine Haut dünstet aus allen Poren. Die Aufnahmefähigkeit reicht gerade noch für Musik aus der Konserve, Verdis schwindsüchtige Traviata, Parsifal verheißt Erlösung, redemptio redemptori, Auferstehung in Liebe, hehre Klänge ins Ohr eines Troglodyten. Kaum Sozialkontakte, Besuche oder Anrufe tröstlich und lästig zugleich, Lesen fast unmöglich, das Auge tränt, der Mund immer schräger, Kiefer fortwährend enger, Artikulationsprobleme. Eßschwierigkeiten anhaltend, das Cisplatin hat den Appetit blockiert, massiver Gewichtsverlust; die Lymphflüssigkeit fließt schlecht ab, der Hals wird immer dicker, Marabu-Kropf, Beagle-Aug', Krokodilsgrinsen, seltsames Bestiarium. In Bad Reichenhall sind nur die Berge schön, die Reha-Klinik entläßt mich ungetröstet.
V
Rückkehr des Geistes, die Gankei wieder durchblutet. Befehl an den Körper, sich zu straffen, aufrecht zu gehen, Haltung auch sichtbar anzunehmen, nicht nur im Kopf. Das Gleichgewicht kehrt zurück, ebenso innerlich. Kampf um Disziplin. Das Außen wieder zulassen. Ab und an Rückkehr des Lachens. Ein herzliches Willkommen dem Fräulein Libido, Sie waren arg lange auf Reisen! Ebenso freundlich gegrüßt seien die Doktores vom Josephinum, denen die Entfernung der Magensonde zu verdanken ist. Und jetzt Bilanz ziehen, neue Wege beschreiten: Aufräumen, alles verkaufen, auch inneren Ballast abwerfen. Raus aus nistenden Kleingeistereien und blockierenden Bedenklichkeiten, Spontaneität zurückgewinnen, reisen, noch ein Buch schreiben, Paradigmenwechsel auf ganzer Linie. Komplementär dazu fundamentale Abrechnung, was hast du aus deinem Leben gemacht, was in der Welt bewegt? Allzuwenig jedenfalls. Stattdessen bequemes Verharren im Gewohnten, spießiger Nützlichkeit verpflichtet, für den Aufbruch zu neuen Territorien zu feig, von Poetisierung der Welt nur bei Novalis gelesen, selber bloß darüber gequatscht, vielmehr ein Arkadien beschworen, welches nicht einmal Winckelmann zu reklamieren sich getraut hätte. Derweil gratuliert die Umgebung zu deiner Veränderung, Riesenfortschritte gemacht, gut schaut er aus, ganz der Alte. Von wegen, vor euch steht ein ganz Neuer. Krankheit als Chance zur Menschwerdung, durch Krankheit geadelt, per aspera ad astra, geläutert durch Leiderfahrung, im Purgatorium von Zytostatika und Ionen gestählt, mit sich ins Gericht gegangen, rücksichtslose Selbstkritik, bescheiden geworden, wen Gott straft, den liebt er, geradezu christliche Demut, Glorienschein, Halleluja, Eure Heiligkeit! Oder aber das Modell Trotzkopf, warum nicht gleich Prometheus: Bedecke deinen Himmel, Zeus, mein Schicksal ist eine Zumutung, Beleidigung, bin doch kein angstblökendes Gotteslamm, erst durch die Revolte erlangt der Mensch seine Würde, unterscheidet sich von der Kreatur, erschaffe dich selber, der Starke ist am mächtigsten allein, Kraft durch Wut, was für ein Prachtkerl ist er doch jetzt geworden! Gemach Junge, komm runter: weder verleiht der Morbus die höheren Weihen noch bringt die Rebellion notwendigerweise Halbgötter hervor. Der neue Herr K., wenn er diesen Status denn überhaupt beanspruchen darf, unterscheidet sich vom alten vielleicht bloß in Nuancen. Und sollte er sich verändert haben, dann hätte er das niemals allein geschafft.
Nur zusammen werden wir beide auch die Kraft haben, Angst zu bannen, die Angst vor dem Rezidiv.