Oh wie schön ist Caritas Charons Helfer
Es war heiß. So heiß, dass mir der Schweiß heruntertropfte. Und es stank. In den Straßen standen Dreck und nasse Luft, sie war zum Schneiden. Nach fauligen Früchten roch sie, nach Gewürzen, Garam
Marsala, Curry, Nelke, Sandel, Verwesung, Tod. Kein Wunder, starben in den Straßen Kolkotas doch jede Minute die Menschen wie Fliegen. Beachtet vom blinzellosen Auge eines Buckelrinds bestenfalls.
Wer so starb, konnte froh sein. Der hatte etwas mitgenommen in Kalis Reich, den Blick eines heiligen Tieres. Die weniger Glücklichen trafen auf unsereinen. Wir waren überall. Noch ehe die Sonne
richtig aufgegangen war, schwärmten wir aus, flatterten durch den Dreck, die Kloaken und finsteren Winkel, um die Sterbenden, die die Nacht übrig gelassen hatte, einzusammeln. Wir hatten nichts im
Magen außer ein graues Stück Zwieback und eine Brühe, die entfernt an Tee erinnerte. Aber wir hatten einen Auftrag, eine Berufung.
Als ich in Kalkota gestrandet war ohne Geld und mit knurrendem Magen, wusste ich erst nicht recht, wohin ich mich wenden sollte. Die Stadt ist riesig, frisst sich stetig in das Umland, stapelt
Menschen übereinander, die weiß Gott woher kommen und weiß Gott was suchen. So landete ich bei Mutter Teresa und ihren Missionarinnen der Nächstenliebe. Nicht so sehr wegen meiner karitativen oder
ausgesprochen katholischen Neigungen. Eher aus Egoismus. Ich brauchte ein Bett und etwas zu essen. Also trat ich als Freiwilliger auf und bot mich an, Gutes zu tun im Namen der Schwestern. Der Deal
war schnell und ohne gröbere Gewissensprüfung gemacht, ich hatte immerhin gefürchtet, das Vaterunser aufsagen zu müssen. Stattdessen hatte mein Hundeblick genügt. Ich bekam ein Blechkreuz und das
vage Versprechen auf Kost und Logis. Wenn ich mithalf, das Hospiz der kleinen heiligen Frau mit Sterbenden zu füllen. Denn darin besteht die selbst auferlegte Aufgabe der Missionarinnen der
Nächstenliebe. Nicht der Gesundheitspflege, nicht der Ausspeisung der Armen, deren hier Legion sind, nicht dem Unterricht oder einem anderen Dienst an den Lebenden haben die Frauen ihr Leben geweiht.
Sondern der Sterbebegleitung.
Und die war für alle Beteiligten harte Arbeit.
Nach dem Wecken zu nachtschlafender Zeit, wiewohl es keinen Unterschied machte, denn in den schmutzigen Zellen, auf feuchten Matratzen, unter quälenden Wanzenbissen und in sauerstoffarmer Luft, war
an Schlafen nicht zu denken. Nach dem Wecken also ein Schöpfer Tee, ein Zwieback begleitet von frommem Gebet, dann gingen wir Freiwilligen mit dem Blechkreuz unserer Wege. Hinaus in die
Morgendämmerung zu den Resten der Nacht. Am Anfang war ich vorsichtig zwischen Dreck und Fäulnis balanciert, nach zwei Wochen machte mir die Berührung damit nicht mehr viel aus. Wir waren doch alle
Dreck und Staub, dazu würden wir vergehen in der Stunde unseres Todes.
Manche Sterbenden fand man leicht, sie lagen nahe dem Hospiz, verkrümmt, ihrer letzten Habseligkeiten beraubt, oft stöhnend. Ein Glücksfall für unsereinen. Ich ging näher, überprüfte, ob ich nicht
einer Sinnestäuschung erlegen sei. Schon einige Male hatte mich der Augenschein getrogen und ich hatte einen Haufen alter Fetzen und Zeitungen für einen Sterbenden gehalten. Besonders bei den Frauen
war es im Dämmerlicht schwierig, denn das, was von ihnen noch lebte, war meist nur ein Haufen Knochen und Sehnen unter einem dreckstarrenden Sari. Leicht konnte man hier irren und einfach
vorbeigehen.
Ich kam näher, sprach leise vor mich hin. Es kam nicht darauf an, was man sagte, Menschen in diesem Stadium verstehen nicht mehr, was man zu ihnen spricht. Nur die Tatsache des Sprechens war wichtig.
Das Bündel zuckte. Ein knochiger Unterschenkel, ein nackter Fuß mit sehr langen, sehr dreckigen Nägeln. Willst du mich treten? fragte ich sanft und beugte mich über den Haufen. Ein Knurren. Ich hielt
inne, wartete bis die Straßenbahn mit Getöse und Gerumpel vorbei war, dann kniete ich mich hin. Mein Freund, sagte ich, mein Freund, ich bin gekommen, um dir zu helfen. Das dünne, gelbe Bein
zappelte. Knurren. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, sammelte die losen Enden der Bekleidung zusammen und hob den Mann auf. Er stank nach Urin und Kot. Das Bein strampelte schwach. Es war immer
das Gleiche. Die Menschen können Hilfe nicht annehmen. Ein ganzer Orden kümmert sich exklusiv um sie, begleitet sie hingebungsvoll bei ihrem Schritt ins Ungewisse und sie sträuben sich.
Er war leicht, mühelos brachte ich ihn in Sicherheit. Die Schwester an der Pforte schrieb bedächtig in ihr schwarzes Buch. Sie malte jeden Buchstaben mit Umsicht. Ich war der erste heute, der einen
mitbrachte. Es war noch früh. Ich war stolz. Eine Seele gerettet. Praktisch gleich vor der Tür. Kali, Jesus und alle anderen Götter meinten es gut mit mir.
Bring ihn ins Sterbezimmer, sagte die Schwester, ohne mich oder den Mann, den ich schleppte, anzusehen und klappte das Buch zu. Aus dem Augenwinkel sah ich meinen Zimmergenossen, der eben zur Tür
hereinstolperte. Er schleifte eine Frau hinter sich her, die gurgelnde Geräusche machte. Schnell ging ich den Gang entlang ins Sterbezimmer, einen Saal, bis auf eine Oberlichte fensterlos wie eine
Garage. Hier lag Stroh aufgeschüttet. Es war dunkel, eine nackte Glühbirne brannte im hinteren Teil des Raumes. Der Boden voll mit Menschen, ein Sterbender neben dem anderen. Dazwischen Kakerlaken,
Erbrochenes, verbeulte Blechhäferln. Darüber die Ausdünstungen von Armut, Angst und Tod. Und ein Heer von Fliegen.
Die wahren Helfer des Teufels sind die Fliegen, überall ihr Sirren, sie machen einen verrückt mit ihrem Sirren und den Facettenaugen, die haarigen Beine und Rüssel zucken. Sie sind überall, selbst in
den Träumen. Ich träume von ihnen, von Fliegen und vom Sterben. Fliegen auf Augen und Mündern, in Nasenlöchern, auf eitrigen Wunden, wo sie die Nässe schlürfen, im Tee, im Ohr. Überall Fliegen.
Ein Strohhaufen war frei. Jemand war vor ein paar Stunden, ein paar Minuten hier gestorben. Hatte Platz gemacht. Er hatte es überstanden. Ich ließ den Alten aufs Stroh gleiten. Darunter liefen ein
paar Schaben auseinander. Die Fliegen schwärmten auf. Der Mann grunzte, das Bein zuckte wie im Krampf. Ich suchte seinen Kopf unter den Lappen und Fetzen. Wasser? fragte ich und hielt ihm einen
Blechnapf hin. Seine Lippen waren rissig und gelb. Gleich setzte sich eine Fliege in den Mundwinkel. Ich hielt seinen Kopf, der pendelte, als hätte er keinen Hals und flößte ihm etwas Wasser ein. Der
Mann schluckte, ein dünner Kehlkopf hüpfte auf und ab, dann verdrehte er die Augen nach oben, dass das Weiße sichtbar wurde. Starb er schon? So schnell? Schade, denn dann konnte ich ihn nicht mehr
ordentlich betten, kein fadenscheiniges Leintuch mehr holen, ihm nicht mehr Stirn und Puls mit Wasser netzen. All die lieben Rituale, die dem Sterben bei den frommen Schwestern zuletzt doch noch
etwas Feierliches gaben, wären dann umsonst. Ich sah genau auf seinen Hals. Dünn war er wie bei einem gerupften Huhn. Darunter flog der Puls. Er atmete stoßweise, der Mund ging auf, ein zahnloses
Loch. Er sog die Wangen ein, der Mund stülpte sich nach innen beim Einatmen. Die Luft wollte nicht mehr hinein in den Körper. Sie wollte heraus. Etwas anderes wollte heraus, weg. Weg von diesem
Höllenort, wo die Menschen in Batterien ins Jenseits gingen, beobachtet von Fremden, die sie nie im Leben gesehen hatten. Die sich nicht um sie geschert hatten, als sie bettelnd oder stehlend durch
die Straßen gezogen waren. Die sich erst in der Stunde ihres jämmerlichen Todes für sie interessierten. Ihnen noch die Seele aus dem Leib zogen mit ihren Hilfestellungen, ihren Wasserschlucken, dem
Aufbetten, dem Blick.
Der Mann hatte recht, wenn er die Augen verdrehte. War es nicht Hohn, am Ende eines beschissenen Lebens dem lauernden Blick eines jungen Mannes aus gutem Hause zehntausend Kilometer weit weg
ausgesetzt zu sein.
Ein Speichelfaden an der Lippe. Die Fliegen, die seine Lider belagerten. Ich verscheuchte sie. Sah ihn genau an, den sterbenden Mann. Atmete er noch? Der Puls ging nun schleppend, er atmete ein. Dann
lange nichts, ein Stoß, aus. Ein Rasseln. Nichts. Ein. Es dauerte nicht mehr lange. Ich kannte das schon. Hatte es beobachtet. Wenn ihnen der Atemrhythmus wegbricht, wenn der Blick sich verbirgt,
dann ist es Zeit. Zeit zum Singen. Das hat sich unsere Mutter Teresa in ihrer Umsicht und Güte ausgedacht, hat dazu auch die passende Bibelstelle gefunden. Die Menschen sollen mit einem Lied in den
Ohren sterben, Halleluja. Ich begann leise zu summen. Land der Berge, Land am Strome. Jedes Mal schämte ich mich dabei. Nicht nur dafür, dass ich die Töne nicht traf. Das mochten mir die Menschen,
die an der Pforte zum Nichts standen, nachsehen. Aber dass ich sie mit der österreichischen Bundeshymne quälte, trieb mir jedes Mal die Schamesröte ins Gesicht. Ich kannte kein anderes Lied. Im
Moment des Todes fiel mir immer nur die Bundeshymne ein. Land der Äcker, Land der Dome... Hämmer, zukunftsreich. Ich nahm die Hand des Mannes. Sie war knöchern, ein Fingerglied fehlte. Sie war kalt.
Er hatte es hinter sich. Ich klappte den Mund zu, schluckte die großen Söhne, das Volk begnadet für das Schöne. Dann schloss ich seine Lider. Der Mund blieb offen. Eine Fliege krabbelte hinein. Ich
erhob mich taumelig, ging hinaus, an der Schwester vorbei. Good Boy, sagte sie ohne aufzusehen und machte ein Kreuz in das schwarze Buch.
Frisch an die Arbeit und Gott mit dir.