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Ein Schlupfwinkel oder sogar
der Zipfel des Himmels darüber
So ein Chirurg wünscht einfach Gute Nacht, am Spätsommernachmittag, das sagt einiges
über ihn, über dieses Haus. Ich habe Fragen gestellt, das war ihm sichtbar unangenehm,
es wäre ihm lieber, seinerseits meine Blutmysterien zu ergründen, die ich noch nicht einmal
selbst kenne.
Als ich meine Fragen stelle, wird der Mann ganz bleich, sagen wir weiß, es gibt
überhaupt keine Konturen mehr, es gibt nur noch diesen Geruch nach Essigessenz, unter
dem er sich auflöst. Er entkommt mit der Farbe der Jungfräulichkeit aus dem
Krankenzimmer, die in China allerdings seit jeher für die Hinterlist gut ist.
Ich dachte, auf das Verschwinden, das seine, das auch das meine bedingt, bist du
vorbereitet. Mit meiner von Kranken für Kranke aufgeschriebenen Krankenhausliteratur, die
ich ganz aus den Anfängen des Zwanzigsten Jahrhunderts mit hier hineingeschmuggelt habe,
nur dass mir deren Buchrücken jetzt die Aussicht auf die einzige Baumkrone versperren.
Das wahre Verhängnis ist, dass mein zweiter Zauber, ein tragbares Transistorradio, ein
Weltempfänger, überhaupt nicht funktioniert. Ich drehe mehrfach nervös, dann ängstlich,
dann empört! an seinem Knopf herum, nichts. Ich rolle mich auf die Seite, schließe meine
Augenlider und stelle mich dösend. Darunter laufe ich allen möglichen Paradiesen hinterher
und befürchte zugleich, Albträume könnten sich einmischen, changierend wie früher, noch
im Halbschlummer, noch vor der Bewusstlosigkeit, als hätte ich an meiner Lage Schuld.
Tatsächlich habe ich nichts gegen Krankheiten. Wie oft habe ich gedacht, am
Ausgangspunkt meines Glücks steht ein gelbes Rechteck, ein lichtdurchlässiger Überhang,
der ein Schlangenmuster auf die Bettdecke wirft und safrangelber Schlaf zwischen meinen
Wimpern und ausreichend Schwindel im Kopf und der Dampf von Kartoffelpuffer und
warmem Apfelmus, der wie eine erotische Botschaft durch die Türritze in meine Nase
kriecht. Denn nicht die heutige, die alte, symbiotische Mutter musiziert in der Nähe auf ihren
Töpfen, und manchmal legt sie mir diese kleine Küchenharfe ins Bett, mit der man Eier in
Scheiben zerlegt.
Nur wenn ich krank war, war alles angemessen, ausgemessen, gepolstert, gedämmt, lag
ich aufgehoben in einem Wunschzimmer. Darüber lauerte noch eine Weile das Danach, ob
sich nicht doch noch etwas ergab, wie ein grauer Kater auf dem Dach, rutschte ab und
verschwand. Von da an war mir alles erlaubt.
Mit dieser Erlaubnis konnte ich mich viel besser konzentrieren. Ich lauschte in Musik
hinein, oft zum ersten Mal. Ich hörte die großen Opern als Gutenacht-Geschichten in m
einem winzigen Transistorradio. Später stießen mich die Leute an, woher ich denn schon
solche Musik kenne, solche Musik hört man doch gar nicht bei euch, und ich sagte ihnen
»von meinen Krankheiten.«
Oder ich las zwischen dicken Kissen und Pralinenschachteln, die ebenfalls kleine Kissen
enthielten, die nach Schokolade dufteten. Unter diesen Voraussetzungen habe ich viele
Bücher zum ersten Mal aufgeschlagen.
Nach ein paar Seiten schweifte ich ab. Ich schmiedete, verschob.und verwarf Pläne, die
wahrscheinlich aus den Büchern kamen, ohne ein schlechtes Gewissen, ohne Bewusstsein
über Endlichkeit. Ich grinste nur über mein Fiebergesicht, und wenn ich weiterlas, hatten
sich auch die Geschichten, die ich las, verwandelt. Was mich daran störte, war verschwunden, und was mir fehlte, war eingefügt. Ohne Krankheiten habe ich nie diesen merkwürdigen Einfluss
auf Bücher gehabt. Wenn sie mir nach Jahren noch einmal in die Hände fielen, waren diese Bücher ganz mutlos, auf ein Maß zurückgeschrieben, das ironischerweise Kleinen Bettlektüren
entsprach.
Später sollte ich einmal im Fieber lißben, sie über mir, die Tropfen perlten nur so von
ihrer Stirn und von ihren Brüsten und zischten auf meinem pochenden Herz. Aber damals
las ich noch Abenteuerromane. Das ist auch nichts großartig anderes. Mein Rücken
schmerzte vom liegen, ich drehte mich, auch die Seite schmerzte, aber ich musste immer
weiter lesen.
Und wenn ich in einem Comic las, habe ich gar nicht auf die Szene geachtet, die
Gesc ichte erst recht nicht kapiert, weil ich die ganze Zeit über in den Zipfel des Himmels
darüber hineinlugte. Den schönsten Himmel hatten die Gallier. Wie oft schaute ich, auf dem
Rücken liegend, in ihren tiefblauen Himmel hinein, solange, bis er mir unter dem Duft von
Papier und frischen Druckfarben auf dem Kopf fiel. Ein Luftzug über der Stirn, schon war ich weg, bis zum nächsten Morgen.
Bisher habe ich meine Krankheiten immer ein wenig steuern können. Wenn es mir in den
Kram passt, legt sich mir gleich ein schaler Geschmack auf die Zunge, der Hals schmerzt,
und zum Beweis hüstele ich zwei Mal wie ein Bibliothekar. Ich ziehe den Mantel aus, ganz
kurz nur, und warte, bis ich friere. Ich sauge die Luft ein und lauere, ob nicht diese klare
Winterluftschicht darunter ist, so eine Luftschicht wittere ich auch im Herbst, sogar im
Frühling. Dabei wird mir meist schon vom Einatmen schwindelig, und ich beeile mich, in den archaischen Laden hineinzukommen, mit dem es selbst jedes Jahr vorbei sein kann, wo
sie Schlehensaft und Milch und Schmeicheleien feilbieten. Ich lege viel Geld auf den blanken Tresen, und dann gehe ich mit allen Zutaten ins Bett, schaue sie der Reihe nach an
und warte auf die Rückkehr der Geborgenheit.
Habe ich es irgendwo gelesen, habe ich es geträumt? Jemand sprach davon,
de Krankheit ist nicht der Untergang, die Krankheit ist die Zeit der Anpassung und der
Übergänge. Als Katholik hast du vielleicht die heiligen Sakramente, so nur eine
Fieberwoche, und später die sogenannte Jahresgrippe, um voranzukommen.
Nur wenn ich kotzen musste! Das habe ich solange es ging hinausgezögert. Vom Tod
habe ich nie etwas wissen wollen. Plötzlich hing ich im Bad herum, alles drehte sich, und
i:t1 erbrach mein Essen zusammen mit meinen Worten, meinen Albträumen.
Natürlich lege ich mich ins Zeug und lobe und lobe die Abschweifung. Doch im
Krankenzimmer sind meine Worte machtlos. Auch der andere Arzt, der sogenannte
Chefarzt, hat kein Wort von dem verstanden, was ich ihm gesagt habe. Wenn du krank bist,
wirst du einfach inkonsequent, lässt dich mit jedem ein, du zählst Pflastersteine oder du
glaubst wieder an Gott.
Allerdings bin ich dem Arzt gegenüber ebenso begriffsstutzig gewesen.
»Sie jammern auf einem hohen Niveau.«
Das habe ich irrtümlich für ein Lob gehalten. Daraufhin hatte er seine Scherenhande
vorgestreckt und mir jedes Widerwort verboten. Zum Abschluss sagte er noch:
»Warum haben Sie denn kein Vertrauen? Wir machen das seit Jatven tier.c
Er freute sich über diesen letzten Satz, drehte sich und galoppierte unter seiner grandiosen
Behufung durch den Flur davon.
Seit Jahren sind sie also gegen die Übergange eingestellt. Alles ist auf das Spät-Trauma
ausgerichtet. Später, wenn ich aus dieser Welt in ein Zuhause zurückkehre, später, muss
ich alleine damit zurechtkommen. Die erste Zeit werde ich damit verbringen, mich in einen
warmen Mantel einzuwickeln und zu schweigen, denn sie werden mir alle meine
Geheimnisse geraubt haben. Oder ich werde vor dem Klappspiegel stehen und nach
Metaphern für das Vergessen suchen.
Mit einem Verschwörergesicht nehme ich das Transistorradio in die Hand, es knackt,
knistert und immer noch nichts, drehe ich bald mit spöttischem Gesicht an seinem Knopf,
vor und zurück. Ich lege das Radio dicht neben mein Ohr und verschränke die Hände hinter
dem Kopf. Und ich werde solange warten, bis ein grauer Kater von der Baumkrone springt.