Magdalena Boettcher

Träumten die Menschen des Magdalénien?

 

                             Der Mensch braucht den Traum, so wie er Sauerstoff braucht, man lebt schlecht

                                                                                                  wenn man nicht gut zu träumen versteht.

                                                                                                                                         Jean Starobinski   


Die alte Kultur der australischen Aborigines
sieht die Urzeit der Welt als „Traumzeit“, während
der
„die ganze Erde in tiefem Schlummer (lag). Auf
ihrer Oberfläche wuchs nichts, und nichts bewegte
sich auf ihr, und über allem lag eine große Stille. Die
Tiere, auch die Vögel, schliefen noch unter der
Erdkruste. Doch eines Tages erwachte die Regenbogenschlange
aus diesem großen Schlaf. Sie
drängte sich mit Macht durch die Erde nach oben,
und an der Stelle, an der ihr gewaltiger Körper die
Erdkruste durchstieß, schob er die Felsen zur
Seite. Dann begann die große Schlange mit ihrer
Wanderung. […] Während sie wanderte, hinterließ
sie ihre Spuren auf der Erde […]. Nun erwachten
alle Tiere, kamen ans Licht und folgen der
Regenbogenschlange, der großen Mutter allen
Lebens, durch das ganze Land. […] Nun erließ die
Große Schlange Gesetze, die für alle Wesen
Gültigkeit hatten […]. Manche Wesen gehorchten
aber nicht, sondern stifteten Unruhe und stritten
untereinander. Da wurde die Mutter allen Lebens
zornig […]. Die Frevler wurden also in Stein
verwandelt, sie wurden zu Felsen, Hügeln und
Bergen.“1


Dieser Mythos der Aborigines ist traumähnlich
dargestellt, wie das auch bei anderen Mythen
zu beobachten ist. Die Bilder darin könnten die
Träume der Götter sein, von denen sie handeln.
Es sind nicht Träume in unserem Verständnis. Ob
die frühen Menschen, gar die der Urzeiten, überhaupt
träumten und wie ihre Träume aussahen,
wissen wir nicht. Der Mensch der Urzeit wurde in
der Steinzeit vom Neandertaler (150.000 bis
30.000 vor unserer Zeitrechnung) abgelöst.
Parallel zum Neandertaler entwickelte sich der
Homo sapiens, dem seiner Bezeichnung nach
Sapientia zugeschrieben wird. In seinem mentalen
Zuständen könnte er Halluzinationen entwickelt
haben, aus denen, wie Christoph Türcke
schreibt, der Traum hervorgegangen ist2.


Die Kultur des Magdalénien entwickelte sich
während eisfreier Zonen der jüngeren Eiszeit in
Nordspanien, Südfrankreich und Süddeutschland4.
Später zog sie nach Nordfrankreich, in die Schweiz
und nach Osteuropa. Die Magdalénier gestalteten
Höhlen ihrer Gebiete kunstvoll aus, indem sie in
die Felsen ihre Bilder einritzten. Sie lebten in diesen
Höhlen höchstens vorübergehend, wie das
auch für unsere Kunsttempel gilt 5, hielten sich
meist an einer Feuerstelle unter dem Höhleneingang
auf. Oder sie lagerten auf von der Sonne
erwärmten Plätzen unter dem Schutz vorspringender
Kalkfelsen nahe fließendem Wasser. Die
Magdalénier waren Jäger und Sammler, die im
Schnitt nicht älter als 30 oder 40 Jahre 6 wurden.
Der Name dieser Kultur leitet sich von der Grotte
La Madeleine in der Dordogne7 her.


Im Périgord, in der Flußebene der Vézère, in
einer Landschaft von großer Schönheit, entstanden
damals erste dorfartige Siedlungen, die
über längere Zeiträume bewohnt blieben.
Archäologische Ausgrabungen seit der Mitte des
vorigen Jahrhunderts haben reiche prähistorische
Kunstwerke zutage gefördert. Am eindrucksvollsten
zeigen die Höhlenmalereien von
Altamira (Nordspanien, um 16.000 v. Chr. 8)
und Lascaux (Frankreich, um 17.000 v. Chr. 9)
die künstlerische Kraft dieser Menschen.


Sie ernährten sich hauptsächlich von der
Rentierjagd, waren geschickt und anpassungsfähig
und nutzten Knochen, um Angelhaken und
Nähnadeln herzustellen; erfanden Pfeil und Bogen,
auch so genannte Speerschleudern. Mit diesen
Waffen waren Geschwindigkeit und Reichweite der
Projektile größer und das Erlegen mächtiger Tiere
leichter, wenn die Herden vorüberzogen oder an
Wasserstellen lagerten. Auch Wildpferde,
Mammuts, Bisons und Antilopen bewegten sich
dort durch Zwergstrauchtundren. Vom erlegten
Wild und von Fischen aus der Dordogne konnten
die Magdalénier leben. Sie hatten daneben genügend
Muße, ihre Waffen zu verfeinern, Schmuck
und Statuen zu fertigen und die Kunstwelt ihrer
Höhlen zu gestalten. Ihre Felsbilder 10 offenbaren,
wie sich Denken und Lebensweise der Menschen
im Périgord entwickelten.


Sie scheinen über ihr Leben, die Tiere und ihre
Umwelt nachgedacht zu haben. Auch über ihre
Toten, deren Gräber — wie die Höhlenbilder —
auf Rituale verweisen. Vorangetrieben haben mag
diese Entwicklung das kühlere Klima Europas, dessen
Wechsel die Menschen vor immer neue
Herausforderungen stellte, etwa durch die
Temperaturen, die während der wechselnden
Eiszeiten um den Gefrierpunkt schwankten.


Ihre geistige Welt läßt sich schwer nachvollziehen,
auch wenn wir einen Teil ihrer Werke
kennen. Ihre kleinen, zehn Zentimeter hohen
Venusfiguren sprechen eine eigene Sprache 11,
der ich hier nicht weiter nachgehen kann. Sie
mögen als Fruchtbarkeitssymbole gedient oder
magisch-kultischen Charakter gehabt haben —
wie auch die Höhlenbilder. Wie kam es dazu?
Wozu dienten diese Darstellungen?


Alfred Adler12 sieht die Phantasie als „Teil des
(individuellen) Lebens“ und „Lebensstils“. Sie ist
„Ausdruck unseres Bewegungsgesetzes als seelische
Bewegung“. „Gefühle“ dienen dazu, „sich
in gewissen Umständen gedanklich zu äußern“.
Adler betont, daß die Phantasie „auf das
Kommende“, „zum Ziel der Vollendung“ gerichtet
sei, wobei „jede seelische Ausdrucksform“ „sich
von unten nach oben“ bewege.


Die Jäger und Sammler der Höhlenzeit lebten
in komplexen Situationen. Dafür, daß sie
geträumt haben, gibt es keine Belege. Friedrich
Nietzsche spricht vom modernen Menschen,
wenn er in „Menschliches, Allzumenschliches“ 13
sagt: „Also: im Schlaf und Traum machen wir
das Pensum früheren Menschentums noch
einmal durch.“ Wenn das auch für die Magdalénier
gilt, und davon gehe ich aus14, so beschäftigten
sie sich mit ihrem ganz spezifischen
„Pensum [des] früheren Menschentums“. Wenn
dieses „Pensum“ sich möglicherweise auch nur
auf ihr Jäger- und Sammler-Leben ausdehnte —
wer weiß das schon? —, halte ich dafür, daß die
Menschen des Magdalénien geträumt haben.
Ich weise deswegen auf ihre reiche Kultur so
deutlich hin, um zu erinnern, wie hoch entwickel
ihre geistige Welt war.


An der Schwelle frühen Denkens und Bildens
spielen Halluzinationen, Phantasien und Träume
eine Rolle. Wenn die Menschen des Magdalénien,
die die Höhle von Lascaux gestalteten, die Tiere,
die sie jagten, in die Struktur der Felsensteine hineinsahen
und durch Einritzen das Geschaute verdeutlichten,
hatten sie bereits Bilder der Tiere in
ihrem Gedächtnis aufbewahrt, die sie sich nachbildend
wieder vergegenwärtigen konnten15. Ein vorher
aufgenommenes Bild kann der Phantasie des
(künstlerischen) Menschen entspringen. Er hatte es
bei der Jagd erblickt und das Gesehene in sich
hineingenommen, verinnerlicht. Vor der Felswand,
wenn er das Mammut dort in den Strukturen des
Felsens wieder zu erkennen meint, halluziniert er
es.


Der halluzinierte Tagtraum könnte sich einstellen,
wenn dem Jäger nach der Jagd und nach
gutem Essen und Trinken im entspannten halbwachen
Zustand unter dem schwach beleuchteten
Höhleneingang oder in der halbdunklen Höhle die
Bilder des Tages im Geist nachklingen. Er ruht nach
anstrengender Arbeit und sinnt dem Geschehenen
nach. Er denkt nach und halluziniert dabei. Sollte er
darüber einschlafen, kann die Halluzination in einen
Traum übergehen, der dann jedoch mehr ist als nur
halluziniert. Der Traum ist die nach innen, in den
Schlafzustand hineingeholte Halluzination 16, die
„Arbeit“17 erfordert, um zu einem Traum zu werden.
Diese Arbeit hängt mit dem Fortwirken der
Halluzination zusammen, die komplex ist und einen
Übergang von der Wahrnehmung zur Imagination
enthält18. Der Jäger wiederholt, indem er sich vorstellt,
was er erlebt und dabei wahrgenommen hat:
daß sein Geschoß das Tier nur gestreift hat, so daß
es flüchten, im Dickicht entschwinden konnte.
Schon dem halluzinierten Bild, das das Potential
der Imagination enthält, kann sich Angst beimischen.
Sie erwächst aus der Gefahr, in der sich der
Jäger — Aug in Auge gegenüber dem mächtigen
Tier — befand. Oder es stellt sich beim Übergang
zum Traum Bedauern über den Fehlwurf ein, vielleicht
auch ein Wunsch: der Wunsch, das Wild doch
noch zu erlegen. Während der Jäger der Arbeit des
gewesenen Tages nachsinnt, kann sein Wunsch
schon das Unternehmen des kommenden entwerfen
und im Traum vorwegnehmen19. Am nächsten
Tag, im Wachzustand, mag dem Träumer der
nächtliche Traum nicht mehr bewußt werden. Der
Wunschtraum kann mit seinem auf das zu erlegende
Wild zielenden Anteil auch unbewußt in das
Tagesgeschehen des Jägers hineinwirken.


Welche Geschichten würde uns die
Höhlennacht von den Jägern und Sammlern, den
Frauen und Männern des Magdalénien erzählen,
wenn die Nacht in der Lage wäre, die Träume oder
Wachträume der Menschen in ihrem Lebensraum
zu lesen? Sie waren beim Sammeln von Beeren
und Pilzen, beim Angeln oder beim Jagen und in
ihren Zelten auch jähen Erlebnissen ausgesetzt,
tiefem Erschrecken oder heftiger Freude. Die konnten
sie bedrängen, in fieberhafte Erregung versetzen
oder beglücken. Über solche Erfahrungen
mögen sie sich ausgetauscht haben, ihnen nachgesonnen,
bestimmte Momente der Gefahr oder der
Freude noch einmal erlebt, sie halluziniert oder gar
von ihnen in der Nacht geträumt haben.


Wenn sie sich das Erlebte vergegenwärtigen,
von nicht Geglücktem, nicht ganz Gelöstem gar
träumen und es dadurch sich verständlicher
machen können, ist ihnen geholfen. Sie erleben es
noch einmal, vielleicht beruhigt und glättet sich
dabei sogar, was sie bedroht hat und als Schreck
oder Freude in die Glieder gefahren und dort gar
stecken geblieben ist. So wird der Weg durch den
Reigen der Bilder und Träume ihres Sammel-,
Jagd- und Höhlenlebens ihnen eine Art somnambuler
Initiation, die ihnen helfen kann, bisher unüberwindliche
Schwellen zu überschreiten. Sie sind
dabei auf ein „Ziel“ gerichtet, wie Adler sagt20. Durch
nächtliches Träumen im Sinne eines Voraus-denkens
könnten sie bestärkt worden sein, in ihrem
Leben bisher unerforschten Boden zu betreten, der
ihnen bislang nicht zugänglich gewesen ist.


Träumen ist mit der Kraft der Imagination21 verbunden.
Darin liegt die gute Möglichkeit, die uns
helfen kann, uns zu entwickeln. Denkbar ist ebenso,
daß Spuren von Angst und Schrecken der
Bedrohung, etwa durch mächtige Herdentiere, aber
auch durch Freuden oder Gefahren im menschlichen
Verkehr, sich im Traum, vielleicht sogar wiederholt,
einfinden und den Schläfer beunruhigen.
Mit der Zeit mag die Gefahr durch die Wiederholung
nach und nach ihre Bedrohung verlieren…


So könnte man sagen: Die Menschen des
Magdalénien waren kreativ, weil sie träumen konnten.
Ihre Reliefs, Figuren und Höhlenzeichnungen
weisen auf diese Fähigkeit hin wie sie zugleich —
auch — ihre ‚Träume’ darstellen.

Anmerkungen:


1 Robert Craan, Geheimnisvolle Kultur der Traumzeit. Die Welt der
Aborigines, München 2000, S. 88.
2 Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 79.
3 arachnis.asso.fr/DORDOGNE/.../Sitpreh2.htm
4 Dokumentation: Die Meister des Magdalénien, gesendet auf Arte
am 9. 5. 2009, 21,45 h.
5 Vergleiche den chinesischen Künstler Ai Wei Wei, der mit seinem
Team 2009 während der Arbeit an seiner Ausstellung im Haus der
Kunst wohnen durfte.
6 Jürgen Paeger, Ökosystem Erde, Stichwort Mensch, © 2006 – 2010.
7 Dokumentation: Expedition Wissen: Périgord – Kunst in der Höhle,
gesendet auf 3sat am 10. 8. 2010, 1,50 h.
8 Datierung nach Jean-Piere Mohen, Art et Préhistoire, Paris 2002,
S. 202
9 Datierung nach Jean-Piere Mohen, Art et Préhistoire, Paris 2002,
S. 202
10 Vergleiche Jean-Piere Mohen, Art et Préhistoire, Paris 2002
11 Agnes Witte, Die Darstellung der Frau in Skulptur und Plastik der
Altsteinzeit, 1992,© agneswitte.de, Abschnitt 4: Die Venus von
Lespugne (ca. 25.000, gefunden 1922 in der Höhle von Rideaux

bei Lespugne, Haute Garonne) war am Höhleneingang angebracht.
Auch andereVenusdarstellungen, in Form von Reliefs, fanden
sich am Eingang der einzelnen Kulthöhlen. — Vergleiche dazu
Hans Peter Duerr, Sedna, § 7: Die Venus der Eiszeit,
SS. 83 - 94.
12 Alfred Adler, Der Sinn des Lebens, Fischer Taschenbuch 1973,
Abschnitt 14, Tag- und Nachtträume, S. 147 - 162.
13 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. I, 12, in:
Werke in drei Bänden, München 1954, hg. von Karl Schlechta,
Band 1, S. 454.
14 Wir wissen, daß selbst Tiere träumen. Vgl. dazu Träumen Delfine?
REM-Schlaf und Traum bei Tieren, Nadja Podbregar in: Copyright
(c) 1998 bis 2010, 16.11.2003, scinexx, Springer Verlag,
Heidelberg — MMCD interactive in science, Düsseldorf. —
Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 79,

Anmerkung 61, führt dazu aus: „daß auch Tiere träumen,
[daß] auch sie unbewältigte Reize im Schlaf nachbearbeiten
[…] Sie tun das [jedoch] in einem vorkulturellen, vorkultischen
Stadium.
15 Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 28:
„Wieder-Holen durch Vergegenwärtigung ist […] nur imaginär, aber
allein über [diese Imagination wissen wir von Vergangenem […].“
Vgl. auch S. 79.

16 Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 28.
17 Sigmund Freund, Traumdeutung, Werke II/III, London 1942,
fünfte Auflage 1973, Abschnitt VI: Die Traumarbeit, SS. 283-512,
spricht S. 316 von „Traumgedanken“, die einen „Komplex von
Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau mit
allen Eigenschaften der uns aus dem Wachen bekannten Gedankengänge“
darstellen.
18 Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 29,
führt aus, daß „Halluzinationen […] Grenzzustände (sind):
gleichsam steckengeblieben im Übergang von Wahrnehmung zu
Imagination. Sie sind nicht mehr das eine und noch nicht das
andere und darum wiederum auch beides“.
19 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band II/III, London 1942,
fünfte Auflage 1973, S. 336, spricht bei einfachen Träumen, die
nicht mit „Verdichtung“ und „Verschiebung“ zu tun haben, auch
von „Phantasien währenddes Schlafens“.
20 Vergleiche oben, Anmerkung 12.
21 Vergleiche dazu das oben unter Anmerkung 15 Ausgeführte.