René Egger

 

Die Seilschaft


Ein dem Jaulen und Winseln nicht unähnliches Geräusch: das Knirschen unserer Schritte
auf dem festgefrorenen Schnee. So jammervoll (und geradezu zerknirscht) gehen wir
auf diesem so genannten Spaziergang, zu dem wir uns töricht haben überreden lassen,
in den verschatteten Talgrund hinein, gehen immer weiter gegen die hier steil aufragenden
Felswände zu, ohne Skier, ohne Steigeisen und ohne ernsthafte Aufstiegsmöglichkeit
in dieses Felsenverlies hinein. Ziellos im Grunde, widerwillig und bei jedem Schritt nur auf
Umkehr bedacht.
Das Knirschen unserer Tritte ist derart laut, dass wir das Wasser, das überall unterm
Eis rinnt, gar nicht wahrnehmen. Obwohl der Talboden hier, wo im Frühjahr die Schmelzwässer aus den verschneiten Bergflanken springen, in Wahrheit ein einziges Bachbett ist.
Die weissen, von der Kälte eingefrorenen Gesichter meiner Begleiter. Und die grauen,
verwitterten, irgendwie verhärmten Schindel-Fronten der Hütten. Kleine Stege, manchmal
auch nur Bohlen, schmal und schneebedeckt, führen von einer Hütte zur anderen.
Im Frühjahr, sagt unser Freund, werden die Hütten dann wie auf Inseln stehen —
im Schmelzwasser erst, später dann im Morast, zuletzt im Kuhdung. Vor den hohen
Felswänden wirken die Hütten noch niedriger, ducken sich, wie mir scheint, vor etwas weg.
Leer sehen sie aus, diese Hütten. Doch verlassen wirken sie nicht, seltsamerweise.


Nach dem ersten Schuss, der sich plötzlich aus der Stille löst, wie ein Schmerz durch
meine Brust jagt, durch meinen Körper bohrt, gegen mein Brustbein schmettert, um dann
als Querschläger zurückzukommen und als Steckschuss in meinem Herzfleisch (oder
einem der Lungenflügel) zu endigen, liege ich ungläubig im Schnee, starr vor Schrecken —
und horche dem Schmerz und seinem Abklingen hinterher.
Von dort drüben kam der Schuss, glaube ich einen aus der Gruppe rufen zu hören.
Und er deutet auf ein kleines Gehölz hin und will dort, sagt er, so etwas wie ein Aufblitzen
gesehen haben. Was wahrscheinlich bloss Einbildung ist. Zumal wir hier nicht in einem
B-Movie sind, und ich Blut, vorerst, nicht verliere.
Wir anderen haben jedenfalls nichts bemerkt. Sehen auch beim zweiten Schuss nichts,
der uns dann allerdings unten hält, in die Deckung zwingt. Doch der Schnee, das wissen
hier alle, ist keine Deckung. Und jetzt, wo wir so liegen, mit eingezogenem Kopf
und sauber ausrasiertem Nacken, und uns einen gespannten Abzugshahn und den
gekrümmten, schon steif gefrorenen Zeigefinger vorstellen, hören wir das Glucksen mit
einem Mal nun auch: dieses weinerliche und wehleidige Plätschern und Sickern des
Wassers unterm Eis.
Zuflucht suchend hebe ich meinen Kopf: Die verrammelten Fenster und Türen fallen mir
als erstes auf. Zumindest bis Ende Mai, anfangs Juni, sagt unser Freund, werden sie verriegelt bleiben. Er kennt sich aus hier oben, kommt schon seit Jahren her — hat es aber auf den Schafberg, aus irgendwelchen Gründen, seltsam genug, bisher noch nie geschafft.
Obwohl er ihn grossspurig den „Hausberg“ nennt, und obwohl es Wege gibt, Routen geben
soll, die aus dem Talkessel, der ja andauernd im Finstern liegt, hinaus und hinauf auf die
(angeblich lichten) Höhen führen. Einmal beschreibt er den Weg, diese kaum begangene
Route: Zuletzt führe sie, sagt er, muss man ihm wohl erzählt haben, in steilem Anstieg und
über einen schmalen, im Frühsommer glitschigen Grasgrat hinauf zum Gipfel.
Frontal, von vorne also, sagt er mit Bestimmtheit, komme man an den Schafberg jedenfalls
nicht heran, nicht heran, nicht heran. Der Satz scheint von den Felswänden abzuprallen, geradezu abgeschmettert zu werden — das dritte Echo löst entfernt ein Schneebrett aus.


Plötzlich schwingt, bricht eine der Türen auf — und am äussersten Rand unseres
Gesichtsfeldes, sozusagen im toten Winkel, ist unversehens eine Bewegung da, nehmen
wir gerade noch wahr, wie ein Mann Hals über Kopf aus einer Hütte fliegt. Was sich anhört,
als ob ein Eisbrocken in den pickelharten Schnee schrammen würde. Doch bevor wir die
Gestalt überhaupt ins Auge fassen können, öffnet sich der Verschlag erneut, und Arme und
Hände greifen sich den Ausgestossenen, aus einem Reflex heraus, einem reflexartigen
Erbarmen vielleicht, wobei beim Zurückschleifen ein scharrendes Geräusch entsteht. Und
dann eine kreischende Angel, ein wiederholtes Schletzen, ein Riegeln — und abschliessendes Verrammeln.
Wenige Augenblicke später der gleiche, nun vielfach repetierte Vorgang: Hinter uns,
vor uns, neben uns springen diese Rammeltüren, diese vom Wetter gebleichten Verschläge
mit ihrer Misericordia-Maserung sperrangelweit auf und krachend (und splitternd) fliegen
sie vor die Hütten, die seltsamen Insassen und Innewohner — beinhart gefroren, wie es den
Anschein macht, bis ins Innerste vereist und manche bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft.
Doch ehe wir uns versehen, ist die Mehrzahl schon wieder eingebracht — bereits wieder
im Schärmen. Nur hin und wieder, da klemmt einer, da will der vom Frost gereckte Arm nicht hinein, da sperrt sich ein in der Kälte gebogenes Knie, und unsichtbare Kräfte zerren
an ihm und wir können den Hinundhergerissenen sehen: Von einem stumpfen Blau sind
seine Schläfen und die Hutkrempe schattet eine schroffe, von einer verödeten Ader durchzogene Stirn. Und das Lächeln, das festgefroren um seinen Mund ist, macht angesichts
der Berglandschaft, die rundum unversöhnlich aufragt und keine Auswege kennt, nicht viel
Sinn, zumal es sich mit fortschreitender Erwärmung in ein weichliches Grinsen verwandeln
dürfte.

Fürchterlich erschrocken bin ich und versteh dieses unschlüssige Hin und Her, das sich
vor unseren Augen, die ja keineswegs schneeblind sind, so sonderbar abspielt, vermutlich
besser als jeder andere: Dass man sie erst rauswirft, wie es den Anschein macht, ausschafft,
gewissermassen vor die Türe setzt, um sie handkehrum in das Zwischenlager sozusagen
als Pendente oder Probanten wieder aufzunehmen. Was immer hier zur Erwägung
ansteht und wer sie auch sein mögen, die über künftiges Befinden und weiteres Verweilen
bestimmen und letztinstanzlich zuständig sind — sie scheinen sich über das Prozedere
jedenfalls nicht einig zu sein. Was für die Leute, die es anbelangt und zuletzt betrifft, gewiss
schrecklich sein muss.
Gestern, sage ich beruhigend zu dem, der verstört neben mir im Schnee liegt,
den Kopf noch immer zwischen den Armen, habe ich mich, man muss sich das vorstellen,
noch nicht mal zwischen zwei Pullovern, der eine mit V-Ausschnitt, der andere mit
Rollkragen, entscheiden können. Wenigstens fünfmal, sage ich, habe ich den bereits
gepackten Rucksack wieder ausgepackt. Den Schrittzähler und die schon geballten
Fäustlinge mit dem Norweger Muster zuletzt dann doch vergessen.
Dass es sich bei den Untergebrachten um Fremdschläfer, Zwischenzeitliche oder
Permanentwanderer handeln könnte, mutmasse ich. Und überlege mir trotz zunehmendem
Harndrang, was sie am Ende bewogen haben mochte, sich in dieses Tal mit noch pochenden
Schläfen so aussichtslos zurückzuziehen. Und weshalb sie Opfer der Kälte geworden
waren — obwohl in diesen Hütten etwas von der dörrenden Hitze des Bergsommers und
der Wärme der Wiederkäuer doch zurückgeblieben sein musste.
Dass die Berge hier voll von Kaminen sind, welche die Bergsteiger mit Vorliebe durchsteigen — mit Klimmzügen und Spreizschritten durch die Couloirs kühn nach oben kraxeln, zu dem Krux, also dem gewitterfesten Gipfelkreuz emporsteigen, hilft gegen die eisige Kälte auf Dauer auch nicht, zumal uns die Schüsse weiterhin unten halten: präzises Einzelfeuer, knapp über unsere Köpfe hinweggezielt, vervielfacht vom Echo, das von den Felsen im Talgrund, vor denen auch meine Blicke abprallen, wie Serienfeuer (?) zurückkommt.
Wie angenehm war doch die Wärme des Urins zunächst! Und wie sehr hatte ich dieses
Wasserlassen, das mir tröstlich Bauch und Schenkel netzte, anfänglich doch genossen: als
mein eigener Geysir und Wärmebrunnen nässte ich mich. Doch dann gefror die Nässe,
klumpte eisig, wie ich empfand, und gefährlich um mein Genital herum, sodass ich nicht länger auf dem Bauch im Schnee liegen mochte.
Wir sollten zusehen, dass wir aus ihrem Schussfeld kommen, höre ich mich sagen, und
werde, wie ich’s sage, von einem Waden-Durchschuss aufgejagt. Sodass es keiner weiteren
Worte bedarf, und wir alle, wie ich nun das Kommando zische, mit versammelter Kraft
vorwärts kriechen, mit größter Anstrengung gegen die Hütten zu robben, wobei zwei von
uns eine breite Blutspur in den Schnee walzen, wie man das ähnlich auch beim Schweine-
schlachten auf den Bauernhöfen beobachten kann. Wo sie dann all diese grobschlächtigen
Sauereien anstellen, die Schwänze, manchmal auch die Pimmel den Gästen aus der Stadt,
den Schweinehunden aus der Stadt also, die Blut naturgemäss nur in Blutwürsten sehen
können, an die Auto-Rückspiegel, gelegentlich auch ans Auspuffrohr binden.
Gegen die versperrten Holztüren, die vernagelten Läden wuchten wir mit ohnmächtiger
Kraft, trommeln wir mit zunehmend gefühllosen Fäusten. Und immerzu denke ich, dass ich
wohl ausbluten muss, während ich sehr viel wahrscheinlicher doch bloss erfrieren werde,
indem ich bis ins Innerste hinein, in mein Gekröse hinein, in meinen Lungenschaum hinein,
erstarre. Und selbst mein zu einem Hilferuf geöffneter, schrecklich aufgerissener Munch-
Mund erstarren muss — vielmehr zu einem einzigen, gequälten Schrei gefriert. Und in meinen Hoden, meinen Kniegelenken, meinen Drüsen und Schleimbeuteln, meiner Luftröhre
und meinen Tränenkanälen ein einziges, fortwährendes Knistern und Festfrieren ist.


Wie Gneis und Glimmer ist sein Gesicht, wie er sich, den ich eigentlich nur von vergilbten
Schwarzweiss- Fotos kenne, auf denen sein Sepia-Gesicht ausnahmslos von einem mit
einer Berg-Anemone geschmückten Hut, einem zerbeulten Filz, verschattet ist, unerwartet
über mich beugt. Sodass ich das Glasauge, von dem man mir immerzu erzählt hat, jetzt
erstmals auch in natura sehen kann. Dieses Glasauge, was ja nicht gänzlich ausgeschlossen
ist, vielleicht auch mit dem richtigen Auge verwechsle, das ja nicht unbedingt milder
oder grossväterlicher blicken muss, am Ende vielleicht noch starrer blickt als das lidlose
Glasauge, weil es ja, wenn man es richtig bedenkt, ein schon gebrochenes Auge ist und
deshalb durch mich, ohne das geringste Wimpernzucken, hindurchblickt.
Welches nun das richtige Auge ist? Das linke, offensichtlich durchdringendere oder
doch das rechte, augenscheinlich adaptierende, für jede Helligkeit offene? Ich weiss es
nicht, brauche es auch nicht zu wissen. Zumal ich seinen Blick, denke ich, so oder so
aushalten muss.
Das kann er, das wird er, als mein leibhaftiger Grossvater, doch nicht zulassen, appelliere
ich lauthals, schreit es unverwandt aus mir heraus, wie sie mich unversehens unter den
Schultern fassen, abwägend, wie ich glaube, hochheben und offenbar ausschaffen und das
heisst: nach draussen befördern wollen! Und denke, dass er doch wissen muss, zumindest wissen müsste, dass ich, auch wenn inzwischen Jahre (und Jahrzehnte) vergangen sind, einen
Sommer lang sein Grab gesprengt habe, damals, auf dem Feldli, unserem Friedhof. So wie ich stets auch die beiden Nachbargräber begossen habe, also immer alle drei Grabstellen mit der Giesskanne seinerzeit gespritzt habe: Grossvaters Grab mit dem „Gipfelkreuz“ ebenso begossen habe, wie ich auch das Grab mit dem in rotem Sandstein gehauenen Edelweiss Woche für Woche gespritzt habe und das Immergrün auf der dritten Grabstelle, auf welcher der Altmann, der Unglücksberg also, aus Granit gehauen aufragte, ebenfalls nicht habe verdorren lassen. Wobei ich stets davon ausging, mir vielleicht auch nur eingeredet hatte, dass sie alle drei, neunzehnhundertdreiundvierzig, beim Abstieg vom Altmann, von einem Schneesturm überrascht worden waren. Sodass ich meinen Grossvater, der im Alleingang immerhin den ersten und fünften Kreuzberg bestiegen hat, über die östliche Südwand solo auch die Freiheit (Schwierigkeitsgrad IV+) bezwungen hat, wenigstens viermal auf dem Hundstein, mehrmals auch auf dem Moor (Ostwand) und dem Amboss war, zuletzt zu einer zerschundenen Bergleiche verwesen liess. Obwohl ich eigentlich hätte wissen — zumindest in Erfahrung bringen können, dass er in Wahrheit in einem Gewittersturm, mit ausgebreiteten Armen, wie angeblich beobachtet worden war, unglückselig von einem eben aufgerichteten Dachfirst flog. Wobei er seinen Schädel zuletzt nicht so viel anders zerschlug als die beiden neben ihm bestatteten. Es sei denn, dass diese in ihren Seilen erfroren: So dass sie bis zu ihrer Bergung zwei oder dreimal zufroren und wieder auftauten und erneut zugefroren sind, in der Wand, am leicht pendelnden Seil, von Dohlen umflogen.


Die Atemwolken vor meinem Mund scheinen verschwunden zu sein. Was nicht unbedingt
heissen muss, dass in meinem Odem, der anscheinend ja nun versiegt und verströmt ist, ein letzter Rest von Wärme nicht dennoch zurückgeblieben sein könnte — wie ich beim Hauchen in die hohle Hand zu meiner Beruhigung denn auch festzustellen glaube.
Seltsam verknüpft sind wir am mehrfach gedrehten Lebensseil, und weshalb gerade wir
vier nun eine Seilschaft bilden, brauche ich den Grossvater, der seinen Altersvorsprung
irgendwie behaupten kann, wohl nicht zu fragen. Ich weiss auch so, dass es mit meiner
Vorstellung von seinem Tod, von den Umständen seines Ablebens, dem Ableben überhaupt,
ganz unmittelbar zu tun hat. Vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich mir die Türe zum
Anderen immer nur angelehnt vorgestellt habe und auch die Schritte weiss, welche die
Schwelle beim Hinübergehen abgetreten haben.
Und jetzt, wo er mir das Seil über der Brust mit geübten Handgriffen festknotet, wird
mir bewusst, dass ich fortan auch dazu gehöre, gewissermassen schon immer mit eingebunden war im verwandten Geschick, und dass mir der Grossvater, den ich eigentlich
nur von seiner Grabstelle mit den Begonien kenne, freundlich gesinnt ist.
Dass wir durch die Vrenenchele, die Sankt-Verena-Kehle, ein bis unter den Gipfel sich
erstreckendes, in ständiger Bewegung sich befindendes Geröllfeld aufsteigen werden, kann
mich jedenfalls nicht wirklich schrecken. Selbst eine Winterbegehung, wie wir sie offensichtlich vorhaben und Anstalten dazu treffen, halte ich inzwischen nicht mehr für gänzlich undurchführbar.
Der feste Boden unter den Füssen sei ohnehin eine Illusion, höre ich den Grossvater
sagen. Alles ist Bewegung, nichts steht jemals wirklich fest, sagt er und hat (von seiner Warte
aus) ja wohl recht. Wichtig ist, dass man die grosse (und übergeordnete) Bewegung, die eine
natürliche und naturgewollte ist, mitgeht, sich dem Ablauf der Dinge nicht sinnlos entgegenstemmt.

Die Verbundenheit, die ich in diesem Moment fühle, ist eine ungewöhnlich grosse und
sie hängt nicht allein von diesem brüchigen Seil ab. Über der Brust hat es mir der
Grossvater, der offensichtlich die Hände meiner Mutter hat, sorgsam festgeknotet. Und es
ist ausgemacht, dass sie mich beim Aufstieg in die Mitte nehmen. Im Übrigen haben wir
Zeit und können uns, soviel ich verstanden habe, Zeit ruhig auch lassen.
Es ist mir jedenfalls nicht unangenehm, einen Vorgänger zu haben, Fuss für Fuss in
seine Nagelschuh–Stapfen zu setzen. Und der Schweiss auf meiner Stirn, der auch die
Schläfen kühlt, wird wieder warm werden von der Anstrengung. Und gemeinsam werden wir
in der bewussten Felshöhle unterstehen und dem Grollen der weiter ziehenden Gewitter
horchen. Und alle Griffe, sagt er, will er mir zeigen, und wie man den Fuss in die Schrunden
setzt und noch in der kleinsten Ritze einen Halt findet.
Die Kälte, die sich fühlbar nun über meine Wangenknochen spannt, steht mir gewiss
gut zu Gesicht und lässt mich ernster erscheinen. Das dürfte Lisa-Louise, meiner jungen
Mutter gefallen — sie hatte schon immer eine Vorliebe für das Ernste.