Ein Anarchist mit Seitenlinie
Wir saßen im nostalgischen „Gran Café Golden Gate“, schräg gegenüber der Banco de
Portugal und mit Blick auf das Denkmal für Senhor Joào Goncalves Zarco, einem Förderer
der Inselkolonisation während des 19. Jahrhunderts. Den landesüblichen Degenfisch mit
gebratenen Bananen hatten wir bereits verspeist und eine Bouteille Dao zur Hälfte geleert.
Die Touristen vom Kreuzfahrtschiff „Aida“ im globalen Einheitsgewand erschienen von Glas
zu Glas in milderem Licht, konnten jedenfalls die bescheidene Pracht des kleinen
Boulevards vor dem Parco municipal durch ihren Anblick kaum noch beleidigen. Aus dem
mächtigen Portal der Bank von Portugal, dorische Säulen, weibliche Kariatiden, Wappen
der königlichen Dynastie, Marmordekor, schmiedeeiserne Tore, trippelte ein kleiner, altmodisch,
aber elegant gekleideter Herr, dessen Erscheinung an Literaten aus der Zeit des frühen
20. Jahrhunderts erinnerte: dunkler Anzug mit Weste, leicht abgetretene Budapester
und auf dem schmalen Kopf ein strapazierter Borsalino. Die seltsame Person steuerte unerwarteterweise direkt auf uns zu, verbeugte sich förmlich kurz, hatte jenes Lächeln auf den Lippen, welches kultivierte Portugiesen wohl aus der ehemaligen Kolonie Macao in unsere Zeiten hinübergerettet haben und überreichte, nein: kredenzte uns geradezu ein Konvolut engbedruckter Papiere: „Ich habe Ihnen ein Anlageportfolio zusammengestellt, exakt auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten, risikoarm, nur 20 % Aktien, alles unsicher derzeit, hehe, Sie wissen ja selber, der Rest in Festverzinslichen, daneben ein offener sowie geschlossener Immobilienfonds, auch so eine Sache, hehe, Immobilienblase in England und China, Gold wäre das Beste, ist natürlich schon viel zu teuer, aber sehen Sie doch selbst, blättern Sie ein wenig, wie gesagt, exakt auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten, habe das instantan über meine Seitenlinie wahrgenommen, bei Interesse kommen Sie doch einfach an meinen Schalter in der Bank vis à vis, ich erwarte Sie mit bebenden Kiemen, bis gleich also!“ Das Männchen verbeugte sich abermals, lächelte fernöstlich und begab sich eilig zurück in die Bank. Er hatte seine Botschaft in perfektem, nur leicht badisch gefärbten Deutsch, mit landestypisch vokalischem Singsang und verschliffenem „s“, das wie ein „sch“ klang, vorgetragen, die Sätze kurzatmig japsend wie ein maritimes Wesen auf dem Trockenen.
Maßgeschneiderte Anlage-Empfehlungen speziell für uns, bebende Kiemen, Seitenlinie, als
Literat verkleideter Finanzberater, die Situation verlangte nach Klärung und wir folgten dem
Gnomen Alberich.
Das wunderbar erhaltene Gebäude im portugiesischen Kolonialstil barg im Inneren einen
überdimensionierten Schalterraum in Form einer Rotunde, die für ein Traditions- und
Geschichtsverständnis stand, welches um sich selbst kreiste und keinerlei Öffnung in
gegenwärtige Zeiten zuzulassen schien: ein runder Saal mit kreisförmig angeordneten
Schaltern, in der Mitte ein runder Tisch mit sechs runden Hockern, Parkett mit floralen
Intarsien, das gesamte Interieur in poliertem Edelholz gestaltet, opulente, glasbehangene
Messinglüster, aufwendig ziselierte Wandappliken, sanftes Licht aus weniger aufdringlichen
Zeiten, ein museal tröstlicher Ort von anachronistischem Charme.
„Da sind Sie ja, kommen Sie doch an meinen Schalter!“ Alberich stellte sich als Senhor
da Mar vor, hatte eine kreisrunde Brille aufgesetzt, sein Sacco ausgezogen und Ärmelschoner angelegt, welche aber die Doppelmanschetten mit Knöpfen aus Aquamarin unbedeckt ließen. „Wundern Sie sich nicht, ich habe einen Blick für solvente Geldanleger, natürlich kommt mir da meine Seitenlinie sehr zugute, hehe, mir entgeht kaum etwas, ich mache glänzende Umsätze, obwohl ich eigentlich Anarchist bin, kein anarcho-Syndikalist, auch kein kollektivistischer, eher ein individualistischer, habe in Freiburg/Breisgau Volks- und Betriebswirtschaft sowie Soziologie studiert, nach Lektüre von Max Webers Schriften die protestantische Bewährungsethik hassen gelernt, dann umgeschwenkt auf anarchistische
Denker und Akteure, Max Stirner, Rosa Luxemburg, Fritz Teufel, hehe, Sie verstehen, bis
sie mir Berufsverbot als Banker erteilt und mich, hehe, rausgeschmissen haben aus Ihrem
ordentlichen Land.“ Trotz des gefühlsbetont vorgetragenen Schlußteils dieser Suada waren
seine kaltglänzenden, wimpernlosen Augen unbewegt geblieben, während die Wangen
dagegen hektisch vibrierten und er seine kleinen, spitzen Zähne nach Art eines Piranhas
bleckte. „Sie sind also immer noch Anarchist?“ Er bejahte kopfnickend und lächelte hintergründig.
„Also ein anarchistischer Bankier, wie der aus dem gleichnamigen Werk Ihres
Landsmanns Fernando Pessoa?“, wollte ich wissen. „Das weniger, der ist mir zu spekulativ,
zu dünngeistig, zu egomanisch, hat einfach keine Durchschlagskraft, gibt sich halt sehr literarisch sublimiert.“ „Dabei hätten Sie zumindest rein äußerlich eine gewisse, nein: frappierende Ähnlichkeit mit Fernando, sozusagen Pessoa redidivus, wenn ich das bemerken
darf.“ „Vielleicht b i n ich’s gar, wenn auch sozusagen mariniert, hehe, Pessoa heißt zu
deutsch schließlich nicht nur „Person“, sondern auch „Maske“, Flucht in verschiedene,
womöglich postume Existenzen über die bekannten Doppelgänger hinaus, Alberto Caeiro,
Ricardo Reis, Alvaro de Campos, wollte wohl nicht er selbst oder n u r er selbst sein, entzog
sich camouflierend einer Festlegung, hatte vielleicht, hehe, die Nase voll von Fernando,
Antonio Nogueira de Sebra, dem Hochbegabten, aber Verantwortungsscheuen, hat sich
folglich nicht getraut, den papierenen Anarchisten auch blutvoll zu leben.“ Ich versuchte, ihn
zu stellen: „Wie vereinbaren Sie, wenn man fragen darf, Anarchismus und Bankgeschäfte,
denen Sie doch, wie Sie selbst betonen, höchst erfolgreich obliegen?“ „Ganz einfach,
Moment, da kommt gerade mein Chef vorbei, ein ziemliches Arschloch“, er hatte den letzten
Teil des Satzes mit gehobener Stimme skandiert, als ein hagerer Mensch im schmalschultrigen, engen grauen Einheitsanzug seiner Zunft mit angestrengter Karrieremiene zwangsfreundlich herüberschaute, des Deutschen offensichtlich unkundig, “also nochmal:
ich betreibe ganz einfach hochriskante Devisenspekulationen, gerne auch“, er senkte die
Stimme, „Insiderhandel, Warentermingeschäfte, Leerverkäufe, hehe, Sie verstehen? Mein
besonderes Organ verrät mir, welche Formen der Finanzmanipulation die größten Gefahren
bergen für meine Bank. Auf diese Weise füge ich dem Haus beträchtlichen Schaden zu, treibe es möglicherweise in den Ruin, vielleicht sogar das ganze Land, hehe, Sie wissen ja
selbst, wie weit es schon gekommen ist mit Portugal.“ „Entschuldigen Sie, aber Sie sitzen
hier noch immer und beziehen Gehalt, wie funktioniert das?“ „Natürlich mache ich auch
Gewinne, erhebliche sogar, auch hier ist mein besonderes Organ unerläßlich, aber alles nur
zur Tarnung, um den Ruin noch spektakulärer schließlich inszenieren zu können, dabei
kassiere ich obendrein noch Boni, hehe, Bank kaputt, Schäfchen im Trockenen, die Ihnen
empfohlenen Anlagemöglichkeiten sind vergleichsweise natürlich nur Peanuts,
Scheinaktivitäten, Tätigkeitsnachweise, mir angesichts meiner subversiven Strategie
vollkommen scheißegal, hehe, wollte Sie nur aus Langeweile hereinlocken, ein
Schwätzchen halten mit zwei nicht gerade anarchistisch wirkenden Deutschen, auch ein
Umstürzler wie ich darf doch mal Humor haben wie weiland Ihr Landsmann Fritze Teufel und nebenbei“, er erhob sich plötzlich theatralisch, „was sind schon ruinöse Finanzspekulationen sub spezie eternitatis, da hat die Natur ganz andere zerstörerische Möglichkeiten in Petto, und jetzt bekomme ich Hunger,“ er ruderte mit seinen Ärmchen, welche wegen ihrer Kürze wie Flossen wirkten, schnappte fortwährend ins Leere und fuhr fort: „Das Gespräch ist beendet, gehen Sie möglichst bald in Ihr scheinbar wohlgeordnetes Land zurück, wo es unter der Oberfläche längst gärt, aber d a f ü r haben Sie natürlich nicht das geringste Gefühl, wie sollten Sie auch, wo Sie doch keine Seitenlinie haben, ach, ich vergaß, das zu erklären: die Fische haben neben den Augen links und rechts am Körper ein zusätzliches Wahrnehmungsorgan, die Seitenlinie, welche“ – er beugte sich vor und deklamierte gestelzt
– „ihnen Orientierungsmöglichkeiten außerordentlicher Qualität gegenüber anderen
Lebewesen verleiht und ich darf mich rühmen, das Privileg dieser anatomischen Besonderheit mein eigen zu nennen, da ich an einem dritten März geboren bin, im Sternzeichen der Fische, und jetzt brauche ich etwas zwischen die Kiemen, hehe, Sie verstehen?“ Nach dieser absurden astrologischen Adaption schnappte und bleckte er erneut und wir zogen uns rasch zurück, um einer etwaigen körperlichen Attacke des hungrigen Senhor Alberich Piranha da Mar zu entgehen.
Unser Flug nach Deutschland ging noch am selben Nachmittag. Hatte seine Seitenlinie
ihn auch spüren lassen, daß am folgenden Tag eine Naturkatastrophe ungeahnten
Ausmaßes über Funchal und ganz Madeira hereinbrechen würde?
Kleiner Anarchist vor großem Welttheater.