Wolfgang Scherreiks

 

Der kleine Dostojewski


Der Nachmittagsschlaf ist der unmögliche. Jede Schuld kehrt zurück. Selbst die Schmerzen
fehlender Zähne pochen wieder unter dem Kiefer. Hinzu kommt meine Unsicherheit, ob ich
eines Nachmittags wirklich die Augen geöffnet und aus meinem Bett gesprungen oder ob
ich mit rudernden Armbewegungen, Maulklappern wie ein Fisch, warum nicht aus
Wachheit?, Klarheit?, Unschärfe!, tiefer in den Schlaf hinein bin.
Sicher ist nur, dass mich vor einer Buchhandlung dicke Luft befällt. Eben noch durch die
Antiquariatsstraße schwankend, stemme ich beide Arme gegen eine Art Märchenholzrahmen.
Kopfüber, wie ein erschöpfter Läufer, sehe ich meinem Atem zu: So viele Türen
öffnen oder beiseitelassen, so viele Menschen nebenan, die ihren Weg nie zwei Mal gegangen sind, dafür einen Häuserblock weiter im Gleichgewicht ihrer übereinandergeschlagenen Beine Kaffee trinken, in beispielloser Sicherheit, was tun, was lassen, über die Farben, den Raum, eine Kompassnadel im Kopf.
Als ich die Ladentür kippe, falle ich in einen Wald. Büchersammler lugen von Kieferstämmen herunter, über den Rand ihrer Brillengläser, tadelsüchtig wie Urahnen. Neige ich den Kopf nur um zwei Grad, schweben sie geschnürten Säcken gleich und ich sehe ihre
löchrigen Schuhsohlen.
Auch ich brauche einen Schuster. Sobald ich aber eine Buchhandlung betrete, steigt
ein Streitgespräch auf, das in einem Beleidigtsein des einen oder des anderen gipfelt.
Selbst den Antiquar, der wie ein Oscar Wilde tut, bei dem ich Tee nehme, schimpfte
ich unerwartet ein altes Indianerweib, da er chronisch Zitate ausspie. Auf den Kopf zu sagte
ich ihm, dass alle Antiquare als Nachtmare in englischen Wiegenliedern verrotten
sollten. Im Gegenzug attackierte er mich als den kleinen Dostojewski, hob wütend
sieben Zuckerstücke gegen mich hoch, warf sie aber in seinen Tee.
Als ich alles verloren hatte, lotste mich mein Weg zu diesem Typen. Sein Markenzeichen
ist ein Rosenstrauß, der in aller Seelenruhe auf dem Tresen welkt. Von ihm
nahm ich wahllos, er gab nie wahllos. Als Erstes überreichte er mir den „Idiot“,
in Zeitungspapier gewickelt, mit einer Purpurschleife obendrauf, vielleicht, um mich zu
provozieren. Doch mit jeder Schicht, die ich freilegte, spürte ich ein Glück vorrücken.
Nachdem ich alle Schichten entblättert hatte, habe ich den Idioten noch im Buchladen
umarmt und dann nicht mehr losgelassen und bin so auf die Straße hinaus.

Einen Tag später zog ich die leichten Hosen eines Spaziergängers über, befestigte zwei
Klemmen am Hosenbund, warf einen Tornister über und fand meinen Trott. Anfangs schlenderte ich mit losen Händen. Je nach Lichteinfall auf Straßen und Plätze ging mein Blick auf ein persönliches Paradies oder die Abwesenheit daraus. Wenn ich in meinen Zehen den Widerstand des Straßenbelags spürte, hob ich den Kopf: Meine Einbildung über den
Gleichmut eines scharf gezeichneten Doppelgängers, der auf mich zu trat, dem ich nichts
entgegenzusetzen wusste. Der andere war perfekt. Er lüftete elegant seinen Hut, stolzierte
vorüber, und ich kehrte auf meinen Ausgangspunkt zurück. Zurückzukehren macht mir gar
nichts aus. Ich besitze die Fähigkeit, mich im Rückwärtsgang aufwärts zu bewegen, sonst
könnte ich es gleich vergessen.
An jenem Nachmittag, an dem ich alles verlor, liege ich, die Augen halb geschlossen, auf
den Dielen meiner Bibliothek ausgestreckt. Langsam wird mir klar: Alle meine Bücher sind
die Treppen heruntergetragen und in den Hof geschafft worden. Und vom Hof aus, in dem
es feucht ist und immerzu regnet, weil er eben der Hof ist, in die Mülltonnen. Und daß mit
einer unglaublichen Euphorie, die noch zwischen den Wänden brennt. Sonnenlicht fällt wie
durch ein Kirchenfenster, bauscht Staub auf und zieht sich gleich wieder zurück. Damit geht
auch das Sakrale vor die Hunde. Einzig das Gerüst einer Bibliothek hält sich, vielleicht als
Idee, immerhin. Sonst ist alles leer. Außerhalb meines Schlafes sehe ich meine Bibliothek
noch einmal als das barocke Gemälde, das sie für mich war. Aber meine Einbildungskraft
schwindet. Weinen erscheint als das Angemessene. Das Angemessene ist das Unmögliche.


Wenn ich mich beruhigen will, mache ich mir meine Körperlichkeit bewusst, alle
Gliedmaßen. Diesmal hapert selbst das. Ich liege nur da und frage mich, was ich jetzt
anfangen soll.
Ich stehe ich auf und inspiziere die leeren Regale. Zwei Bücher sind noch da. Calderón
de la Barca und ein Mathematikbuch für das siebte Schuljahr. Mit Calderón komme ich nicht
weiter. Ich lege ihn beiseite. Das Mathematikbuch steht trotzig aufrecht in einem Regal. Als
Kind war dieses Buch ein Grund zum Losgehen. Irgend so ein Ohrfeigenpädagoge hat es
mir einmal gegen das rechte Ohr geknallt, weil ich aus dem Fenster schaute, in die Ferne.
Ich habe sofort wieder in die Ferne geschaut, aber das Brennen bin ich nie mehr losgeworden. Damals war das Buch der Auslöser, eine der Schulmathematik entgegengerichtete Bibliothek zu gründen. Dafür gehe ich jederzeit noch einmal los.


Im Gehen begleiten mich große Gesichter mit Vollbärten. Im richtigen Abstand gehalten
sind es Tausender der alten Währung. Geldscheine, im Gehen von Pflastersteinen gehoben,
im Nachtischschränkchen wiederaufgefunden. Erst halte ich winzige, zusammengeknüllte
Fetzen, dann ein Vermögen in den Händen. Damit kann ich eine viel größere, angeberische
Bibliothek gründen. Ich kaufe mir Holzmöbel, Ledersitze, Kabinette, Vitrinen,
Schubladen, und als letzte Maßnahme setze ich grüne Leselampen auf die Ablagetische.
Die verrotteten Studentenregale werfe ich in den Hof. „Was für ein Glück!“ Infolge des
ausgesprochenen Glücks entwickle ich die Fähigkeit zu fliegen. Ich steige, bis mir schwindlig wird. Erst hoch und schnell, dann sacke ich und schwebe.
Aber der Satz über das Glück fällt auf mich selbst zurück. Mit der Währung ist es aus.
Ich könnte ebenso gut arm sein. Ich möchte nicht darüber spekulieren. Meistens passiert,
was ich denke.
Es folgen gerahmte Tage: Auf einem Sofa, mit nackten Füßen, schlage ich jedes Blatt,
etwa den luxuriösen Trost eines Bilderbuches, beiseite, eine Blume, ein Autorengesicht, beiseite,
eine Schrift ohne Gesicht, ebenfalls beiseite, ein Aston Martin, beiseite, Mecki im
Schlaraffenland, Märchenbücher, Sternenliteratur, Philosophengeschichten, schlage ich alle
um, in ungeschriebenen Journalen lese ich mich fest, schlage auch sie am Ende beiseite.
Aus dem Umschlagen der Seiten entstehen Bücher, aus den Büchern wird eine Bibliothek,
aus der Bibliothek eine komplizierte Seele.
Dazwischen regnet es Rechnungen vom Himmel, andere stecken wie die Liebesbriefe
meiner Feinde im Briefkastenschlitz. Mittlerweile kann ich meinen Körper wieder spüren, nur habe ich keine Mittel mehr, Bücher zu kaufen. Das kann ich jetzt nicht mehr verdrängen, das war aber ein netter Versuch. Die ersten Bücher, die ich nehme, um eine Bibliothek aufzubauen, sind in fremden Grippebetten gelegen, auf Aborten durchblättert. Sie tragen
Kaffeesprenkel, Schlieren, Knicke, Aufrisse, gesprungene Deckel. Sie riechen nach den
Zigarren der Fünfziger Jahre. Oder es sind stockfleckige Gebilde, etwas Gärendes, das in
die Natur zurückwill. Schlage ich eines auf, sehe ich Asseln, die auf und davon in die Welt
hineinlaufen.
In den besseren, aus den bürgerlichen Nachlässen, finde ich oft Sätze unterstrichen. Ein
dummes Ausrufezeichen pflanzt sich gegen den Rhythmus oder ein Fragezeichen lässt die
Buchstaben steigen, wo alles gerade ins Bodenlose fällt. Immer sehe ich den Kritzeladmiral,
nie dessen Genie vor Augen. In den Widmungen finde ich Warmes nicht, nicht so warm,
dass ich schlucken muss. Dafür besitzergreifenden Tintenfraß: Eine Herzensbrecherin hat
vor bald einem Jahrhundert mit strenger Hand „Salut“ in ein Buch geschrieben, vorne wie
hinten, am Anfang wie am Ende, was fange ich damit an? Mit einem solchen Andenken
kann ich, wie bei einer Frau, schon von der äußeren Erscheinung her, nicht intim werden.
Ungut kann ich es mit ins Bett nehmen. Ich wünsche mir meine alten Bücher zurück, die
manchmal nach dem Parfum dufteten, das ich benutze, weil es das von Frauen ist, die mir
längst gekündigt haben, deren Parfum aber noch immer in den Kissen hängt.
Vielleicht machen es meine Schuhe nicht mehr lange, doch die Regale meiner Bibliothek
füllen sich. Ich kann es nie abwarten, wenn es einmal nicht vorangeht. Dann muss ich Listen
gestalten. Ich widme mich unglaublichen Zählgeschichten. Manchmal schreite ich mit einem
langen Finger die Reihen ab und zähle alle Bücher. Dann klopfe ich dem einen jovial auf
den Rücken, rücke ein anderes zurecht.

„Trotzdem macht ihr noch keine Bibliothek aus“, sage ich, wenn ich vor den Romantikern
ende. „Ab zweitausend Bänden könnt ihr euch eine Bibliothek nennen. Zweitausend haben
wenigstens die, die ihre Bücher seit ihrer Kindheit bewahrten. Die nie von vorne angefangen
haben, die immer geradeaus gegangen sind.“ Die Bücher schweigen. Ich wende mich
ab, wende mich wieder hin: „Zweitausend Bücher hatte früher jeder Abiturient!“
Damit verlasse ich die Bibliothek und denke mir: Wenn ich zweitausend habe und den
Mut aufbringe es irgendwo einzuwerfen, wird sich höchstwahrscheinlich jemand zerstreut
an den Kopf fassen und entgegnen, dass er auch ein paar Tausend Bücher herumstehen
habe. Solche Leute sind immer zur Stelle, auch wenn ich ihnen recht geben muss. Denn
erst ein paar Tausend, vielleicht zehntausend Bücher, das ist eine Bibliothek! Das bedeutet
keinesfalls geschenkte, in die Hände gefallene, jedenfalls nicht aus Not, Unüberlegtheit,
Überdruss, Geringschätzung.
Geringschätzung scheint meine Nachmittagsbeschwerden am besten zu umschreiben.
Ich kann mich nicht mehr an den Grund erinnern, warum ich meine Bibliothek verloren habe
und jetzt so eine Art mythologischer Spaziergänger geworden bin. Ich weiß nicht einmal,
was ist Schlaf, was ist nicht Schlaf. Ich gehe oder ich liege oder ich atme und sehe mir
selbst dabei zu.