MARIANNE HOFMANN
Dezember, Januar, Februar, das sind die Monate, in denen das Eis wächst. Und jedesmal die bange Frage: Was ist, wenn es heuer nicht friert? Es wird frieren, sagt die Mutter: Denk an die Bauernregel: Der Februar sagt zum Januar: Hätt ich die Gewalt wie du, erfrierte ich das Kalb in der Kuh.
Wir warten auf die Kälte. Warten, daß das Wasser zu Eis wird. Das Eis, das im Keller bis in den September hinein das Bier kühlen soll.
Über Nacht ist der erste Schnee gefallen. Auf der Straße ziehen Kinderhorden mit ihren Schlitten vorbei. Wild sind sie geworden vom Schnee. Sehnsüchtig schaue ich hinaus auf die Straße. Die Mutter erlaubt mir nicht, mich unter die Kinder zu mischen, sie hält mich trotz der Bitten zurück. Zu viele Socken sind zu stopfen, zu viele Handschuhe zu flicken.
Erst wenn es dunkel geworden ist und die Mutter an den Melkschemel gefesselt, renne ich los mit dem Schlitten, so, daß keiner mich sieht.
Einige Buben treiben noch ihre ausgelassenen Spiele auf der Schlittenbahn. Wenn es zum Gebet läutet um fünf, müssen sie nach Hause.
Jetzt bin ich allein. Der Mond steht eiskalt am Himmel, wirft sein Licht über die Schlittenbahn. Andächtig und still fahre ich hinunter, immer wieder, genieße das leise, fast schwerelose Gleiten. Bin ganz bei mir selbst und mit meinem Schatten.
Der Vater wird nervös und staut die Wasserwiese. Dann, endlich, zieht es an. Es wird schon, sagt mein Vater, das Eis, es wächst. So dick ist es bereits. Daumen und Zeigefinger zeigen die Dicke an. Jeden Tag geht er hinaus, sieht nach dem Eis.
Die Kinder prahlen in der Schule, daß sie am Nachmittag zum Schlittschuhlaufen gehen. Auf unserem Eis! Und ich darf nicht hinaus!
Gegen den Willen der Mutter besorgt mir der Vater alte Schlittschuhe. Sie ziehen mir die Absätze von den Schuhen und sausen ohne mich davon. Trotzdem ist die Freude groß. Als ob es das bräuchte, sagt die Mutter, daß Mädchen auch noch Schlittschuhlaufen lernen.
MARIANNE HOFMANN