Alexej Moir

 

 

 

     



Die Faszination der Stimme
 

– Der Erzähler im Islam –

                                                                                                                                   Für Eike-Wolfgang Kornhass

 

Und den Dichtern folgen die Irrenden. Weisst du nicht, dass sie in jedem Tal kopflos umherlaufen und davon reden, was sie nicht tun.
(Sure26, 224-226)


 
In eine dünne Jacke gehüllt, schlich ich durch die Gassen der verwinkelten Altstadt von Damaskus. Ein kalter Wind blies mir ins Gesicht. Ich fror jämmerlich. Plötzlich blieb ich vor einem Teehaus stehen. Aus der nur angelehnten Tür quoll der Rauch der Wasserpfeifen und eines defekten Ölofens ins Freie. Eine schrille Stimme ließ die beschlagenen  Scheiben vibrieren.  Eine  Stimme, die sich überschlug, jäh abbrach, um dann aus der Tiefe der Brust neue Kraft zu ziehen, die heiser flüsterte, dahinschmolz, sich wieder verfestigte und in ein böses Stakkato überging. Vielleicht vierzig Köpfe waren einem alten Mann zugewandt. Die Männer hockten auf niedrigen Schemeln und zogen an den Schläuchen ihrer Pfeifen, ohne darauf achtzugeben.

Bismi’llahi’r-rahmani’r-rahim – im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen – die Stimme klang jetzt zuversichtlich und siegesgewiss - Er sprach kein Wort zu der Frau, während sie die Straße entlang gingen. Erst zu Hause fragte er sie:
„Wie heißt du?“ Die Frau antwortete leise, ihre zarte
Stimme zitterte leicht: „Ich heiße   Schehrezade.“
„Aus welchem Land kommst du,“ fragte er unruhig.
„Aus keinem Land.“ Er betrachtete sie eine Zeitlang, dann sagte er. „Du bist schön.“ Ihr Mund war ein kleines, geheimnisvolles, scharlachrotes Tier.
„Wir wurden voneinander getrennt.“
„Wir irrten über die weite Erde.“
„Ich habe überall nach dir gesucht.“
„Ich  wurde  in  ein  Zimmer  mit  verschlossenen
Türen gesperrt.“
„Ich wurde ein Bettler.“
„Ich ging durch die Gassen, in ein schwarzes
Tuch gehüllt.“
„Ich  habe  mit  den Fingernägeln die Erde aufgekratzt.“

 
„Ich habe allein in Städten gelebt, die nur von
Männern bewohnt waren.“
„Man hat mir ins Gesicht gespuckt.“
„Männer mit viel Geld haben mich gekauft.“
„Ich bin ein armer Mann. Warum hast du mich verlassen, o mein Gott.“

Sie umarmten sich heftig. Dann blickte er sie mit tränennassen Augen an, aus deren Tiefe ein Verlangen schrie. Er zog sie gierig an sich, doch kaum hatte sein Mund den ihren berührt, als von der  Straße  Geschrei  an  sein  Ohr  drang:  Der Feind hat uns überfallen … tötet sie … tötet sie alle … auf in den Krieg.“

 

Hier brach die Stimme abrupt ab. Ich hatte mich scheu an die mit Holz verschalte Wand gedrückt, als mich der inquisitorische Blick des alten Erzählers mit voller Wucht traf. Dann musterten die großen Augen reihum jeden einzelnen Zuhörer, voll Spott, wie mir schien und als suchten sie nach der Fortsetzung der Geschichte, die nur einer der anwesenden Männer wüsste.

Liebe, die Gier aufeinander, ist sie nicht auch eine Art Krieg? Die Stimme klang jetzt quäkend, schleppte sich mühsam von Wort zu Wort, war wie von einem Tuch gedämpft. Der Alte saß auf einem riesigen Stuhl im hintersten Winkel des Raums, eine Art geschnitztem Thron, der mit dem spitz zulaufenden Kopfende an die Decke stieß. Das grelle Licht zweier Scheinwerfer meißelte die Züge des Gesichts fast unanständig scharf heraus. Nur die enganliegende Baumwollkappe und der darauf sitzende Tarbusch mit seiner blauen Seidenquaste milderten den Eindruck von Obszönität. Das hagere Männlein trug eine viel zu lange und viel zu weite Pluderhose und ein grellbuntes Hemd, das nur die Wollsocken an seinen  Füßen  freiließ.  Die  baumelten  hin  und her,  imitierten  den  Takt,  den  der  alte  Zwerg mit einem etwa zweimeterlangen Stock schlug. Dieser Knüppel nagelte den Schmerz der Liebenden am Boden fest, unterstrich das Kriegsgeschrei, ermahnte einen Zuhörer, dessen Aufmerksamkeit nachzulassen schien. Auf dem Schoß des Erzählers ruhte ein ledergebundener Foliant, in dem er bisweilen achtlos blätterte, so tat, als läse er daraus vor.

Wer mag dieses winzige Wesen auf das Podest gehievt haben. Ich unterdrückte ein Lächeln, bis mich die nun einschmeichelnde Stimme erneut in ihren Bann zog. Wie grellgeschminkte Kolibris flatterten die Wörter durch den Raum. Ihre Bedeutung war unter dem Gefieder verborgen oder auch gar nicht da. Nur die Wucht und das Feuer, mit dem sie hervor- gestoßen wurden, zählte.

 

Von Beginn an ist der Erzähler, der Dichter immer dabei, wenn etwas Wichtiges geschieht. Seitdem sich Gott im Koran offenbart hat, werden die Meister des Wortes nicht müde, seine Schöpfung mitunter auf frivole Art zu preisen. Neben dem chatib, der am Freitagnachmittag in der Hauptmoschee die Predigt hält, dürfen in den ersten Jahrhunderten des Islams auch die kussa ihre mehr oder minder religiös gewirkten Geschichten erzählen, wundersame und oft recht dubiose  Begebenheiten,  die  man  Muhammad und den frühislamischen Eroberern zuschreibt. Nach und nach gelingt es der Orthodoxie, diese volkstümlichen Erzähler zu ächten und von der Gebetsstätte zu verbannen. Von den Moscheen ziehen die kussa auf die Marktplätze, vermischen sich mit Gauklern und Bettlern und machen aus Worten, die sie dem Propheten in den Mund legen, reichlich Profit, heißt es doch in einem Hadith: Wer die Nasenspitze mit seiner Zunge berühren kann, wird nicht in die Hölle kommen.

Ihre ursprüngliche Reputation hatten sie allerdings verspielt. Ohne ein gewisses schauspiele- risches Talent hätten die kussa ihre Zuhörer auf Dauer kaum   fesseln können. Im heutigen Arabischen heißt hikaja „Geschichte“, aber ursprünglich meint das Wort „Nachahmung“, und der hakija, der Geschichtenerzähler, ist ein Imitator. Die Kunst des hakija besteht gerade darin, die unterschiedlichsten Laute und Stimmen nachzuahmen: Vögel, Ziegen, Kamele und andere Tiere, einen plötzlich ausbrechenden Sturm, berühmte Persönlichkeiten und skurrile Typen der Gesellschaft.

Der hakija ist zunächst kein Erzähler. Erst als Anfang des 16. Jhds. von Istanbul bis Kairo die ersten Caféhäuser entstehen, verschwindet er von der Straße, um sich in diesen neuen Etablissements zum professionellen Erzähler, dem hakawati, zu mausern. Er versteht es, seine Geschichten in ausgefeiltem, technisch brillantem, hochliterarischem Stil vorzutragen, ohne seine Zuhörer, auf deren Entgelt er ja angewiesen ist, zu langweilen. Dabei kommt ihm entgegen, dass sich auch der einfache Araber oder Perser von der Poesie, von der Macht des Wortes, wenn es nur bravourös vorgetragen ist, hinreißen lässt.

Die abstrakte Formation des Wortes kommt aus der Wüste. Die ständig umherziehenden Beduinen hatten keine andere Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken als durch die menschliche Stimme. Sie verkörpert für die Wüstenbewohner Leben schlechthin. Der Dichter, der Erzähler ist ihr kulturelles Gedächtnis. Und so kann er seine herausgehobene Stellung aus der vorislamischen Gesellschaft in die islamische retten, auch wenn er dem Propheten zeitlebens suspekt bleibt. Denn der Islam wurzelt in der Magie des Wortes. Wer nun dieses Mittel anders als zu sakralen Zwecken benutzt, macht sich im höchsten Maße verdächtig. Der Koranrezitator und der profane Erzähler ähneln sich in der Art des Vortrags, in der Inbrunst, mit der sie gleichsam in ihren Text „hineinschlüpfen“ zu sehr, als dass sie sich nicht als Konkurrenten empfänden.

 

Was der Engländer Alexander Russels 1794 aus einem Caféhaus in Aleppo zu berichten weiß, gilt auch in unserer Zeit:

 

„Er erzählt und wandert dabei in der Mitte des Cafés hin und her. Nur dann und wann hält er an, wenn die Handlung eine ausdrucksvolle Haltung verlangt. Gar nicht so selten bricht er mitten in einem interessanten Abenteuer, wenn die Erwartung des Publikums aufs höchste gespannt ist, plötzlich ab und verschwindet. Dabei lässt er seinen Held und seine Heldin ebenso wie seine Zuhörer in äußerster Verlegenheit zurück. Man versucht ihn an der Tür aufzuhalten. Aber er zieht sich immer geschickt zurück. Und die Zuhörer müssen am nächsten Tag zur selben Zeit wiederkommen, um die Fortsetzung zu hören. Kaum hat
er den Raum verlassen, beginnen die Anwesenden über die Gestalten des Dramas zu diskutieren. Die Kontroverse nimmt nach und nach an Schärfe zu, und gegensätzliche Meinungen werden so leidenschaftlich verteidigt, als hinge das Schicksal der Stadt von der Entscheidung ab.“

 

Weit mehr als in den arabischen Ländern, wo man den traditionellen Erzählern nur noch in Syrien und Marokko begegnet, steht dieses mimische Spiel mit Worten im heutigen Iran in Blüte. Schon im mittelalterlichen Persien rezitierte der naggal, der „Übermittler“, aus dem Schah-Name, dem  „Königsbuch“,  das  Firdausi  im  11.  Jhd. schuf. Die über 50 000 Doppelverse dieser wohl längsten Dichtung der Welt sicherten dem Barden  über  ein  Jahr lang  seinen  Erzählstoff. Hielt sich der unerfahrene naggal noch streng an das literarische Vorbild, so ließ er mit zunehmendem Alter in das gigantische Epos immer mehr eigene Wendungen und Gedanken einfließen, bis schließlich ein völlig neues corpus poeticum entstand. Im späten 19. Jhd. schlossen sich die naggal zu einer Zunft zusammen, der ein kaiserlicher Beamter vorstand. Dieser nagibu l-Malek war zugleich das Oberhaupt des offiziellen Derwischordens. Denn das Erzählen ist eng mit dem  Sufismus  und  dessen Orden  verbunden. Auf ihrer Suche nach Gott wanderten die Sufis durch die Steppen Anatoliens und Zentralasiens, erreichten schließlich China und den indischen Subkontinent, durchquerten die Sahara und später den Balkan. Sie besaßen nur das, was sie auf dem Leib trugen. Und sie hatten ihre Stimme. Zwar hatten die muslimischen Eroberer ihren rachsüchtigen und zugleich barmherzigen Gott in all diese Gegenden mit der Waffe gebracht. Doch  erst  der  Wortgewalt der Wanderprediger gelang es, den eroberten Völkern diesen ab- strakten und unsichtbaren Allah nahezubringen. Nicht  mit  der  Androhung  von  Strafen oder der Verheißung ewiger Wonnen im Jenseits droschen sie auf ihre Zuhörer ein. Vielmehr erzählten sie von der Liebe zweier Menschen, von der unerwarteten Wandlung, die in deren Herzen stattfand. Sie wurden nicht müde, mit immer neuen Worten die Schöpfung zu preisen, die trotz allen Elends doch gut sei. Und man glaubte ihnen.

Noch vor einer Generation brachten die Derwische die Menge der Bauern, Lastträger und Maultiertreiber nicht nur durch ihre Geschichten von Liebe und guten Feen zum Staunen, wenn sie durch die Dörfer zogen. Noch mehr erregte ihre ausgefallene Kleidung die Neugier: die kurzen Hosen aus Tierfell, die Käppchen und die gewaltigen Äxte und Knüppel. Bis vor kurzem zogen vier naggal durch die Caféhäuser der mitteliranischen  Stadt  Schiras.  Sie verstanden es, bei ihren Veranstaltungen, die durchschnittlich anderthalb Stunden dauerten, einhundert bis zweihundert Zuhörer um sich scharen. Dabei mussten sie mit den rouz-e chan konkurrieren, die volkstümliche Predigten hielten und das Martyrium von Hasan und Husein, den Enkeln des Propheten Muhammad, in grellen Farben heraufbeschworen. Mehr als ihre Zuhörer zu unterhalten lag ihnen daran, deren Herzen mit Reue und religiösem Eifer zu füllen.

In den ersten Jahrhunderten des Islams war der übliche Weg, ein Buch zu „publizieren“, es zu „veröffentlichen“, es in die Moschee mitzunehmen und dort laut vorzutragen. An dieser im Grunde oralen Attitüde, Wissen weiterzugeben, hat sich bis heute wenig geändert. Das gilt auch für den Koran. Jeder Muslim, der eine schulische Ausbildung genossen hat, kennt wenigstens Teile des Korans, ein Gelehrter, der etwas auf sich hält, sogar den ganzen Text auswendig. Wer alle einhundertvierzehn Suren des Heiligen Buches im Kopf hat, darf sich hafiz, „Bewahrer“, nennen. Insofern stellt der geschriebene Koran nicht ein unabhängiges Artefakt dar, sondern er dient als Hilfsmittel für das Auswendiglernen und die Rezitation. Nur die immerwährende Wiederholung führt zu diesem Ziel. Daran änderte im Gegensatz zu Europa auch die Einführung des Buchdrucks wenig. Ein muslimischer Gelehrter will durch einen breiten Fundus von überliefertem und festgestanztem Wissen glänzen. Dabei ist er ein Meister in der Beobachtung von Phänomenen. Doch in der skrupulösen Anhäufung von Fakten verliert er sich allzuoft ins Detail, was ihn daran hindert, weiterführende Hypothesen aufzustellen oder gar zu einer logischen Schlussfolgerung zu kommen. Ganze Texte und Wissensbestände werden andauernd wiederholt und wiedergegeben. Variationen finden kaum und Innovationen möglichst gar nicht statt. Doch wird dies nicht als negativ empfunden, weil eben diese Wiederholung für die Muslime ein Beweis ist, dass ihr Glaube und ihr Leben richtig gegründet sind. Die Innovationen des Westens und die damit einhergehenden  geistigen  und  kulturellen  Erschütterungen gelten als Zeichen dafür, dass dessen geistiges und religiöses Fundament nicht trägt. Selbst die Struktur der arabischen Sprache beruht auf der Wiederholung: auf phonologischer Ebene durch die Wurzelvariation, auf lexikalischer Ebene durch die schier endlose Zahl von Synonymen und auf syntaktischer Ebene durch die immer gleichen parataktischen Phrasen, die es erschweren, ein komplexes Satzgefüge zu generieren.

Der immense Klangreichtum und die Rhythmik speziell des Arabischen verführen den Erzähler dazu, in einer semantischen Verschwommenheit des Ausdrucks zu schwelgen. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Sprachen, in denen zumindest im schriftlichen Diskurs orale Elemente verpönt sind, scheint der Arabischsprechende über Gebühr dem „Ohr“ schmeicheln zu wollen. Er greift gern auf längst vergessene alte Wörter zurück und macht eine wahre Jagd auf lexikalische Raritäten, um seine Bildung zu demonstrieren. Auf der Suche nach einem bizarren Wort bleibt der originelle Gedanke auf der Strecke. Etwas „mit eigenen Worten“ sagen zu wollen ist dieser Geisteshaltung fremd. Dass die Sprache dem Menschen gegeben wurde, um seine Gedanken auszudrücken – wie es Molière formu- liert hat –, stößt bei vielen Arabern auf Unverständnis.

Dennoch nehmen in der islamischen Welt Dichter und Schriftsteller – überhaupt alle, die mit dem Wort umgehen – einen besonderen Rang ein. Argwöhnisch von den Mächtigen und den Gralshütern der Orthodoxie beäugt, suchen sie oft genug ihre Zuflucht in artistischen Formulierungen zwischen Mythos und Realität. Das falsche Wort kann den Tod bedeuten. Denn in den Augen der Muslime trägt der Dichter für das, was er sagt oder schreibt, eine ungleich größere Verantwortung als sein europäischer oder  amerikanischer  Kollege. Seine Worte „fliegen schneller als Pfeile über die Wüste.“. Die Vorstellung der verbalen Attacke, Worte als Waffen zu gebrauchen, ist auch uns hinreichend geläufig. Die Araber – und auch andere Völker des Nahen Ostens – messen dieser Handhabung von Sprache eine solche Brisanz zu, dass das eigentliche Handeln und die Realität dahinter verblassen. Die verbale Äußerung – sei es nun eine Drohung oder eine Absichtserklärung – erhält eine Bedeutung, die es unwichtig macht, ob die angesprochene Handlung auch tatsächlich ausgeführt wird. In der ganzen islamischen Geschichte, besonders in Zeiten des Niedergangs, war die Versuchung groß, die eigentliche Tat durch Worte zu ersetzen.

Die Neigung zur endlosen Wiederholung, der Vorrang des Oralen, auch wenn ein Text schriftlich fixiert ist, und das geradezu triebhafte Spiel mit Synonymen haben die arabische Hoch- und Vulgärkultur gemein. Eigentlich kann man zwischen beiden zumindest im arabischen Raum keine wie immer geartete Grenze ziehen. Der Erzähler – aus welcher sozialen Schicht er auch stammen mag – brilliert darin, Details intensiv auszumalen: Er wird den Morgen mit einer Beschreibung des Zaumzeugs des Helden beginnen, wenn der sich auf die Reise macht, und am Nachmittag immer noch dabei sein, den Schwanz des Pferdes zu beschreiben. Den ganzen Abend widmet er sich dann dem Fell des Tieres, dessen Glanz er mit nie versiegender Wortgewalt seinen Zuhörern vor Augen führt. So jedenfalls spottet der Romancier Richard Hughes, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lange in Marokko gelebt hat.

 

Weniger verschwenderisch geht der türkische aschik mit den Sprachmitteln um. Seit Jahr- hunderten zieht dieser „Verliebte“ durch die Dörfer und kleinen Städte Anatoliens und trägt die eigenen Texte vor. Er begleitet seinen Gesang auf einer meist dreisaitigen Langhalslaute, der saz. Die anatolischen Sänger und Erzähler kommen aus allen Schichten. Bereits in ihrer Kindheit wird die Umgebung auf ihr Talent aufmerksam und fördert sie nach Kräften. Wenn der Ruhm eines aschik über seine engere Heimat hinausdringt, dann sammeln sich bald Schüler um ihn, die seinen Stil erlernen wollen.
Gewöhnlich singt und deklamiert der aschik in seiner freien Zeit. Manch einer lässt sich auch gegen ein Entgelt „engagieren“. Er tritt auf Hochzeiten und Familienfesten auf. Die besten nehmen am Dichterwettstreit teil und an den religiösen Zeremonien der Sufiorden. Gerade im Kult des Bektaschi-Ordens nehmen das dichterische Wort und die Musik einen zentralen Platz ein.

In achthundert Jahren haben sich die Themen der aschik-Literatur kaum gewandelt. Gottsuche, heftiges Liebesverlangen, wobei meist offenbleibt, ob das Objekt der Begierde im
Diesseits oder im Jenseits angesiedelt ist, Lobpreisung der Schönheit, hemmungslose Klage und das Einssein mit der Natur sind die stets wiederkehrenden Themen, die der Dichter mit einer Mischung aus tradierten Topoi und einer individuellen, sehr suggestiven Ausdruckskraft behandelt. Die undogmatische Geheimlehre der Bektaschis  von  der Emanation des Urgottes, vom ständigen Kreislauf der Entfaltung und der Vernichtung, dem der Kosmos unterliegt und vom mit der Materie unlösbar verbundenen Menschen inspiriert den Erzähler zu vieldeutigen Spekulationen, die er in der kargen Sprache der anatolischen Bauern und Hirten auszudrücken versteht. Ohne den umherziehenden Barden mit seinem packenden Wort und seiner rauhen Stimme hätte sich der Islam in der Spielart der Bektaschi- Lehre kaum so nachhaltig unter den Bewohnern des anatolischen Hochlandes verbreitet.

Die aschik-Dichtung deckt alle Bereiche des religiösen und profanen Lebens ab. Der destan, eine erzählende Versdichtung, die aus mehreren Dutzend Strophen zu je vier Versen besteht, schildert  militärische  und  politsche  Ereignisse von herausragender Bedeutung. Er erzählt oder erfindet die Heldentaten eines Aufrührers, Freiheitskämpfers oder Banditen, denn der aschik begegnet dem Mächtigen bis in die Gegenwart mit Misstrauen.

Am verbreitetsten ist das güzelleme, das nur wenige, äußerst lyrisch gehaltene Strophen umfasst. Es verherrlicht die Schönheit an sich, die  eines  jungen  Mädchens  oder  die Gottes. Nach der Vorstellung der Erzähler spiegelt sich die Schönheit Gottes im Gesicht des Menschen und umgekehrt. Der berühmte Dichter Nesimi wurde eines Tages gefragt: „Warum bist du so berauscht, wenn du in das Gesicht dieses jungen Mädchens blickst?“ „Im Spiegel ihres Gesichts erblicke ich das Antlitz Gottes“ gab er zur Antwort.

Sozialkritik in Form von beißenden Satiren übt der aschik im taschlama. Er will einen Miss- stand schonungslos anprangern, vermeidet es aber, den Gegenstand seines Spottes herabzu- würdigen. Ähnlich verfuhr der in der gesamten islamischen Welt und darüber hinaus bekannte Nasrettin Hodscha, der im 14. Jhd. in Akschehir lebte. Die der Orthodoxie suspekten Ansichten dieses Weisen, Lehrers und Schelms – obendrein war er auch noch Geistlicher –  rücken ihn in die Nähe der Bektaschije. Auch der jüngst verstorbene Satiriker und Erzähler Aziz Nesin, der Übersetzer der Satanischen Verse Salman Rushdies ins Türkische, steht in der Tradition dieser Gattung.

Trauer um einen Verstorbenen, speziell aber um die schiitischen Märtyrer Ali und Hüseyin drückt das agit aus. An traurigen Ereignissen hat es im Leben der anatolischen Bauern und Hirten nie gemangelt. Ob der Sohn zum Militär eingezogen wurde oder wieder einmal eine Hungersnot das Dorf heimsuchte, stets wusste der aschik dem Unglück seiner Zuhörer beredten Ausdruck zu verleihen.

Doch die Lust, über das eigene Unglück zu sinnieren, hat Grenzen. Wie viel tröstlicher ist es doch, sich durch den Rhythmus, den Reim und die Intonation des Erzählten hinreißen zu lassen, zumal der Islam diese Art von Magie (sihr halal) ausdrücklich erlaubt. So fügte der meddah, der türkische Erzähler, wörtlich  „Lobpreiser“,  nach und nach seinem Repertoire phantastische, komische und obszöne Geschichten hinzu, schuf wortgewandt eine Welt, in der die Gesetze der Realität nicht gelten. Selbst der osmanische Hof mochte sich dieser eigenartigen Erzählkunst nicht entziehen. Die meisten meddah waren wie ihre arabischen und persischen Kollegen in einer Zunft organisiert und gaben ihre Geschichten in Caféhäusern zum besten.

 

Der Erzähler hockt auf einem Stuhl und benutzt ein Taschentuch und einen Stock als Requisiten. Mit dem Tuch vermag er effektvoll seine Stimme zu dämpfen, wenn es seine an Dialogen reiche Geschichte verlangt. Die meddah von Istanbul waren bekannt für ihre Frauendarstellung, als ahnten sie noch, dass das Erzählen im Orient ursprünglich eine weibliche Angelegenheit war: Die Frau redet, der Mann hört zu. Beruht nicht auf diesem Prinzip auch der nie versiegende Erzählstrom von Tausendundeiner Nacht? Immer wird die Geschichte in seltsam stilisierter  Weise  vorgetragen.  Zunächst  kündigt der meddah an, dass sie eine Moral habe. Dann stellt er das Figurenensemble vor. Danach nennt er die eingeschobenen Gedichte, die den Handlungsfluss drosseln sollen, um die Erwartung zu steigern, und informiert über den Schauplatz des  Geschehens. Und wenn dann die Zuhörer die Spannung kaum noch ertragen, erzählt er schließlich die Geschichte. Eine Geschichte, die häufig mit dem tekerleme, dem „Rollen der Räder“ beginnt. Diese formelhafte Einleitung – im Grunde genommen ein sinnloses, widerspruchsvolles Wortgewirr – versetzt das Publikum in höchstes Entzücken: „bir varmisch bir jokmusch, evvel zaman itschinde, kalbur saman itschinde…“ es war einmal in alter Zeit, als man das Stroh noch siebte, als das Kamel noch Pferdehändler, die Maus Rasierer, der Kuckuck Schneider, der Esel noch Bedienter und die Schildkröte noch Bäcker war …

 

Eine Erzählung, ein Märchen kann von seinem logischen Aufbau noch so abstrus sein – der Zuhörer goutiert jeden Laut, nimmt jede Nuance eines Wortspiels, eines gelungenen Reims auf, wenn es der Interpret oder Autor nur versteht, daraus einen verbalen Teppich zu knüpfen. Die leichte geometrische Eleganz besänftigt, entzückt. Gerade die immer wiederkehrenden Muster verstärken die Gewissheit, etwas Gültigem beizuwohnen. Woran sonst könnte man sich halten? Jeder Tag bringt neues Leid. Auf die Willkür der Politik ist kein Verlass. Und der Mensch kann dem Schicksal ohnehin nicht entfliehen. Die Rettung vor Verrat und Tod besteht einzig im Erzählen. So wird die Stimme des Erzählers  zum  Cicerone durch  das  Labyrinth der Welt. Sie suggeriert eine in sich stimmige Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit. Mehr noch: Sie vollzieht den Akt der Schöpfung nach. Darin gleicht sie der Stimme Allahs. Gott spricht: Es sei! Und allein durch das Aussprechen dieses Wortes geschieht, was zu geschehen hat.

 

Am nächsten Tag saß ich wieder zu Füßen des alten Erzählers. Ich lauschte seiner an- und abschwellenden Stimme. Bismi’llahi’r-rahmani’r- rahim –   im Namen Gottes, des Barmherzigen und  Gnädigen.  Jeder  fromme  Muslim  beginnt sein Werk mit der Anrufung Gottes. Die Trommel erklang in zornigem Rhythmus, dem der Mann sich nicht zu entziehen vermochte. Er griff nach seinem Schwert, das an der Wand hing und ging hinab auf die Straße…

Als die Schlacht zu Ende war, hielt der Mann inne. Sein Körper war in Schweiß und Blut gebadet. Die anderen Männer lagen auf der asphaltierten Straße verstreut, Haufen von zerfetztem Fleisch. Nur er war am Leben. Überall herrschte Stille. Die Stadt war ein großer schwarzer Trümmerhaufen, von dem Rauch aufstieg.
 Der Mann vernahm leises Weinen. Sein Blick blieb auf einem jungen Mädchen haften, das
im Gras lag.
„Warum weinst du?“
„Die Stadt ist niedergebrannt. Alle sind tot.“ Er fragte sie ein zweites Mal:
„Warum weinst du?“
„Ich bin hungrig.“
Sie hatte ein sanftes Gesicht. Der Mann half dem Mädchen aufzustehen. Gemeinsam gingen sie mit langsamen Schritten auf die tote, schwarze Stadt zu.

Plötzlich hörten sie einen Sperling zwitschern. Sie blieben stehen, und ihre Augen begegneten sich in einem langen Blick…

 

Hier sank die Stimme zu einem Flüstern herab, als hätte sie sich erschöpft. Dann war es einige Sekunden lang still. Der Alte schlug mit dem Stock viermal kräftig auf den Boden. Dabei kniff  er  die Augen  zusammen  und  blinzelte  in den Raum hinein. Als suchte er hinter den Rauchschwaden den Mann und das Mädchen, die abgefackelte Stadt. Und den Vogel. Und überhaupt …Durch die dünnen Glasscheiben schrillte das Hupen mehrer Mopeds, die durch die enge Gasse jagten. Zwei Frauen schrien so lange aufeinander ein, bis die eine ihr Kopftuch löste, es der anderen vor die Füße warf und wütend davonstob. Von der nahen Umajjadenmoschee rief der Muezzin die Gläubigen zum Abendgebet. Ein fliegender Händler kam näher und pries laut seine Pistazien an, die er auf einem flachen Brett vor sich hertrug. Von überall her schlugen Geräusche auf mich ein, kamen Stimmen auf mich zu, die sich überlappten, miteinander verschmolzen, dann wie in einen Keller versickerten, um erneut aufzuflackern, jedesmal kräftiger als zuvor.

 

Manche Stimmen tragen einen Sinn, andere verschnüren sich zu einem diffusen Gespinst aus Lauten und scheinbar willkürlich aneinandergefügten Klängen. Die spöttischen Rufe der Kinder, das Murmeln von Gebeten oder das heisere Flüstern des Verliebten vor der Erfüllung: selbst in der Stimmenvielfalt des alltäglichen Lebens dominiert unterschwellig das sakrale Element. Jede Stimme versucht den Kontakt zu der Stimme des Einen zu knüpfen, will transzendieren. Nur durch dieses Bemühen hinterlässt sie Spuren wie auf einem frischgewaschenen Tuch.
 

Jede islamische Stadt hat ihre eigenen, unverwechselbaren Stimmen. Die Stimmen der syri- schen Stadt Aleppo klingen gereizt, steigern sich zuweilen zu einem schrillen Diskant. Erst gegen Abend fangen sie einen ironischen Unterton ein, um dann in der Nacht miteinander spielerisch Zwiesprache zu halten. Die von Sarajevo verharren zu jeder Tageszeit auf der gleichen Tonhöhe. Ihre Modulierfähigkeit ist so schwach ausgeprägt, dass nur der Eingeweihte weiß, ob sie fluchen, beten, um etwas feilschen oder sich in Obszönitäten ergehen. Und die Stimmen Istanbuls – ganz gleich, welcher Sprache sie sich bedienen – gurren wie Tauben, finden sich zu einem nie enden wollenden Tanz ohne Konturen. Sie sind weich wie ein Körper, dessen Knochen eine geübte Hand entfernt hat. Und bei aller Gier, mit der sie das Diesseits beschwören, gehören sie wohl zu den Stimmen, in denen sich das nur mystisch zu begreifende Wesen Gottes am nachhaltigsten bricht.