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Die Erotik der Dialektik
, ,Denn alle Lust will Ewigkeit Will tiefe,
tiefe Ewigkeit"
Nietzsche
Die Lust ist. Doch: wohin geht sie, wohin will sie? Was sie will, ist gerade nicht zu gehen: sie will bei sich bleiben, verweilen, ewig sein. Doch wenn sie diesen Ewigkeitsanspruch nicht erfüllt, ist sie es, die resigniert. So ist sie uns heute gegenwärtig: Ich habe keine Lust. In dem zynischen Gegenspruch, es dann ohne Lust zu tun, steckt ein Fünkchen Wahrheit, wie in jedem Zynismus. Denn sie ist sozusagen ein infantiler Idealist, der, wenn er nicht frei schwebende Absolutions- ansprüche stellen und einlösen darf, resigniert und sich vom Realitätsprinzip bevormunden lässt. Ontogenetisch ist dies eine häufige psychologischpädagogische Dynamik, ob man sie nun Trauma oder Erwachsenwerden nennen will.
Wenn man diese Antinomie aber phylogenetisch zu verstehen versucht, dann eignet sich eher die Wissenschaft der Antinomie, die Philosophie. In Anlehnung an Heidegger ließe sich formulieren, dass die Frage nach der Lust in Vergessenheit geriet 1. Dabei missverstehe man diesen Rekurs auf die Antike aber nicht als Suche nach einer Ursprünglichkeit ,,der Lust. Abgesehen davon, dass diese historisch eher in Sparta einzuordnen wäre 2, kann hier von der gleichen Lust wie der gegenwärtigen nicht die Rede sein. Vielmehr ist zu zeigen, wie neben und mit der Disziplinierung des Denkens 3 ein Prozess stattfand, der sich auf die Formel Dialektik als Erotik* bringen ließe.
Ein Essay ist hierzu geeignet, da er ,,revoltiert zumal gegen die seit Platon eingewurzelte Doktrin, das Wechselnde, Ephemere sei der Philosophie unwürdig;…“ 5 Dialektik, als das Wechselnde, kann so alternatives Licht auf (die) Platon(ische) (Akadamie) werfen.
Alternativgeschichtliche Ausgrabungen einer ver- deckten, weniger verdrängten Seite der Philosophie werden aber nicht nötig sein. Denn vielerorts drückt diese Lust sich aus. Ihr ist, wie
sich
zeigen wird, die stoische Askese entgegengesetzt, aber nicht starr, sondern in einem fruchtbaren dialektischen Verhältnis. Einzig die Epikureische Lustgewinnung, die bei Bentram zum Kalkül wird, kann in diesen Kreislauf nicht einsteigen. Sie will die Lust verwalten, aber nicht ein Verhältnis mit ihr anfangen.
Polemisch ausgedrückt, war Sokrates ein pädiastrischer Dialektiker. Milder gesagt: Für die Knaben hegte er eine platonische Liebe. Dies führt uns weiter. Denn dadurch haben wir ein weiteres Motiv seiner Philosophie. Dieses deckt sich gut mit anderen Alternativerklärungen des Phänomens Sokrates: sein schlechtes Verhältnis zur sprichwörtlich gewordenen Xanthippe oder klimatische und stadtarchitektonische Bedingun- gen seiner Umgebung. Zudem offenbart sich viel- mehr die Triebfeder der Philosophie schlechthin: Die Geburt des Gedankens aus dem Geist des Gespräches. Dergestalt wurde Sokrates die Hebamme im Denken: Mäeutik in der Hebam- menfachsprache. Doch was ist damit vorerst gewonnen, und was ist mit Sokrates Söhnen? Gewonnen ist damit ein Verständnis der Lust. Diese – als geistliche – geschieht im Gespräch und kann der Sinneslust gleichwertig sein.
Nun verschärft sich aber die Situation mit Platon. Dieser war wahrscheinlich kinderlos und unverheiratet – ein Privatleben, dem bis heute über- durchschnittlich viel Philosophen bewusst oder
unbewusst folgen. In der Theorie wird die Lust an der Idee vorrangig gegenüber der (an der) Dialektik. Über das Christentum lässt sich durch Rückbeziehung eine Verbindung zur Stoa ziehen. Die Lust
ist in allen drei Konzeptionen unwichtig, ja in Variation sogar schlecht, böse, niedrig. Doch sogar die heiligen Emeriten haben in der Wüste noch ihre Kämpfe mit dem scheinbar Ausgemerzten. Weniger
möchte ich hierbei auf ähnliche Kämpfe in der Gegenwart eingehen, die
skandalös die Verbindung zur platonischen Pädiastrie bestätigen 6. Eher – und das könnte unangenehmer einzugestehen sein – liegt im entsagenden
Emerit potentiell der Typus des mdernen Asketen. Dieser übt seinen Asketismus auf fast schon scholastische Weise für mehr Lust aus. In dieser Art kalkulieren hypochondrische Hedonisten in
Nahrungsmitteltabellen und Fitnessplänen für ihre healthy Sex life.
Sokrates hilft also Gedanken zu gebären. Ist diese Geburt aber angenehm, leicht? Sie wirkt fast so in den Dialogen. Einfacher als eine übli- che Geburt scheint sie. Doch weder sollte man die Totgeburten, noch die Ermordung der Kinder (Sokrates desillusionierende Überführung eines Gedankenganges durch Widersprüchlichkeit) noch den Stillstand der Entwicklung des Kindes (die vielen Aporien) übersehen. Und wurde Dia- lektik bei Hegel und Adorno nicht zu einer schwie- rigen und traurigen Sache?
Im Anfang war sie aber vor allem eins: erstaunend. Die eindringenden Fragen eines Sokrates bezeugen Neugier. Sie lassen die Meinung des Gegenüber noch im Gespräch eine Andere werden. Dies erzeugt dann wiederum Neugier beim Leser der Dialoge.
Dieses Lustprinzip des Geistes erhellt, wie ein Gespräch zwischen zwei Männern eine Sache der Erotik sein kann. Ebenso: Mit welcher Lust ein Thomas Bernhard sagen konnte, dass für ihn überall, alles Erotik wäre. 7 Schließlich, wenn man mir nun gestattet, Lust als Synonym für Glück zu setzen, führt es uns mitten in die Weltliteratur: die elegische Glücksgestalt im Werke Prousts, dessen Ausarbeitung ihn selbst glücklich machte, setzt beim Leser eine Sen- sibilität voraus. Sie belohnt ihn mit einer gesteigerten Fähigkeit zur Neugier, so als betreffe diese Kindheit einen unmittelbar, so als träume man es unmittelbar.
In diesem Kontext möchte ich auch wieder auf den Aspekt der Askese zurückkommen. Denn anschei- nend ist diese, die bei Proust da war, unvereinbar mit seinem Glück, gar seinem Rausch. Gerade Proust
zeigt aber, wie Lust und Rausch nicht einfach ausgelebt werden können, sondern vielfach vermittelt erst in der Kunst wieder auftauchen. Von Außen wirkt ein Leben, das es so versucht, wie ein
einfacher asketischer Akt, ein Rückzug.
Doch nur, um umso mehr in den zu bearbeitenden Stoff einzudringen, in diesem Fall die Erinnerung. Diese ist selbst ihrem Wesen nach noch einmal ein Schritt nach Innen, doch ihr äußeres Korrelat
ist das Altern. Erinnerung und Altern als wichtige Pole dieser Ausgangspunkt und Prousts gekonnter Umgang mit Krankheit und Tod, diese Vorahnungen der Ewigkeit, verweisen auf eine nachplatonische
Ewigkeitsvorstellung. Diese neue Ewigkeit erkannte Benjamin an Proust9 und er zog unbewusst die richtigen Konsequenzen, wenn er am Ende seines Essays das Bild einer Renaissance aufwirft. Mit dem
Platonismus lässt man das Christentum hinter sich. Dessen Ewigkeit kann der Autor des Antichrists im Eingangszitat nicht gemeint haben. Eher die einer Dialektik im Einstand, die näher an Hegels
„Arbeit am Begriff“ als an Platons Ideenhimmel ist. Als alltägliche Allegorie diene das Kinderzeugen, welches an sich schnell und einfach gemacht ist, mit dem Kind aber eine Ewigkeit eröffnet. Das
Kind bekommt das Enkelkind usw. ad infinitum … Shakespeare hat das in den Sonetten besser beschrieben, als ich es je könnte. Es handelt sich um eine gefühlte Ewigkeit. Denn was interessiert uns dann
noch, dass es in 10 33 Jahren eine Supernova geben wird?
Ein solches Auffahren mit astronomischen Perspektiven ist aber Teil der alten Ewigkeitsvorstellung. Der, der da hoch in die Gestirne sieht und seufzt: Ach, ist der Mensch doch klein! -der kann kein richtiger Künstler sein. Die neue Ewigkeit, wenn man sie so beschreiben wollte, wäre eher die der Halbwertszeit eines Atoms.
Besser auffindbar- und mit der Lust verbunden, ist sie in Kunst und Alltag. Was also in diesen Bereichen verfällt, davon bleibt auch die Lust nicht unbetroffen. Sie wehrt sich mitunter. So in
Nietzsche, diesem Deklarateur der Ewigkeit im Augenblick, der nicht zufällig auch Analytiker des allzumenschlichen Alltags war. Man überhöhere nicht den melancholischen Unterton dieser
Lustverteidigung in Zeiten der Hast und Unlust. Außerdem den Wechsel von Sarkasmus und Zärtlichkeit, der auch Proust nicht fremd war 1O:
,,Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: – endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen
Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke – einem boshaften Geschmacke vielleicht? – nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art
Mensch, die > Eile hat <, zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie ist näm- lich jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins erheischt, beiseite gehen, langsam gehn, sich
Zeit lassen, still werden, langsam werden- als eine Goldschmiedekunst und Kennerschaft des Wortes, die laute feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento
erreicht. Gerade damit ist sie aber heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mit- ten in einem Zeitalter der > Arbeit <, will sagen: der Hast, der
unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich > fertig werden < will, auch mit jedem alten und neuen Buche: -sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt
gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelasse- nen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen…“ 11
Aus drei Gründen zitiere ich diese Stelle. Erstens halte ich sie für eine der schönsten in Nietzsches CEuvre. Zweitens lehrt sie uns wieder lesen- und ebenso gilt es wieder sprechen zu lernen. Drittens verweist das Zitat damit auf eine Unlust in unserer hedonistischen Gesellschaft mit unfreiwillig apathischen Zügen: die an der Sprache und dem Gespräch. Wir müssen wieder lernen, in dieses hineinzuhorchen, zu schweigen und länger sich ihm zu stellen. Das glatte Gespräch ist das grausame. Das angebrochene, in dem man nicht weiß ob der Gegenüber seine Rede noch weiterführt, in der man aber dieses vor- läufige Schweigen noch vernimmt, ist das beste.
Im Kontext der Lust haben Philosophen und jeder denkende Mensch zu zeigen, dass sie nicht nur fähig sind, in der Frau ein Skelett zu sehen*, sondern auch mehr Lust an der Sprache als an der Frau zu erfahren. Karl Kars sagte einmal, dass es keine Wollust gäbe, die an das Hoch- gefühl geistiger Zeugung heranreicht. Dies ist na- türlich überspitzt formuliert, zumal die Wahrheit ja auch ein Weib ist. Wir sollten die weibliche Antithese nicht außen vor lassen. Deswegen will ich noch kurz auf eine Verhaltensweise zu sprechen kommen, die als feminin gilt und des Gespräches Lust ist: die Koketterie. Da ich einen großen revolutionären Romancier des 20. Jahr- hunderts aufbot, und zumal meines Erachtens der kokette Denker in Deutschland fehlt, möchte ich einen deutschen Romancier nicht vergessen: Thomas Mann.
Feinfühlig entdeckte Adorno die Koketterie im Umgang mit und im Werk von ihm12. Angedeutet sind damit immerhin moderne psychologische Interpretationen, die diese feminine Eigenschaft mit altbekannten pädiastrischen Motiven verbinden. Ob nun aber diese allein die Figur des Tadzio oder die geheimnisvolle Bleistiftszene im Zauberberg schufen, bleibt fraglich. Sicherlich aber zieht sich diese Lustform im Dialog durch sein - Werk - etwas, woran wir lernen können. Zwar nehmen die Ausschweifungen eines Settembrinis und Naphtas mitunter monologische Züge an - die Reflexion, das Gedankliche nimmt bei Mann einen außerordentlichen Platz ein - doch ist die Koketterie bei diesem Männerpaar gegeben. Von anderen Beispielen, wie dem Tristan, der - kokett, wie er ist - sich nur über Brief traut dem Mann seiner Angebeteten die Meinung zu sagen, ganz zu schweigen. Doch wäre er feige, hätte er den Brief gar nicht erst geschrieben.
Die Koketterie ist aber kein Rückzug, keine Feigheit. Man hat sie mit der Ironie als die Mannsche Sozialkritik zu sehen. Sie hat Nähe zu, ist aber keine Schmeichlerei, gar Arschkriecherei. Denn sie hat ein umstürzlerisches Moment. Sie ist wie eine femme fatale, die man berauschend findet, die aber nicht beständig ist. Sie ist eine reizende Provokation. So hält die Koketterie das Gespräch in der Schwebe- und nicht nur dieses. Es liegt hier eine Entschärfung des Triebes vor, den man nicht mehr unterdrückt, sondern lässt, aber nicht im Sinne eines Gehen-Lassens, sondern Anheimgebens. Dieses Sich-Überlassen-An ist weder gewaltsam noch verbissen. So wird einer Dialektik, wie der von Adorno der nicht aus sich herauskommende Positivismus, der im Bestehenden bleibt und nicht Neues gebärt, selbstreferentielle Masturbation. Im Kontext der Kritischen Theorie sei ebenso auf H.Marcuse gewiesen, der als Dialektiker und Freud-Kenner dem hier Erörterten tiefer nachging*.
Aus den gegenwärtigen mannigfaltigen Lüsten zu wählen ist schwierig. Gerade Marcuse wies auf die Banalisierung der Lusttheorien (Freuds) hin. Banalisierend – selbst unter der Schirmherrschaft einer abgeschlossenen Geschichte - wäre auch ein Rückgang zur alten Lust in der idealen Welt oder einer Lustbeherrschung im Gottesstaat. Man ist nicht am Zahn der Zeit, wenn man wie im Film ,,Fasten auf Italienisch" als These den Gigolo, als Antithese den Ramadan setzt - mit einer goldigen Hochzeit als Synthese. Lust führt Philosophie dennoch weg von sich selbst, besonders hin zur Psychologie, wie Marcuse zeigt. Wie die Philosophen darauf reagieren, lässt sich an illustren Gestalten nicht festmachen, aber vernehmen. Diese versuchen die Lebensphilosophie, die selbst schon eine gebro- chenen Theorie der Lust ist, weiterzuführen. Kein Wunder, das bei einem Slavoj Zizek Philosophie so zu einer Humoreske wird oder bei einem Peter Sloterdijk zur Polemik. Letzterer führt das Philosophische Quartett unter dem Wunsch, den ,,Libido des Geistes" wiederzubeleben, was mir als vorläufig-ewige These zur Lust genügt. In diesem Sinne hoffe ich, der Essay hat Ihnen Lust bereitet.
1 Inwieweit das nicht nur allegorisch gemeint ist, zeigt: Heidegger, Sein und Zeit S.139f.
2 Friedrich Kittler und Frank M. Raddatz, Dionysos Revisited, Lettre International 89 S.ll, bes. „Das verkannte Sparta".
3 Im Sinne von Jan Assmann, s. siebtes Kapitel von „Das kulturelle Gedächtnis".
4 Die vice versa im Werk von H. Marcuse zu finden ist. Zu diesem spä- ter mehr.
5 Adorno, Der Essay als Form S.17.
6 Colm Toibin, Der Papst trägt Prada, Lettre International 90 S.32f.
7 Peter Fabjan/ Marek Kedzierski, Jeder Tag war inzeniert, Lettre International 92 S.88.
8 Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts S.836f (Essay-Kanon-Ausgabe von M.R.Raniki Band 3)
9 vgl. Anfang vom dritten Kapitel in „Zum Bilde Prousts".
l0 Benjamin, Zum Bilde Prousts, S.846. -in übrigen zwei Pole an denen sich die begabte Lust aufspannt.
11Nietzsche, 5.Kapitel aus dem Vorwort zur Morgenröthe. * Lesen ist ein Gespräch. Diesen Gedanken verdanke ich Erich Fromm, mit dem ich häufig Gespräche führe. *nach dem Bonmot von
Tucholsky.
*Immerhin ist er -neben Freud- die z,B im Brockhaus einzig genannte Autorität zum Thema.
12 Adorno, Zu einem Porträt Thomas Manns, S.342 (Suhrkamp- Ausgabe: Noten zu Literatur)
JEAN-PHILIPPE SERAPHIN
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