Islam: Die Angst vor der verborgenen Frau
Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat. (Sure4,34)
Vor einer steil abfallenden Schlucht brachte Dschamal die uralte Honda abrupt zum Stehen. Keinen Meter würde er mehr weiterfahren. Um keinen Preis der Welt. Denn da drüben - er deutete auf einige braune Hügel, die sich kaum wahrnehmbar aus der kahlen Ebene hoben - würden weibliche Dschinns ihr Unwesen treiben. Seit dem Beginn der Zeiten machen diese Geister der Wüste Jagd auf die Gläubigen. Brüste prall wie Ziegeneuter schleifen sie über den Boden und wirbeln den Sand auf. Wehe dem Mann, der blind vor Staub ihrer unersättlichen Gier zum Opfer fällt.
Dschamal hatte die Augen verdreht, hielt die Handflächen hoch über den Kopf gestreckt und schwieg. Dann stieg er auf sein Motorrad und raste ohne ein Wort des Abschieds davon.
Zwei Stunden hatte mich der junge Syrer aus Al Mayadin durch die menschenleere Wüstensteppe gefahren. Im fahlen Dunst des Dezembertages konnte ich das graue Band des Euphrat erkennen. Gegenüber hing eine bronzenfarbene Sonne über der geriffelten Weite aus Sand, Steinen und Fels. Die Piste mit ihren Schlaglöchern und plötzlich auftauchende Gesteinsbrocken, denen Dschamal erst im letzten Moment auswich, ließen mich um mein Leben fürchten.
Dann war ich allein. Ich ging zögernd zu den unscheinbaren Hügeln von Tell Hariri, unter denen sich die Ruinen von Mari verbergen. Vor 5000 Jahren hatten die Sumerer die Stadt am mittleren Euphrat gegründet und mit ihren vorwiegend weiblichen Gottheiten „beseelt“. Der Mensch begann sich in dieser Flusslandschaft zu entdecken, in einer Atmosphäre, die seit jeher mit religiöser Spannung geladen ist. Und bis heute ist dieser Raum der metaphysische Ort der Fruchtbarkeitsgöttin, dem der Islam nur seinen Schleier hat überstülpen können. Die zahlreichen Rundskulpturen, die man in Mari gefunden hat, meiden jede harte Konturierung. Alle Körperlichkeit strebt nach weichen Rundungen weit über jeden Naturalismus hinaus. Wenn der Mann bisweilen der Frau in einer Art Dopplung beigesellt ist, so hat der Künstler beide unbeteiligt nebeneinandergesetzt. Vielleicht wollte er den Vorrang des Weiblichen durch eine zu starke Intimität mit dem anderen Geschlecht nicht beeinträchtigen.
Auf meinem dreistündigen Rundgang durch ein Labyrinth aus Mauern, Ziegelresten und rätselhaften Rondells traf ich kein lebendiges Wesen außer ein Dutzend magerer Ziegen, die ein Beduine hastig, fast ängstlich über die Dächer des Königspalastes von Zimrilim trieb. Am Eingang des Grabungsfeldes stieß ich auf eine verlassene Hütte. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich zwei Frauen auf. Seit Urzeiten verschüttete Göttinnen, die sich vom Schutt befreit hatten? Oder lüsterne Dschinns auf der Jagd? Sie winkten mich zu sich heran. Mutter und Tochter hockten jetzt vor einer meterhohen Blechtonne, in der ein dicker mit Kerosin getränkter Baumstamm brannte. Sie platzierten mich zwischen sich und rückten so nah an mich heran, als müssten sie mich vor dem kalten Wüstenwind schützen. Ihre Strickkleider, rot, gelb und blau durchwirkt, konnten die Üppigkeit ihrer Brüste kaum verhehlen. Zwölf Kinder hatte die ältere Frau - so erzählte sie - zur Welt gebracht. Ihre gerade einmal 20jährige Tochter habe drei Söhnen das Leben geschenkt. Einer ihrer Enkel brachte uns Pfefferminztee, grinste mich an und verschwand hinter einer Zeltbahn. „Und du? Wie viele Söhne hast du?“ fragte mich die Mutter. Als ich verlegen schwieg, schauten mich beide durchdringend an und fuhren mit ihren groben Händen zwischen meine Beine. „Nein, so was. Das wird schon. Damit wirst du deine Frau ganz gewiss glücklich machen, inschallah.“ Dabei lachte die Jüngere so laut, dass sie den Tee über ihren Schoß vergoss.
Natürlich hatten die beiden Frauen Recht. Denn schon der Koran weiß, dass ein gottgefälliges Leben sich in der Ehe vollendet. Sie ist der Quell aller Tugenden. Wer heiratet, hat schon das halbe Paradies gewonnen. Die andere Hälfte erwirbt er sich dann durch ständiges Gebet. Und wenn der Ehemann - so heißt es - die Hand seiner Frau ergreift und sie die seine, dann versickern die Sünden durch die Zwischenräume ihrer Finger. Verheiratet zu sein und keine Kinder haben zu wollen, heißt das Leben missachten und seinen Sinn verfehlen. Um diese Aufgabe nach besten Kräften zu erfüllen dient die Sexualität gleichsam als Nahrung. Obendrein sind Mann und Frau geradezu verpflichtet, sich gegenseitig Lust zu bereiten. Denn eine unbefriedigte Frau ist gefährlicher als der Satan selbst. Die islamische Vision von Sexualität ist auf die lustvolle Erfüllung des Lebens gerichtet. Ohne die Lüste - so schrieb der 1332 in Tunis geborene Historiker Ibn Chaldun - wäre der Mensch unvollkommen. Die ganze islamischen Geschichte hindurch erweist sich die Sexualität als das dialektische Gegenstück zum Sakralen. Sie auszuleben heißt den göttliche Willen zu erfüllen. Der Prophet selbst redet frei und ohne Scham über die sexuellen Praktiken zwischen Mann und Frau. Mit Ausnahme des Analverkehrs seien beim Geschlechtsakt alle „Stellungen“ erlaubt. Der Vers 223 der zweiten Sure lautet: Eure Frauen sind euch ein Acker. Gehet zu eurem Acker, wo immer ihr wollt...
Der in Aschaffenburg und Istanbul lebende Jurist und Autor Murad Hofmann betont die einzigartige Bedeutung der Muslimin. Für den ehemaligen deutschen Diplomaten, der 1980 zum Islam konvertiert ist, wurzelt das Glück von Mann und Frau als Partner in ihrer Polarität. Der Islam sehe in der Berufung der Frau zur Mutterschaft ihre vornehmste Aufgabe und die Grundlage ihrer Würde und Selbstentfaltung. Mann und Frau besäßen den gleichen Wert, hätten aber unterschiedliche Aufgaben und Fähigkeiten. Vor Gott seien sie gleich, spielten aber im Leben unterschiedliche Rollen.
Nach der muslimischen Überlieferung soll Muhammad mit all seinen Frauen sanft und verständnisvoll umgegangen sein. Ein Hadith - so nennt man die Sammlung von Sprüchen, die man dem Propheten zuschreibt - sagt: Der Schlüssel zum Paradies liegt zu Füßen der Mütter. Der Koran verleiht der Mutter denn auch einen Glorienschein der Heiligkeit.
Vielleicht messen die Araber der Frau tatsächlich eine Bedeutung zu wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ursprünglich lebten sie vorwiegend in der Wüste. In einem Land, das nicht mehr empfängt und nicht schenkt, nicht nährt, durch nichts mehr genährt, ausgeschieden aus dem Kreislauf des Lebens. Erde ohne Verwandlung, die nichts begreift, Erde, die schicksallos ist, ohne Freuden und Leiden. Es ist das Antlitz des Todes, und nicht einmal das. So ist nicht der Tod, der kommt und schrecklich ist oder sanft. So ist nur Gestorbensein, weit weg vom Menschlichen. Es ist das ausgemacht Öde, das Ausgelöschte, Getilgte. Die Konturen des weiblichen Körpers sind die einzige weiche Linie, die sich in der Wüste abzeichnet. Hier ersetzen die Frauen den Garten, die Blumen, die wohlriechenden Früchte und das Murmeln der Bäche. Die Frau in der Wüste - das ist all die Schönheit und all der Glanz des Universums in einem einzigen Körper verdichtet.
In der Tat nahm die Frau bei den arabischen Stämmen vor dem Islam neben dem Dichter eine herausragende Stellung ein. In dieser Zeit der dschahilija (Unwissenheit) wurden die drei weiblichen Gottheiten al-Lat, al-Ouzza und Manat verehrt. Das heute weitgehend „verschleierte“ Arabien kannte damals Frauen, die ihre außergewöhnlicher Schönheit offen zur Schau trugen. Die sich intelligent, listenreich, rachsüchtig, zynisch und grausam ins öffentliche Leben einmischten. Der Sturz der Göttinnen im Namen des einen patriarchalen Gottes, der Sieg des Islam, veränderte das Schicksal der Frauen von Grund auf und für alle Zeiten. Der Triumph des einen, des männlichen Gottes schrieb die Überlegenheit des Mannes ein für allemal fest. Von nun an wurde die unbefangene, nicht zielgerichtete Sexualität geächtet. Vorbei waren die Zeiten, dass eine Dirne Zulma nicht nur unbehelligt ihrem Metier nachgehen konnte, sondern auch eine gewisse Reputation in der damaligen Gesellschaft erlangte. Als die Dame schließlich ins Rentenalter kam, soll sie sich eine Ziege und einen Bock zugelegt haben, um sich an deren Paarungsakt zu ergötzen. „Ich liebe es, dem Atem des Koitus zu lauschen.“
Die Zähmung der Frau
In dem Maße wie sich der Islam schon während der ersten Staatsgründung in Medina von einer ursprünglichen Heilsbotschaft zu einer wohl organisierten und überwachten Institution wandelte, wurde jeder Lebensbereich bis ins letzte Detail reglementiert. Es galt, das Chaos und jede Art von Unordnung, die letztlich eine Revolte gegen Gott ist, im Keim zu ersticken. Toleranz gegenüber Andersdenkenden und damit einhergehend die Gleichstellung der Frau konnte sich in einem gewissen Maße nur während der Blütezeit des Islam herausbilden. Doch seit der Zerstörung Bagdads 1258 durch die Mongolen durchlebte die islamisch-arabische Welt eine bis in die Gegenwart anhaltende Krise des Glaubens. Wie konnte Gott es zulassen, seine so fest auf ihn eingeschworene Gemeinschaft derartig zu demütigen! Schuld daran sei unter anderem die Frau, die nichts anderes im Sinn habe als den Mann seiner Religion zu entfremden. Der aus Tus im nordöstlichen Iran stammende Al-Ghazali - den christlichen Scholastikern unter dem Namen Algazel bekannt - wirft den Frauen generell einen unheilvollen Einfluss auf die Geschichte der Menschheit vor. Mehr noch: Unter dem Eindruck der verheerenden Mongoleninvasion verfasste der Theologe und Rechtsphilosoph Ibn Taimijja in Damaskus seine extrem restriktiven und frauenfeindlichen Traktate, von denen noch heute islamische Fundamentalisten jeder Couleur zehren. Er schuf den Mythos vom Schleier, der allein die „Reinheit“ der Frau verbürge. Wenn sie das Haus verlässt oder einem Fremden gegenübertritt, muss sie völlig verhüllt sein. Nichts darf zu sehen sein, weder das Haar, noch die Augen, noch das Gesicht. Nur beim Gebet darf sie dieses für einen kurzen Moment entblößen. Dafür hat sie aber die Füße zu bedecken. Als der wackere Gottesmann 1328 starb, folgten 15 000 Frauen seinem Sarg. In naiver Verkennung seiner Lehre pilgerten sie viele Jahre zu seinem Grab, von dem sie sich Wunder wirkende Heilkräfte erhofften.
Die größte Gefahr droht der umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, von der ungebändigten Natur. Das Weibliche in seiner „Fruchtbarkeit“ vermittelt die ursprünglichen Kräfte eben dieser Natur. Und zumal aus dem Blickwinkel des Mannes manifestiert sie sich in einer ausschweifenden Sinnlichkeit, in der Verlockung, in der Verführungskunst der Frau. Sie als anti-göttliche und anti-kulturelle Naturgewalt zu dämonisieren heißt sie konsequent aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Die ihr zugewiesene Domäne des Hauses - man nennt sie auch Herrin des Zeltes - dokumentiert ihre „Abwesenheit“. Und auf der Straße bewegt sich das vermummte Wesen wie ein Fremdkörper.
Der Islam ist ängstlich darauf bedacht, die Abgrenzung der Geschlechter bis ins Detail zu regeln. Alles, was den Mann erregen kann, unterliegt der strikten Kontrolle. Selbst eine alte Frau sollte es vermeiden, die Hand eines jungen Mannes zu drücken. Sie könnte in ihm eine Verwirrung der Gefühle auslösen, die Lust auf etwas Unsagbares stimulieren und ihn so um sein Seelenheil bringen. Auf jeden Fall sollte er sich davor hüten, mit einer Frau allein in einem Zimmer zu sein. Denn wenn Mann und Frau allein sind, ist immer der Teufel anwesend. Ein anderer Ausspruch des Propheten besagt: Wenn ein Weib kommt, so ist es, als ob ein Teufel käme. Folgerichtig habe Muhammad auf seiner "nächtlichen Reise“ gesehen, dass die Hölle hauptsächlich von Frauen jeden Alters bevölkert sei. Auch 'Umar ibn al-Hattab, ein enger Weggefährte des Propheten und der zweite Kalif des arabisch-islamischen Weltreiches, dessen Fundamente er legte, zählt zu den „Kritikern“ des weiblichen Geschlechts: Tut das Gegenteil von dem, was die Frauen wollen. Denn darin liegt Segen.
An sich ist die Frau ein Übel. Das Schlimmste aber ist, dass sie ein notwendiges Übel ist. Und da nun einmal die Sexualität für den Bestand der Gemeinschaft unverzichtbar ist, wird sie auf Orgasmus und Fortpflanzung in der Ehe reduziert. Rituell gilt der Geschlechtsakt als „unrein“. Deshalb dürfen die Eheleute dabei aus Ehrfucht vor der qibla, der Gebetsrichtung, den Kopf nicht in Richtung Mekka drehen. Ein solches Ansinnen lässt einen ekstatischen Sinnestaumel bei dieser Verrichtung erst gar nicht aufkommen, zumal der Mann sich beim Koitus die Gegenwart Gottes eindringlich ins Gedächtnis rufen soll. Denn in der schon zitierten Sure über die Frau als der zu bestellende „Acker“ heißt es weiter: aber bereitet auch etwas für eure Seelen und fürchtet Allah und wisset, dass ihr ihm begegnen werdet.
Der Teufel ist in den Gedanken des gläubigen Muslims allgegenwärtig: er setzt sich nicht nur auf die Brüste der Frauen, um sie noch begehrlicher zu machen, er raunt den Jungfrauen nicht nur lüsterne Worte ins Ohr, er zwängt sich sogar zwischen Mann und Frau im Ehebett! All diese Restriktionen, die zwischen den Geschlechtern herrschen und ihren Schatten selbst auf die Ehe werfen, lassen den spontanen Austausch von Zärtlichkeiten kaum zu.
Nur die Gedanken sind auch im Orient frei, zumal die von der Lust gesteuerten, die nach dem kleinsten Hinweis auf das Weibliche suchenden Blicke der Männer, ihre nie enden wollenden Tagträume und die Sehnsucht, die ihren Ausdruck in der Melancholie der arabischen Lieder und Poesie findet.
Sexualität als Mittel der Gotteserkenntnis
Von Beginn an verhält sich der Islam gegenüber dem Weiblichen ambivalent. Als sich die androgyne Realität, in der der Mensch ursprünglich existiert hat, in der Schaffung von Mann und Frau differenziert, erfahren die beiden Geschlechter ihre komplimentäre und zugleich rivalisierende Bestimmung. Die Unterschiede zwischen ihnen sind nicht nur biologischer, sondern auch psychischer und spiritueller Natur und spiegeln letztlich das göttliche Wesen selbst wider. Während der Mann Anteil an der Absolutheit Gottes, seiner Größe und Kraft hat, manifestiert sich in der Frau dessen Unendlichkeit und Schönheit. Und die Sexualität, die jedem zugängliche Sinnlichkeit, ist der einzige Weg, auf dem der gewöhnliche Mensch - wenn auch nur für einen kurzen Augenblick - das „Unendliche“ erfassen kann. Somit erfüllt sich die menschliche Existenz zwischen Vereinigung und Polarisierung der Geschlechter. Ihre unterschiedliche soziale Stellung und Kleidungsweise innerhalb des islamischen Lebens tragen dazu bei, die beiden menschlichen „Typen“ deutlich voneinander zu trennen. Wenn Sexualität im Gegensatz zum Christentum ein Mittel zur Vervollkommnung des Menschen ist, ein Symbol für die Vereinigung mit dem Göttlichen, so führt jede „Vermischung“ der Geschlechter unweigerlich in die Irre. Mehrere Hadithe des Propheten kündigen den Untergang und das Ende der Welt an, wenn Männer sich kleiden und verhalten wie Frauen und umgekehrt. Sexuelle Reinheit, strikte Trennung der Geschlechter in vielen Bereichen des täglichen Lebens, Verhüllung der weiblichen Reize vor Fremden und eine klare Aufteilung der sozialen und familiären Aufgaben sind letztlich auf metaphysische Prinzipien zurückzuführen, in denen das theomorphe, das gottähnliche Wesen des Menschen ruht.
Einerseits ist die Frau eine stete Quelle der Begierde, die den Mann vom rechten Weg wegführt, von spiritueller Innerlichkeit ablenkt und ihn in die Äußerlichkeit hinein zerstreut. Dann aber symbolisiert und enthüllt gerade sie das Geheimnis des barmherzigen Gottes, den der Koran unzählige Mal beschwört. Mit einer Ausnahme beginnt jede Sure mit der sogenannten Basmala: Im Namen Gottes, des Erbarmers (ar-rahman), des Barmherzigen (ar-rahim). Ein berühmtes Hadith besagt: Von allen Dingen dieser Welt liebte der Prophet Muhammad über alles die Frauen, das Parfüm und das Gebet. Noch vor der Geruchsfähigkeit, der subtilsten sinnlichen Erfahrung, und dem sakralen Gebrauch des Wortes - beides nimmt im Leben des Muslim einen besonderen Rang ein - steht die Frau. Diese ihr zugemessene einzigartige Stellung macht sie allerdings in höchstem Maße verwundbar. Es gilt sie vor den Anfechtungen und den Gefahren des täglichen Lebens zu schützen. Wie einen kostbaren Smaragd muss man sie vor den Augen Unbefugter verborgen halten.
Gibt es eine „Theologie des Tuches“?
Kaum ein Kleidungsstück wird dermaßen mit einer vom Islam geprägten Lebensweise in Verbindung gebracht wie der Schleier. Dabei schützen Kopftuch und Schleier, was immer man sonst noch darüber sagen kann, zunächst einmal den Kopf vor den Unbilden der Witterung. Der Vordere Orient erfordert einen solchen Schutz in extremen Maße. Groß ist in diesem Kulturraum die Anzahl der verschiedenen Formen der Kopf- und Gesichtsverhüllungen und vielleicht noch größer die Zahl der mitgegebenen Deutungen. Kopftuch und Schleier sind beileibe keine islamische Erfindung, gingen doch schon im Alten Orient die verheirateten Frauen „mit bedecktem Haupt“ auf die Straße. Wenn sie das Haus ohne Haube verließen, konnten sie verstoßen werden. Nach einem assyrischen Rechtsbuch müssen Ehefrauen und Witwen auf freien Plätzen ihren Kopf verschleiern, die Sklavin und Dirne sollen dagegen ihr Haar jedermann offen zeigen. Im alten Israel dagegen sind gerade sie gehalten sich zu verhüllen. In manchen Mythen deutet Verschleierung auf Unterwelt und Tod hin, die Enthüllung auf Licht und Leben - in anderen Mythen verhält es sich genau umgekehrt. Während sich Form und Anordnung des Tuches über einen sehr langen Zeitraum unverändert halten, kann seine Bedeutung jederzeit wechseln.
Unabhängig vom Geschlecht und einer profanen oder religiösen Assoziation ist der Orient nicht nur metaphorisch schon immer auf mannigfaltige Art „verschleiert“ . Die Araber tragen den je nach Stammeszugehörigkeit rot-, schwarz- oder weißgemusterten kafije hauptsächlich aus Identitätsgründen und zum Schutz gegen Sonne und Staub. Die qina, der Kopfumhang der Beduinen, lässt das Gesicht frei und dient den arabischen Dichtern als Instrument der Koketterie. Ursprünglich ein Vorhang zur Trennung von Frauen- und Männergemächern, kann der hidschab auch ein Kopfschleier sein. Den dschilbab legt man überwurfartig wie ein Hemd oder einen Mantel um den ganzen Körper und um den Kopf. Mit dem chimar, eine Art Allzwecktuch, bedeckt die Frau Brust und Kinn und, wenn sie will, auch das Gesicht. Die typische Schleier, die wir mit dem „Orient“ in Verbindung setzen, sind der niqab, auch miqna' genannt, und der längere burqu, der nur die Augen freilässt.
Die Türkinnen kokettieren am liebsten mit ihrer „Decke“, örtü, dem in ganz Anatolien verbreiteten Kopftuch. Durch die gehäkelten Zierspitzen, oyalar, können sie ihre geheimen Gefühle und Sehnsüchte mitteilen, die nur der Eingeweihte zu entziffern weiß. Der petsche, der schwarze Gesichtsschleier, den man zum den ganzen Körper umhüllenden tscharschaf trug, ist ein wenig aus der Mode gekommen. Aber die Zeiten ändern sich.
Im Iran verbergen sich die Frauen buchstäblich im „Zelt“. Denn der tradtionelle tschador, ein bis auf die Beine herabhängendes Umhängetuch, das von hinten über den Kopf gezogen wird, bedeutet nichts anderes. Dieses schickliche Gewebe schützt nicht nur trefflich gegen Hitze und Staub. Es gibt zudem den ärmeren Frauen das Gefühl, sich zumindest äußerlich von ihren bessergestellten Leidensgenossinnen nicht zu unterscheiden. Während der iranischen Revolution trugen die Frauen den tschador als Zeichen des Protestes gegen das Schahregime, gegen die Verwestlichung ihres Landes und als Symbol der Verwurzelung in der eigenen Kultur. Erst durch den Zwang, ihn bei jedem Schritt in der Öffentlichkeit tragen zu müssen, kühlte die Liebe zu diesem „demokratischen“ Schmuckstück merklich ab.
Völlig abgeschirmt von der Außenwelt tappt die Afghanin in ihrem glockenförmigen tschadari auf der Straße umher. Er bedeckt den ganzen Körper, ohne Raum für die kleinste Öffnung zu geben. Nur in Augenhöhe ist ein etwas transparenter gewebtes Gitter angebracht, damit die Frau die nächste Mauer oder den Esel sieht, gegen die sie nicht rennen soll.
Dieser geradezu besessene Erfindungsreichtum, die Frau vor den neugierigen Blicken fremder Betrachter zu schützen, ist auf den Vorderen und Mittleren Orient beschränkt. Denn in weiten Teilen der islamischen Welt, so in Schwarzafrika und Südostasien, nimmt die Muslimin unvermummt am öffentlichen Leben teil. Auch das Leben in der Wüste kennt keine Trennung der Geschlechter, keine Einsperrung, keinen Schleier. Mann und Frau arbeiten in der freien Natur zusammen. Der harte Existenzkampf der Nomaden lässt keinen Raum für sexuelle Ausschweifungen und eine rigide Moral.
Dem Koran ist eine explizite „Theologie des Tuches“ fremd. Fast nebenbei erwähnt er dieses Phänomen, das das Straßenbild namentlich der arabischen Länder auffallend prägt. In der Sure 33, Vers 59 heißt es lediglich: Oh Prophet, sprich zu deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Weibern der Gläubigen, dass sie sich in ihren Überwurf verhüllen. So werden sie eher erkannt und werden nicht verletzt... Erst im Lauf seiner Entwicklung kreierte der urbanisierte Islam verschiedene Schleierformen, die zum Teil ältere lokale Traditionen aufgriffen und der eigenen Glaubenswelt anpassten. Dabei vermengten sich religiöses Eiferertum und die allzu weibliche Lust auf Mode und Eleganz. Der beginnende Verfall des Islam im Spätmittelalter beendet das frühere laisser-faire im Umgang mit dem Tuch und treibt Hardliner wie den bereits erwähnten Ibn Tajmija zu ihrem Verdikt. Unversehens rückt die vermummte Frau in das Zentrum eines gottgefälligen Lebens. Analog dazu kommt der gläubige Mann buchstäblich „ungeschoren“ davon. Mit dem Bart verhüllt auch er einen Teil seines Gesichts. Als könnte der abstrakte Gott den freien Anblick seiner Geschöpfe nicht ertragen. Als gewänne der Mensch seinen Ruhm allein durch die Demütigung vor seinem Schöpfer. Als wäre seine Größe eine vermittelte, eine nur geduldete Größe.
Anders als im Christentum hat der Islam den Menschen Gott geopfert. Wenn er - wie es der syrische Dichter Adonis ausdrückt - dem Alphabet, dem Abstrakten einem höheren Wert beimisst als dem Bild oder der Skulptur, dann entspricht die Verschleierung der Idee von einem absoluten und einheitlichen Gott, der das sinnlich Wahrnehmbare und die Verlockungen, die daraus erwachsen, ablehnt. Die Verhüllung der Frau entspricht der Priorität des Abstrakten, das die Welt der Sinne und Instinkte hinter sich lässt. Aber der Schleier entzieht die Frau nicht nur dem Blick der Männer, er macht sie darüber hinaus für die Gesellschaft unsichtbar, als existiere sie gar nicht, und verweist sie in den Bereich des „Verbotenen“, des „Unberührbaren“.
Aus dieser Auffassung heraus ergibt sich aber auch ein negatives Bild des Mannes, als sei er ein von Gott ausschließlich zur Frauenjagd bestimmtes Triebwesen. Zudem degradiert er die Frau zu seinem materiellen Besitz, den man im Haus wegschließen muss, um ihn vor dem Zugriff von Dieben zu sichern.
Wie ein roter Faden zieht sich durch das Leben des Muslims ein unterschwelliges Gefühl von Angst: die Angst vor dem Anderssein, der Sinnlichkeit und der Verführungskunst der Frau, die Angst vor einem unsichtbaren und oft willkürlichen Gott, der - wie der Koran zu berichten weiß - ein „Meister der Täuschung“ sei. Zu häufig wird er als barmherzig beschworen, als dass man sich dieses Attributs auch sicher sein könnte. Und aus einer tiefen Verunsicherung heraus hat Gott den Alltag des Muslims mit einer Kette von Vorschriften belegt, die sich nicht selten widersprechen.
Verwirrend ist die Einstellung zur Sexualität. Einerseits wird sie in der Ehe glorifiziert und taugt sogar als Mittel der Gotteserkenntnis. Dann aber vertröstet man den Gläubigen auf das Paradies, wo er die wahre sexuelle Erfüllung findet. Diesen Aufenthaltsort der Seligen, dschanna, „Garten“, schildert der Koran bis in das kleinste Detail: Der Auserwählte lehnt auf Teppichen mit brokatenem Futter an Bächen von niemals verderbendem Wasser, von geklärtem Honig und köstlichem Wein. Und Jungfrauen, huri, auch „gereinigte Gattinnen“ genannt, mit makellosen Körpern sind ihm rund um die Uhr zu Diensten. Die muslimische Tradition hat dieser Idylle immer phantastischere Facetten hinzugefügt. Der ägyptische Imam as-Suyuti(1445-1505) weiß sogar, dass die Auserkorenen von Tag zu Tag schöner würden. Und ihr Orgasmus dauert exakt 80 Jahre. Die Versuche einiger nachdenklicher 'ulema', der islamischen Gelehrten, die erotische Ausschmückung des Paradieses metaphorisch zu deuten, hat die Masse der Gläubigen kaum überzeugt. Zu verlockend ist die Aussicht auf diese nie endende Orgie der Sinne. Eine in ihrer sexuellen Obsession gefangene Männergesellschaft mag sich nach einem solchen Ort sehnen. Was aber die Frauen dort zu finden hoffen, bleibt ihr Geheimnis.
Der weibliche Raum
An einem heißen Augusttag streifte ich durch die Altstadt von Diyarbakir. Eine mächtige Mauer aus schwarzem Basalt schirmt die Stadt am oberen Tigris von der öden Außenwelt ab. Um so lebhafter ist das Gedränge von Kurden, Türken und Arabern in ihrem Innern. Vielleicht auf der Suche nach mir selbst hatte ich mich hoffnungslos in den engen Gassen verirrt. Ein Muezzin rief zum Gebet. Dann glaubte ich das Plätschern von Wasser zu hören, das Geräusch von brechendem Metall, eine kreischende Stimme über mir, die jäh abbrach. Anfangs hatte mich noch eine Horde von Kindern laut schreiend verfolgt. Dann wurde es für eine Weile totenstill. Immer wieder stand ich am Ende einer Sackgasse. Es war niemand da, den ich nach dem Weg fragen konnte. Ich kam mir vor wie ein Dieb, der in etwas Verbotenes eingedrungen war. Eine Münze fiel vor mir auf den Stein. Durch ein schadhaftes Holzgitter sickerten die Töne einer Ud. Ich sog den Duft von Salbei ein, von Kardamon, Urin, Rosenwasser, Zimt und einem Hauch Schweiß. Vielleicht meinen eigenen Schweiß. Aus brüchigem Mauerwerk krochen neue Gerüche auf mich zu, die ich nicht kannte. Schlurfende Schritte kamen näher und entfernten sich, ohne dass ich die dazugehörende Person sah. Als ich für einen kurzen Moment stehenblieb, schüttete jemand einen Eimer Wasser über mich, In der Fensterhöhle hoch oben erblickte ich die Umrisse einer wohl jungen Frau, die lautlos im Inneren des Hauses verschwand.
Winklige Such- und vor allem blind endende Gassen, ein ganzes Netz solcher Furten durch abweisende Häuserfronten, bei dem keine Masche der anderen gleicht, machen die traditionelle islamische Stadt für den Fremden „unbegehbar“. Sobald er die großen Straßen verlässt, gerät er in ein Labyrinth aus verschlossenen Häusern, die ihr Geheimnis ängstlich hüten. Er taucht in eine Welt des trügerischen Scheins ein, gleich der Fata Morgana der Wüste. Nur das Vordergründige ist mit dem bloßen Auge zu erkennen. Er liefert sich einem Raum aus, dessen unterschwellige Erotik er wohl ahnt, aber nicht fassen kann. Widerstrebend taucht er in eine diffusen Klangwelt ein, für die keine Notation existiert. Dann wiederum scheinen sich die Stadt und ihre Bewohner in einer gleichnishaften Zeichensprache zu verständigen. Eine Fülle verschlüsselter Metaphern will entziffert sein, deren Code verlegt ist.
All diese Verwinkelungen und jäh endenden Gassen dienen keinem anderen Zweck, als das Innen vom Außen strikt zu trennen. Das Haus, dar, ein in sich geschlossener Raum, schützt sich vor der Straße mit einer abweisenden Mauer, die oft kein einziges Fenster aufweist. Wer durch ein nicht verschlossenes Tor das Innere des Hauses betritt, gelangt in eine andere Welt, eine Welt ohne das schmerzende Licht des Draußen. Ohne das an- und abschwellende Stimmengewirr, das erst tief in der Nacht für kurze Zeit erlischt. Ohne die tausend Gesichter, ohne die schamlosen Blicke, die bis unter die Haut dringen. Wer durch das Tor tritt, findet die Ruhe, die Diskretion, die vertraute Nähe, die das Draußen nicht kennt. Das Innere des Hauses birgt die weibliche Sphäre, die an der Schwelle beginnt. Die Frau verleiht diesem seine Aura und seine Seele. Wer sich im Arabischen nach dem Haus erkundigt, meint seine weiblichen Bewohner. Auch wenn die meisten Anwesen einen männlichen und weiblichen Bezirk aufweisen, ist der Mann hier im Grunde nur zu Gast. Sein Leben verbringt er mit Freunden und Geschäftspartnern im Teehaus, im Suq, in der Moschee oder schlicht auf der Straße. Das eigentliche Wohnviertel jedoch ist durch und durch weiblich geprägt. Auf jedem kleinen Platz, in jeder Gasse spürt man die verborgene Anwesenheit der Frau, auch wenn sie physisch nicht da ist.
Sie ist allgegenwärtig: in den lärmenden Metropolen der islamischen Welt, im Zeltlager der Beduinen und in von ihren Bewohnern längst verlassenen Städten wie Tell Hariri. Verschüttet, verborgen. Und gerade das macht Angst.