Jorgos Blanas

 

 

PSYCHE UND GESCHICHTE IN DER MODERNEN  GRIECHISCHEN DICHTUNG

 

 

 

Einsame Strände, wo die Kiefern bis an die Sandküsten des Meeres wachsen, immer bereit, mit den Wellen in ein Gespräch zu treten und zu rauschen: „Hier war einmal ein Berggrat!“

Stille Grate, wo die mit Kiefernadeln bedeckte Erde unzählige winzige Muscheln verbirgt, immer bereit, mit dem Wind ins Gespräch zu kommen und zu flüstern:

„Hier war einmal eine Küste!“ Schattige Dörfer des 19. Jahrhunderts, sonnen- verbrannte Ruinen mittelalterlicher Burgen, verstreuter Marmor antiker Tempel und moderne unbehauste Städte, provisorisch errichtet, in denen ein Volk ausharrt, das am östlichen Rande Europas lebt und das instinktiv ahnt, was Rilke in einem Anflug poetischer Weitsicht  folgendermaßen beschrieb:

«. . . d as Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang . . .»

 

Gegensätze, Widersprüche, immer und überall. Hellas selbst ist ein Widerspruch in sich.

Seine Realität, sein Selbstverständnis nährt sich aus seinem ureigenen Ideal eines ungezügelten Individualismus, das es jeden Tag widerruft. Streng auf seinen europäischen Charakter be- dacht, beharrt es auf seiner nationalen Besonderheit. Entschieden den Werten der Aufklärung zugewandt, überlässt es sich häufig einem romantischen Irrationalismus. Ein Volk von Händlern mit dem Sinn für das Praktische, betrachte- te Griechenland seit jeher seine Dichter als Wortführer, Ratgeber, Inhaber

 

einer tiefen, grundlegenden Wahrheit des Daseins. Vielleicht waren es die ständigen nationalen Heimsuchungen, welche die Dichter veranlassten, ihren Blick beharrlich auf ihr Land und seine Menschen zu richten. Oder vielleicht war Hellas eben dieser Ort, der die Psyche einfängt und sie hartnäckig fern von der Geschichte hält. Wenn die Psyche auf einer synchronen Ebene, einen Gedanken Platons aufgreifend,

das Triebhaft-Begehrliche, das Muthafte verkörpert, was in der Poesie zu einem l’Art pour l’art-Effekt führen mag, so stellt die Geschichte den Ablauf des Geschehens in Zeit und Raum dar, einen Entwicklungsprozess, der ein politisch- soziales Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen schafft. Diese in der heutigen griechischen Poesie so eklatante Dichotomie hebt die erste Dichtung griechischer Sprache, die Ilias, auf atemberaubende Weise auf. Sie beginnt mit dem Wort „menis“: Zorn, Wut,

Sucht, Wutanfall, und verwandelt die Geschichte in eine psychische Explosion: „Singe den Zorn, o Göttin . . .“ . . .»

 

Doch trotz der Fixierung der griechischen Dichter auf nationale Themen hatte sich ihre Poesie den Entwicklungen, die in der westlichen Welt statt- fanden, nie verschlossen.

Klassizismus, Romantik, Symbolismus und die modernistischen Strömungen – sie fanden nicht nur eine unmittelbare Entsprechung, sondern befruchteten auch kreativ die eigene Tradition.

Griechenland war immer ein „Schmelztiegel“, es sammelte alles, was bedeutend erschien, gebrauchte aber nur, was in der Lage war, sich der eigenen Wesensart anzupassen - gegenwärtig mit einer beeindruckenden Offenheit für alle Einflüsse von außen.

 

Die heutige griechische Dichtung scheint eine Kraft zu besitzen, welche nationale Grenzen überschreitet. Sie stellt das menschliche Subjekt in den Mittelpunkt, entschlossen, die Geschichte in ihren Schaffensprozess einzubeziehen. Im Wesentlichen wurde diese Dichtung in der Panik geboren, die das welterschütternde Erdbeben von 1989 auslöste: Der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten, als gleichzeitig der Westen das Dogma vom

„Ende der Geschichte“ verkündete, eine neoliberale Erfindung.

Da weltweit jedes Gleichgewicht ins Wanken geriet, da bewiesen wurde, dass der real existierende Kommunismus alles andere als Kommunismus war, und dass das sogenannte „Ende der Geschichte“ nichts anderes war als der Beginn einer neuen historischen Epoche, erfuhr Griechenland buchstäblich die Umwandlung existenzieller Gegebenheiten auch im alltäglichen Bereich.

Der Balkan – bis dahin gleichsam in einem historischen Tiefschlaf – verwandelte sich plötzlich in ein blindwütiges Schlachtfeld.

Die einzelnen Ethnien begannen Forderungen zu stellen, die dem 19. Jahrhundert angehören, und schlugen mit einem beispiellosen Hass aufeinander ein.

 

Griechenland wurde von Flüchtlingen überschwemmt, von denen viele die Narben des Krieges auf ihren geschundenen Körpern trugen. Das Gespenst der Geschichte begann sich in den Straßen eines Landes herum zu treiben, das bis dahin auf seine europäischen Perspektiven, auf die materiellen und geistigen Güter des Friedens bezogen war.

 

Bis zur Wiederherstellung der Demokratie 1974 schien sich die griechische Dichtung nicht für Geschichte zu interessieren. Sie hatte sich dem Ethnozentrismus entzogen, für sie waren sorgfältig ausgearbeitete Emotionen und eine ausdrucksstarke Schlichtheit kennzeichnend. Die neue Dichter-Generation suchte Vorbilder vor allem in der angelsächsischen Moderne, und machte es sich bequem  in einer hektischen Welt, um sich dem Konsum, dem gesellschaftlichen Automatismus und der Anbetung des Geldes hinzugeben. Und während der Drang der Dichter nach vordergründiger Lebenslust ihren Höhe- punkt erreichte, pochte die Geschichte an ihrer Tür. Was sich um sie herum tat, hatte keinen Bezug zur „Entfremdung“ des Menschen in einer Zeit, welche die Suche nach dem vermeintlichen Glück prägt. Jetzt offenbarten die Menschen ihr Innerstes, ihre Vergangenheit, die

zu „Blutungen“ einer düsteren Zukunft führte. Unverzüglich wurden nun alle relevanten Fragen gestellt: nach dem Wesen des Menschen, dem Wert der Zivilisation, nach der Beziehung von Individuum und Gesellschaft zur Ver- gangenheit und zu ihrer Zukunft. Die Geschichte war präsent und forderte den Dichter heraus, sich mit ihr zu messen. Psyche und Geschichte - die ewigen Rivalen!

 

Etliche Dichter flüchteten sich in Illusionen. Sie glaubten allen Ernstes, dass die historischen Ereignisse die Überlegenheit der „Ästhetik“ über die Ideologie, die Vorrangstellung des „Bewusstseins“ vor der Wirklichkeit bestätigt hatten. Sie versteckten sich hinter einer Art Dichtung ohne politische und soziale Bezüge, einer Poesie, die Ideen und Gefühle wiederaufbereitete ohne Einbuße an Qualität, in der Hoffnung, dass bald

„das Blut im Haus gereinigt“ und „im maroden Haushalt wieder Ordnung ein- kehren wird.“ Aber das Ergebnis einer solchen Einstellung wird erst wahr- genommen, wenn der Tote zu riechen beginnt. Und in diesem Fall war der Tote ein poetischer Trend, der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts unaufhaltsam dem Untergang entgegenging: Die lyrische Sentimentalität des Gedichts als Momentaufnahme des Gedichts, das „einer schnell hingeworfenen Skizze irgendeiner sozialen oder persönlichen Situation ähnelt“, wie es der Dichter Panis Arvanitis formulierte. Im Gegensatz dazu reagierten die Dichter, die nun die dominanten Merkmale der modernen griechischen Lyrik prägten, so, als hätten sie eine der Musen erwählen müssen: Entweder die hypnotische, nackte,  leidenschaftliche Schönheit der Psyche oder die harte, charmante, gefährliche Schönheit der Geschichte. Das poetische Subjekt bröckelte wie eine veraltete, verfallene Maske, konzipiert auf der Basis von künstlichen Gewissheiten, die bestrebt sind, unseren Lebensweg zu kontrollieren. Für einen Moment verhielt sich die Geschichte, die innerhalb der Normalität des Alltags ruhig gestellt war, welche der soziale Wohlstand schuf, so, als sei die tote Vergangenheit noch gültig: Die Gegen- wart hatte sich festgefahren in einer längst überholten „Klassizität“, die dem Dichter die Verwaltung von trivialen Formen aufbürdete. Dann überschlugen sich die oben skizzierten Ereignisse und beseitigten diese Stagnation. Die Menschen erschienen als ein kurzer Moment im Fluss der Geschichte. Das nun entstandene fragile Gleichgewicht gab den poetischen Masken die Gelegenheit, sich aus dem ideologischen Rahmen zu lösen, in den sie die bis dahin dominante Denkweise festgezurrt hatte.

 

Nun ergab sich die Notwendigkeit, nach den Personen zu suchen, die sich hinter diesen poetischen Masken verbargen. Danach zu suchen, sie zu vergleichen, um Unterschiede und Übereinstimmungen auszumachen. Griechenland konnte nicht mehr hartnäckig an seine Vergangenheit gekettet existieren und auch nicht sorglos auf seine europäische Zukunft bauen. Man bedurfte eines neuen Gleichgewichts in einer instabilen Welt, wo nur die Erfahrungen aus der Vergangenheit die Zukunft sichern können. Die Dichter reagierten auf die Herausforderung der Zeit.

Jedenfalls standen die Inseln noch immer am Horizont „bewegungslos wie Eselsrücken mit einer Behaarung aus Nadelbaumblättern“, wie es im

7. Jh. v Chr. der Dichter Archilochos beschrieb. Ohnehin wussten die bosnischen und serbischen Kämpfer, die in Gedanken versunken auf den Bänken Athens saßen, dasselbe vom Krieg, was schon der unerschrockene Ajax vor den Mauern Trojas erfuhr. Wie dem auch sei, der einarmige Kriegsveteran, der an der Straßenlaterne bettelte, war ein lebendiges Symbol der menschlichen Tragödie, die Spinoza und Wittgenstein dazu brachte, der Zivilisation zu misstrauen. Der griechische Dichter brauchte eine neue Stimme, um in der Lage zu sein, ein Netz von Werten im Corpus der Geschichte nicht nur zu formulieren, sondern auch zu kreieren. Er wusste natürlich, dass als Ergebnis neue Masken entständen. Aber in der Poesie ist die Maske nicht notgedrungen die Leugnung des Gesichts. Oft drückt sie dessen wahre Dynamik, dessen Belebtheit aus.

 

Die resolutesten unter den griechischen Dichtern wussten sehr wohl, dass

wenn der Mensch das bereits verletzte Gleichgewicht in Blut ertränkt, der Thron seiner Gewissheiten einstürzen würde. Und eine Gewissheit kann nicht zweimal an die Macht kommen, außer in einer anderen Maske. An diesem Punkt erlangte die Dichtung eine außergewöhnliche Dynamik. Der dramatische Monolog, der fast verschwunden war, kehrte zurück und befreite das Gedicht von den Fesseln einer Schlichtheit, die zu einem Stereotyp verkommen war. Das poetische Subjekt, das die Gedanken realer Menschen oder imaginärer historischer Personen zu teilen versuchte, begann tiefer in sich zu graben und traf eine Ader der Leidenschaft, der entflammten Sehnsucht nach dem Ideal. „Wenn ich ein einziges Gedicht schriebe, das an die schreckliche Schönheit eines Unwetters oder an die des archaischen Kampfes zwischen Opfer und Jäger heranreichen würde, dann verließe ich zufrieden diese Welt“, sagt die Dichterin Lena Kalergi. Die Folgen einer derartigen Rückkehr der Romantik, wie einige maßgebliche Kritiker anmerkten, waren entscheidend für die Veränderung der Funktion des Gedichts. Das Gedicht war nicht mehr ein geschlossener, umfassender Bericht von Emotionen und Ideen, sondern eine Einweihungszeremonie, um Gefühle und Ideen zu öffnen. Und am Wichtigsten:

die umfassende poetische Komposition kehrte zurück, die danach verlang-

te, eine Vielzahl von Elementen in die Dichtung aufzunehmen, die traditionell als nicht-poetisch gelten: narratives und essayistisches Material, die Sprache des Theaters, das Dokument.

Einerseits war die Rückkehr der um- fassenden poetischen Komposition ganz natürlich, da jede Beschäftigung der Poesie mit der Geschichte viele Bilder poetischer Personen erzeugt, von denen jede zu sprechen versucht. Dennoch ist es irgendwie merkwürdig im Rahmen einer kulturellen Übereinkunft, welche die großen Erzählungen ablehnt und sie beschuldigt, sie würden den Totalitarismus kreieren.

Anstatt auf der traditionellen „Emotionalität“ der kleinen lyrischen Form zu beharren, die ohnehin den provisorischen, fragmentarischen und hybriden Charakter des postmodernen Ausdrucks begünstigt, vollzog die griechische Dichtung eine „aristotelische“ Wende, ohne jedoch die kreativen Aspekte der Postmoderne zu ignorieren. Das Zufällige, das Vorläufige, das Hybride und das Fragmentarische sind ohnehin strukturelle Merkmale der Sprache – einer jeden Sprache. Entweder erkennt man das, schreitet weiter und sucht nach neuen Aspekten des Daseins, oder man beharrt auf der Illusion einer geordneten und harmonischen Welt.

 

Die heutige griechische Poesie scheint sich dessen bewusst zu sein, dass das

21. Jahrhundert das Aufeinanderstoßen von Psyche und Geschichte aus einer anderen Perspektive betrachten wird. Diesmal wird es keine „nationale“ Seele und keine „nationale“ Geschichte sein, die aufeinanderprallen.

 

Es wird die menschliche Seele sein und die Geschichte der Menschheit. Vielleicht so zielstrebig, dass sich das Schicksal der menschlichen Existenz selbst manifestiert.

 

(Übersetzt von Dimitris Triadafillu, bearbeitet von Alexej Moir)