Alexej Moir

 

Joey

                                                                                          Für Beate Kohlschütter

                                                                     Aus einem vergangenen Jahrtausend

I

Joey ist die treppe hoch. Wie immer auf allen vieren. Eine schläfrige katze, die

sich ins freie pult. Das kellerzimmer hat er zurückgelassen. Seine

abgetretenen ballettschuhe. Den schweren biergeruch. Seinen plüschhund

mit dem kakerlakenblick. Das licht trifft ihn quer an der stirn. Joey schlingert

über den zementierten hof. Reißt die mülltonne um. Brüllt ,schitt‘. Versucht es

dann mal grazil: zwei schritt vor, einen zurück, eine süffige drehung nach

rechts. Ausrutschen ist nicht. Joey schiebt sich die häuserwand entlang. Am

fenster mit den fleischigen keramikputten bleibt er kurz stehen.

Abgestandenes, fades zeug. Irgendein typ, der nach schimmelkäse stinkt,

wäre ihm lieber. Oder ein sonnenuntergang am meer. Oder hände aus stahl.

Im glas spiegeln sich seine narben und die reste seines gesichts. Hat er mit

liebe wieder zusammengeschminkt. Die lippen malt er dunkelrot nach. Den

fetten stift hat Joey immer dabei. Um halbacht zieht er sich eine riesenpizza

rein. Zu viel und zu schnell. Ihm ist speiübel. In einer gassenschänke kauft er

bier. Viel bier.

 

Und einen joint für den weg. Die jungs an der drehbrücke haben für Joey ein

herz.

– Eh, mann, du brauchsts – Joey braucht mehr.

 

Dunkle, geschmeidige finger drehen das ding im nu. Joeys flackernde hand

taugt nur, die kotze an sich zu halten. Er schmiert die finger ins flache haar.

Er muß mal und findet den reißverschluß nicht. Ist wieder mal naß. Klamm

und wund, was soll’s. Joey tritt ab.

Durch straßenschluchten, durch schächte, über einen bauplatz mit

zertrampelten rosenrabatten. Kommt er da lang, katzenhaft, sein

rosenkavalier? Joey hätte es gern gewußt.

Hinter einer toreinfahrt schmiegt sich Old Charly an ihn. Joey wirft ihm eine

kalte kußhand zu und grient. Nein danke, auf leichen kein’ appetit.

Von Claire zum glück noch keine spur. Bis sie immer wieder denselben weg

auf- und abzieht, bleibt noch zeit. Claire schabt hier nur nachts das pflaster

wund.

Durch die krampfadern der stadt, an amputierten haustoren vorbei, der

himmel geht gegen die dunkelheit an, Joey gegen den durchblick. Hin- und

hersinnieren, was soll’s. Tut gut, so getrieben zu sein. Vor allem dorthin, wo

man sowieso hinwill.

Joey ist auf der zielgeraden. Schwer angeschlagen zwar, aber er ist ja da.

Hinterm rathaus hervor auf den fast leeren platz, in sein gestüt. Steuert auf

seinen schimmel zu, auf den weißen stuhl vor der säule. Niemand macht ihm

den jetzt streitig. Die reden des tages sind verschollen. Joeys gute stube. Wo

Joey empfängt. Einmal muß schließlich einer kommen. Einer mit kurzem

haar. Mit einer schiffbauermuskulatur. Joey haut sich in den stuhl und – als

seine oma noch lebte. Als man seine oma wegtrug. Und als man Happie,

seinen rauhhaardackel, wegtrug. Damals. Und wenn man ihn wegtragen wird.

Aber dann muß man ihn anfassen. Joey anfassen. Das gibt es nicht. Hat es

nie gegeben. Das läßt man nicht zu. Den Joey faßt man nicht an.

Joey stiert in das licht, das auf ihn zuläuft. Die grellen zähne, die zubeißen möchten. In händen, die zupacken können. Die etwas wollen. Joey empfängt. Aber nicht jeden. Die

können ihn mal. Sie haben Joey in die mitte genommen, als sei er einer von

ihnen.

Komm her, Joey, komm schon, ganz nah.

Kurz vor halbelf sind sie erschienen, kräftige, verschwitzte gestalten, pickel

da, wo sie hingehören. Sie halten die taschenlampen wie handgranaten.

Sie haben das licht ausgeknipst. Sie sagen kein wort. Der mit dem hellen

blazer schiebt sich von hinten an Joey heran und lacht kurz auf. Zart,

verdammt zärtlich fährt seine hand Joeys rücken hinab. Dann hält sie ein. Ein

harter stich. Ein augenblick der süße. Und ein wattierter schmerz. So nah war

der noch nie. Okay, d’sau is hie. Dann sind sie weg.

Joey ist weit weg. In seinem bett, eine verwaschene decke über dem

gesicht. Dann vor dem spiegel, dessen oberer teil fehlt. Die narben grinsen

ihn aus ihren roten rändern an. Aus der grätsche zieht Joey den colt oder tut

wenigstens so und zielt auf das spiegelbild seines gesichts. Keine chance für

ihn. Joey ist wieder allein, sauber herausoperiert aus dem bild. Zeitlos. Geist.

Joey trinkt mit dem abgespreizten kleinen finger süßen tee. Nicht mit der

oma. Auch nicht mit Claire. Die mag keinen süßen tee.

Joey hat sich in seinen durst verrannt. In der verkrumpelten plastiktüte (ja

keine namen!) sind noch drei dosen bier (ja keine namen!). Nur Joey (der

einzige name). So weit tragen namen nicht, vor allem nicht die, die den

namen tragen. Nur keine namen, außer Joey. Aber auch Joeys name liegt nur

so herum. Mit jeder nennung wird der name klarer. Joey wird immer klarer,

obwohl, auch die häufung der Joeys bringt ihn nicht zu sich zurück.

Auch als sich der pausbackige engel über ihn beugt, läßt der schmerz nicht

nach. Claire war gekommen.

– He du – Die trompete zu schrill für den weiten raum. Claire hatte die flügel

eingefahren, lange bevor sie den platz mit dem säulenheiligen erreicht hat.

Jetzt nur noch staksender schwan, zuckt sie den oberkörper vor. Der pürzel

folgt widerstrebend. Zuckt vor. Stemmt sich zurück. Ein schiff dümpelt nicht

schlechter in der flaute. Ihre sonnenuntergangsbrüste waren fast

graugeschrumpft. Gelb und grau und lassen sich nicht anfassen.

Noch immer dünsten die steine die hitze des tages aus. Die stimme des

redners vom frühen abend klebt noch auf dem stuhl, auf der säule wie

taubendreck.

– He du – Claire hat sich auf zehenspitzen über ihn gebeugt. Noch mehr

gebeugt, als sie es ohnehin schon ist.

– Eigentlich könntest du mich zum essen einladen. Das wäre doch drin. –

Und Joey, das miststück? Deutet sich da etwa eine spur von lächeln an?

Joey lächelt nicht oft. Weiß schon warum. Weinen nie. Jetzt schon gar nicht.

Hängt nur so herum in der ära Kohl. Was das schon heißt. Solange er denken

kann, Joey, gibt es Kohl, und wenn man ihn wegträgt, auch dann gibts kohl.

Kohl kommt von unten, dann schießt er ins kraut. Joey sieht das kraut jetzt

doppelt, von unten, in den schimmelstuhl gefläzt. Joey sitzt im krautgarten

und kaut seine finger blutig. Der schmerz stört ihn nicht mehr. Oh haupt voll

blut und wunden - das hat seine oma oft gesungen. Joey will ja eine kerze

anzünden für die oma. Bei der säule. Deshalb ist er doch hier. Warum ist er

überhaupt hier, Joey. Wieder mal platt? Joey ist nie verblüfft. Joey hat angst.

Davor, Joey zu sein. Das ist lästig. Joey zuliebe Joey zu sein. So viele Joeys

gibt es denn auch nicht. Joey sein.

Wenn Joey herumläuft, hat er nie angst. Hängt er aber fest und liegt auf

dem bett und fährt mit seinen gelben händen den körper hinab. Und sucht er

ihn, wen? und macht dann die marie. Keucht den rücken entlang, fahrig und in

schweiß, und sucht er ihn, Joey. Dann hat er angst.

Aber die ist jetzt abgeflossen. Seine arme sind geschmolzen, die bizeps

abgetaut. Hemden trägt er keine. Nur die lederjacke auf der nackten haut. Die ärmel flauschen sich auf zu patronenhülsen. Jemand hat diese riesendinger längst leergeschossen.

Von rauch keine spur.

 

II

Seit der früh ist sie mit ihren zwei tüten unterwegs. Vor dem Hilton hatte sie

jemand zum essen eingeladen. Sie hatte den mann mit dem lila

schlapphut so lange angestarrt, bis der ein wenig zur seite gerückt war. Die

bank war so schmal wie das menü. Gemeinsam hatten sie die tunfischdose

leergefingert, ohne sich näherzukommen. Die brotreste und ein käsestück

hatte sie noch eingesteckt, bevor sie davonschlich.

– Probieren ja, krepieren nein. Hab auch schon opulenter gespeist. –

Mitte zwanzig ist sie gerade, alle zähne noch, zwei grübchen am kinn,

einen haarentferner braucht sie nicht – und doch laufen die spendierhosen

dieser typen immer mehr ein.

Sie geht den betonierten bach entlang, am pissoir wächst ihr appetit über

sich hinaus, dann durch eine aufgerissene gasse an der pfandleihe vorbei.

Um die kirche macht sie einen bogen, die ist ihr zu kalt.

Bei anbruch der dunkelheit wieselt sie über den altstadtring. In der

sackgasse spricht sie jemand an. Der ist zu alt.

In einer torfahrt sieht sie zwei männer knutschen. Gummilaute, sie schreit

innerlich auf. Plötzlich werden ihr die tüten zu schwer. Elfmal schlägt St.

Anna, und nicht nur die.

– He du – Mehrmals ist sie um ihn herumgetapst. Sie kreist Joey ein. Ihre

grünen augen bohren sich in seinen hals, pulen sich wieder frei, noch sind

sie nicht am ziel, sacken seinen nackten oberkörper hinab, dort, wo ihn die

Jacke freiläßt und verfangen sich in seinem brusthaar. Die grünen kulleraugen im kastanienbraun von Joeys wolle.

Joey hat sich seinen stuhl regelrecht erschlafen. Hat ein anrecht darauf.

Obwohl, am ende hat ihn wohl jemand oder etwas dahineinplaziert, hat

Joey nur genommen, seine knie durchgedrückt und die zu langen beine

auseinandergespreizt. Ja, Joey, es muß so aussehen, als gehe ihn die ganze

chose nichts an. Andere sind am werk. Und was mit ihm passiert, davon weiß

Joey nichts. Auch nicht, daß er unentwegt auf die säule starrt, auf die große

zapfsäule. Die glotzt er immer an, wenn ihm eine mark für das nächste bier

fehlt.

Claire keucht und streicht sich das haar aus der stirn. Wuschelkopf und schon

das erste weiß in der dunklen frisur. Wieder bleibt ihr blick im spinnennetz

seiner behaarten brust hängen. Will ausgesaugt werden und will selber

saugen. Vor allem das. Weiter kommt sie nicht.

Sie hat die beiden plastiktüten auf den boden gestellt. Dahin, wo auch Joeys

tüte steht. Sie reibt die vom tragen steifen finger aneinander. Mit denen fängt

alles an. Joeys arme hängen von den stuhllehnen herab. Die rechte hand

streift den boden. Seine vom nikotin verfärbten fingerkuppen stören sie

nicht. Aber finger, darauf würde sie bestehen, wenn es dann soweit ist,

müssten schon sein, schlank, rechteckig, aristokratisch, nur dazu da, in einem

unbeherrschten rhythmus ihre grobkörnigen brustwarzen zu einer noch nie

gekannten größe hin zu kneten, nur dazu sind sie da. Nur dazu . . .

Hände wären dazu nicht nötig, geradezu überflüssig und obszön, eine

vertierte form, kralle, greif, klaue, aber nicht greifbar, unklar, schemenhaft,

also gar nicht entwickelt und dann ver- schwunden. Auf hände würde sie

pfeifen. Die haben ihr immer nur wehgetan. Die solle er ja lassen, wo sie

sind. Sie ist bis auf einen halben meter an ihn heran. Sie zittert. Sie fährt über

ihr rundes bäuchlein, das sie jetzt über die maßen herauswölbt. Tritt einen

schritt zurück, unwillig. Aber Joeys apathie treibt sie immer wieder voran.

– He du, warum redest du nicht mit mir. –

Sie wird schrill, dreht sich einmal um sich selber, eine im hals

steckengebliebene pirouette. Verwaschen. Wie die nacht. Sie greift in die tüte

und kramt im zeitlupentempo. Sie kann nichts erkennen. Dann hat sie doch den

kleinen stift aus der hülle herausgefischt.

– Das mach ich doch nur für dich, mein hasemann – jetzt fast ein singsang,

eine motette in biss. Sie reibt den stift mehrmals kräftig über die lippen, als ziehe

sie einen schlußstrich. Verschmiert dabei ihr kleines kinn, das von dem

dunkelrot nur so trieft.

Joey stiert die säule an. Die ist auch rötlich, aber diskreter, nicht

ketchupverschmiert wie das kinn. Joey schweigt renitent. Auch wenn sie jetzt

sagen würde, ihn, Joey, wolle sie probieren, ja, probieren schon. Wenn sie sich

in seine jacke festkrallen würde, probieren ja, und an ihm hochspringen würde,

ohne ihn loszulassen – Joey hätte keinen ton rausgebracht, eine halbe, eine

stunde vorher vielleicht, scheiß drauf, oder hebe dich hinweg, wie seine oma,

wenn die vom teufel sprach. Aber jetzt keinen mucks.

– Verdammt – Man muß ihn umdrehen und in den arsch kneifen. Ihn vom stuhl

zerren, den daumen an seine schläfe und ihn über den platz jagen. Sie hinterher.

Ihr matter teint glänzt kurz auf und verblasst wieder.

Joey in seiner hellen lederjacke über die berge, sie hinterher. Kurz vor dem

gipfel holt sie ihn ein, reißt ihn von hinten zu boden. Liegt unter ihm. Pappt an ihm.

Sein buckel. Will es überhaupt nicht sein, aber sie ist es nun mal, Joeys

verdammter buckel. Joey trägt sie durch seinen suff, in die pizzabude, preßt sie in

seinem stuhl platt, sie schreit nicht einmal, und wälzt sie in seinem bett.

Verdammt hart ist das ding. Sie erstickt fast in seinem schweiß.

Bis acht hat es Joey in seinem zimmer gehalten. Über die schmutzige unterhose

die bundhose gepult, der vollgelockte fliegenfänger an der decke, sich ja nicht

übergeben, auspuffen, hätte Joey gesagt, sahne raus, den peter raus, nur raus,

egal wie, um ein zwei ecken laufen, vielleicht auch . . .

Immer nur laufen, sich in den pfützen der großmarkthalle spiegeln, sich vor

dem gebrüll der schlachttiere verkriechen. Oder einfach zu ihnen

hineinkriechen und sich in ihnen verlieren. Dann erst könnte er aufatmen.

Aus einem der tierleiber streckt er ihr die dünnen arme entgegen. Auf ihrer

oberseite rieseln die dunkelgoldenen härchen bis auf den handrücken herab. Die

knöchel sind frei. Mit den finger- spitzen zieht er sie in sein zimmer. Auf den boden

gefläzt. Packt sie ganz. Nein, sie packt ihn. Die patschärmchen straff

durchgestreckt, den beigen pulli bis über die ellbogen geschoben. Packt ihn.

Aber nicht in seinem zimmer. Das kennt sie nicht.

Kurz vor halbzwölf sind sie wiedergekommen. Vielleicht sind es auch andere.

Ihre Stiefel nageln eine klangspur quer über den platz. Die frau beachten sie

nicht. Vor Joey, dem eingesunkenen reiter, halten sie. Einer tritt an Joey von

hinten heran. Eine zarte berührung oder so. Aber es ist zu spät. Das schlachtfest

ist schon vorbei. Eine zangengeburt nicht mehr drin. Dann sind sie weg.

– He du – sie ist auf die knie gegangen, Joey zusammengesackt. Die

patschärmchen leicht gewölbt, hat sie ihn umschlossen. Hält ihn nur fest.

Seinen rücken. Die klebrige pfütze. Ihre nasse hand. Sie drückt ihn immer weiter

in sich hinein. Sie stößt auf seinen hartnäckig geschlossenen mund. Sie will ihn

öffnen. Sie drängt. Sie preßt. Sie gräbt.