Joey
Für Beate Kohlschütter
Aus einem vergangenen Jahrtausend
I
Joey ist die treppe hoch. Wie immer auf allen vieren. Eine schläfrige katze, die
sich ins freie pult. Das kellerzimmer hat er zurückgelassen. Seine
abgetretenen ballettschuhe. Den schweren biergeruch. Seinen plüschhund
mit dem kakerlakenblick. Das licht trifft ihn quer an der stirn. Joey schlingert
über den zementierten hof. Reißt die mülltonne um. Brüllt ,schitt‘. Versucht es
dann mal grazil: zwei schritt vor, einen zurück, eine süffige drehung nach
rechts. Ausrutschen ist nicht. Joey schiebt sich die häuserwand entlang. Am
fenster mit den fleischigen keramikputten bleibt er kurz stehen.
Abgestandenes, fades zeug. Irgendein typ, der nach schimmelkäse stinkt,
wäre ihm lieber. Oder ein sonnenuntergang am meer. Oder hände aus stahl.
Im glas spiegeln sich seine narben und die reste seines gesichts. Hat er mit
liebe wieder zusammengeschminkt. Die lippen malt er dunkelrot nach. Den
fetten stift hat Joey immer dabei. Um halbacht zieht er sich eine riesenpizza
rein. Zu viel und zu schnell. Ihm ist speiübel. In einer gassenschänke kauft er
bier. Viel bier.
Und einen joint für den weg. Die jungs an der drehbrücke haben für Joey ein
herz.
– Eh, mann, du brauchsts – Joey braucht mehr.
Dunkle, geschmeidige finger drehen das ding im nu. Joeys flackernde hand
taugt nur, die kotze an sich zu halten. Er schmiert die finger ins flache haar.
Er muß mal und findet den reißverschluß nicht. Ist wieder mal naß. Klamm
und wund, was soll’s. Joey tritt ab.
Durch straßenschluchten, durch schächte, über einen bauplatz mit
zertrampelten rosenrabatten. Kommt er da lang, katzenhaft, sein
rosenkavalier? Joey hätte es gern gewußt.
Hinter einer toreinfahrt schmiegt sich Old Charly an ihn. Joey wirft ihm eine
kalte kußhand zu und grient. Nein danke, auf leichen kein’ appetit.
Von Claire zum glück noch keine spur. Bis sie immer wieder denselben weg
auf- und abzieht, bleibt noch zeit. Claire schabt hier nur nachts das pflaster
wund.
Durch die krampfadern der stadt, an amputierten haustoren vorbei, der
himmel geht gegen die dunkelheit an, Joey gegen den durchblick. Hin- und
hersinnieren, was soll’s. Tut gut, so getrieben zu sein. Vor allem dorthin, wo
man sowieso hinwill.
Joey ist auf der zielgeraden. Schwer angeschlagen zwar, aber er ist ja da.
Hinterm rathaus hervor auf den fast leeren platz, in sein gestüt. Steuert auf
seinen schimmel zu, auf den weißen stuhl vor der säule. Niemand macht ihm
den jetzt streitig. Die reden des tages sind verschollen. Joeys gute stube. Wo
Joey empfängt. Einmal muß schließlich einer kommen. Einer mit kurzem
haar. Mit einer schiffbauermuskulatur. Joey haut sich in den stuhl und – als
seine oma noch lebte. Als man seine oma wegtrug. Und als man Happie,
seinen rauhhaardackel, wegtrug. Damals. Und wenn man ihn wegtragen wird.
Aber dann muß man ihn anfassen. Joey anfassen. Das gibt es nicht. Hat es
nie gegeben. Das läßt man nicht zu. Den Joey faßt man nicht an.
Joey stiert in das licht, das auf ihn zuläuft. Die grellen zähne, die zubeißen möchten. In händen, die zupacken können. Die etwas wollen. Joey empfängt. Aber nicht jeden. Die
können ihn mal. Sie haben Joey in die mitte genommen, als sei er einer von
ihnen.
Komm her, Joey, komm schon, ganz nah.
Kurz vor halbelf sind sie erschienen, kräftige, verschwitzte gestalten, pickel
da, wo sie hingehören. Sie halten die taschenlampen wie handgranaten.
Sie haben das licht ausgeknipst. Sie sagen kein wort. Der mit dem hellen
blazer schiebt sich von hinten an Joey heran und lacht kurz auf. Zart,
verdammt zärtlich fährt seine hand Joeys rücken hinab. Dann hält sie ein. Ein
harter stich. Ein augenblick der süße. Und ein wattierter schmerz. So nah war
der noch nie. Okay, d’sau is hie. Dann sind sie weg.
Joey ist weit weg. In seinem bett, eine verwaschene decke über dem
gesicht. Dann vor dem spiegel, dessen oberer teil fehlt. Die narben grinsen
ihn aus ihren roten rändern an. Aus der grätsche zieht Joey den colt oder tut
wenigstens so und zielt auf das spiegelbild seines gesichts. Keine chance für
ihn. Joey ist wieder allein, sauber herausoperiert aus dem bild. Zeitlos. Geist.
Joey trinkt mit dem abgespreizten kleinen finger süßen tee. Nicht mit der
oma. Auch nicht mit Claire. Die mag keinen süßen tee.
Joey hat sich in seinen durst verrannt. In der verkrumpelten plastiktüte (ja
keine namen!) sind noch drei dosen bier (ja keine namen!). Nur Joey (der
einzige name). So weit tragen namen nicht, vor allem nicht die, die den
namen tragen. Nur keine namen, außer Joey. Aber auch Joeys name liegt nur
so herum. Mit jeder nennung wird der name klarer. Joey wird immer klarer,
obwohl, auch die häufung der Joeys bringt ihn nicht zu sich zurück.
Auch als sich der pausbackige engel über ihn beugt, läßt der schmerz nicht
nach. Claire war gekommen.
– He du – Die trompete zu schrill für den weiten raum. Claire hatte die flügel
eingefahren, lange bevor sie den platz mit dem säulenheiligen erreicht hat.
Jetzt nur noch staksender schwan, zuckt sie den oberkörper vor. Der pürzel
folgt widerstrebend. Zuckt vor. Stemmt sich zurück. Ein schiff dümpelt nicht
schlechter in der flaute. Ihre sonnenuntergangsbrüste waren fast
graugeschrumpft. Gelb und grau und lassen sich nicht anfassen.
Noch immer dünsten die steine die hitze des tages aus. Die stimme des
redners vom frühen abend klebt noch auf dem stuhl, auf der säule wie
taubendreck.
– He du – Claire hat sich auf zehenspitzen über ihn gebeugt. Noch mehr
gebeugt, als sie es ohnehin schon ist.
– Eigentlich könntest du mich zum essen einladen. Das wäre doch drin. –
Und Joey, das miststück? Deutet sich da etwa eine spur von lächeln an?
Joey lächelt nicht oft. Weiß schon warum. Weinen nie. Jetzt schon gar nicht.
Hängt nur so herum in der ära Kohl. Was das schon heißt. Solange er denken
kann, Joey, gibt es Kohl, und wenn man ihn wegträgt, auch dann gibts kohl.
Kohl kommt von unten, dann schießt er ins kraut. Joey sieht das kraut jetzt
doppelt, von unten, in den schimmelstuhl gefläzt. Joey sitzt im krautgarten
und kaut seine finger blutig. Der schmerz stört ihn nicht mehr. Oh haupt voll
blut und wunden - das hat seine oma oft gesungen. Joey will ja eine kerze
anzünden für die oma. Bei der säule. Deshalb ist er doch hier. Warum ist er
überhaupt hier, Joey. Wieder mal platt? Joey ist nie verblüfft. Joey hat angst.
Davor, Joey zu sein. Das ist lästig. Joey zuliebe Joey zu sein. So viele Joeys
gibt es denn auch nicht. Joey sein.
Wenn Joey herumläuft, hat er nie angst. Hängt er aber fest und liegt auf
dem bett und fährt mit seinen gelben händen den körper hinab. Und sucht er
ihn, wen? und macht dann die marie. Keucht den rücken entlang, fahrig und in
schweiß, und sucht er ihn, Joey. Dann hat er angst.
Aber die ist jetzt abgeflossen. Seine arme sind geschmolzen, die bizeps
abgetaut. Hemden trägt er keine. Nur die lederjacke auf der nackten haut. Die ärmel flauschen sich auf zu patronenhülsen. Jemand hat diese riesendinger längst leergeschossen.
Von rauch keine spur.
II
Seit der früh ist sie mit ihren zwei tüten unterwegs. Vor dem Hilton hatte sie
jemand zum essen eingeladen. Sie hatte den mann mit dem lila
schlapphut so lange angestarrt, bis der ein wenig zur seite gerückt war. Die
bank war so schmal wie das menü. Gemeinsam hatten sie die tunfischdose
leergefingert, ohne sich näherzukommen. Die brotreste und ein käsestück
hatte sie noch eingesteckt, bevor sie davonschlich.
– Probieren ja, krepieren nein. Hab auch schon opulenter gespeist. –
Mitte zwanzig ist sie gerade, alle zähne noch, zwei grübchen am kinn,
einen haarentferner braucht sie nicht – und doch laufen die spendierhosen
dieser typen immer mehr ein.
Sie geht den betonierten bach entlang, am pissoir wächst ihr appetit über
sich hinaus, dann durch eine aufgerissene gasse an der pfandleihe vorbei.
Um die kirche macht sie einen bogen, die ist ihr zu kalt.
Bei anbruch der dunkelheit wieselt sie über den altstadtring. In der
sackgasse spricht sie jemand an. Der ist zu alt.
In einer torfahrt sieht sie zwei männer knutschen. Gummilaute, sie schreit
innerlich auf. Plötzlich werden ihr die tüten zu schwer. Elfmal schlägt St.
Anna, und nicht nur die.
– He du – Mehrmals ist sie um ihn herumgetapst. Sie kreist Joey ein. Ihre
grünen augen bohren sich in seinen hals, pulen sich wieder frei, noch sind
sie nicht am ziel, sacken seinen nackten oberkörper hinab, dort, wo ihn die
Jacke freiläßt und verfangen sich in seinem brusthaar. Die grünen kulleraugen im kastanienbraun von Joeys wolle.
Joey hat sich seinen stuhl regelrecht erschlafen. Hat ein anrecht darauf.
Obwohl, am ende hat ihn wohl jemand oder etwas dahineinplaziert, hat
Joey nur genommen, seine knie durchgedrückt und die zu langen beine
auseinandergespreizt. Ja, Joey, es muß so aussehen, als gehe ihn die ganze
chose nichts an. Andere sind am werk. Und was mit ihm passiert, davon weiß
Joey nichts. Auch nicht, daß er unentwegt auf die säule starrt, auf die große
zapfsäule. Die glotzt er immer an, wenn ihm eine mark für das nächste bier
fehlt.
Claire keucht und streicht sich das haar aus der stirn. Wuschelkopf und schon
das erste weiß in der dunklen frisur. Wieder bleibt ihr blick im spinnennetz
seiner behaarten brust hängen. Will ausgesaugt werden und will selber
saugen. Vor allem das. Weiter kommt sie nicht.
Sie hat die beiden plastiktüten auf den boden gestellt. Dahin, wo auch Joeys
tüte steht. Sie reibt die vom tragen steifen finger aneinander. Mit denen fängt
alles an. Joeys arme hängen von den stuhllehnen herab. Die rechte hand
streift den boden. Seine vom nikotin verfärbten fingerkuppen stören sie
nicht. Aber finger, darauf würde sie bestehen, wenn es dann soweit ist,
müssten schon sein, schlank, rechteckig, aristokratisch, nur dazu da, in einem
unbeherrschten rhythmus ihre grobkörnigen brustwarzen zu einer noch nie
gekannten größe hin zu kneten, nur dazu sind sie da. Nur dazu . . .
Hände wären dazu nicht nötig, geradezu überflüssig und obszön, eine
vertierte form, kralle, greif, klaue, aber nicht greifbar, unklar, schemenhaft,
also gar nicht entwickelt und dann ver- schwunden. Auf hände würde sie
pfeifen. Die haben ihr immer nur wehgetan. Die solle er ja lassen, wo sie
sind. Sie ist bis auf einen halben meter an ihn heran. Sie zittert. Sie fährt über
ihr rundes bäuchlein, das sie jetzt über die maßen herauswölbt. Tritt einen
schritt zurück, unwillig. Aber Joeys apathie treibt sie immer wieder voran.
– He du, warum redest du nicht mit mir. –
Sie wird schrill, dreht sich einmal um sich selber, eine im hals
steckengebliebene pirouette. Verwaschen. Wie die nacht. Sie greift in die tüte
und kramt im zeitlupentempo. Sie kann nichts erkennen. Dann hat sie doch den
kleinen stift aus der hülle herausgefischt.
– Das mach ich doch nur für dich, mein hasemann – jetzt fast ein singsang,
eine motette in biss. Sie reibt den stift mehrmals kräftig über die lippen, als ziehe
sie einen schlußstrich. Verschmiert dabei ihr kleines kinn, das von dem
dunkelrot nur so trieft.
Joey stiert die säule an. Die ist auch rötlich, aber diskreter, nicht
ketchupverschmiert wie das kinn. Joey schweigt renitent. Auch wenn sie jetzt
sagen würde, ihn, Joey, wolle sie probieren, ja, probieren schon. Wenn sie sich
in seine jacke festkrallen würde, probieren ja, und an ihm hochspringen würde,
ohne ihn loszulassen – Joey hätte keinen ton rausgebracht, eine halbe, eine
stunde vorher vielleicht, scheiß drauf, oder hebe dich hinweg, wie seine oma,
wenn die vom teufel sprach. Aber jetzt keinen mucks.
– Verdammt – Man muß ihn umdrehen und in den arsch kneifen. Ihn vom stuhl
zerren, den daumen an seine schläfe und ihn über den platz jagen. Sie hinterher.
Ihr matter teint glänzt kurz auf und verblasst wieder.
Joey in seiner hellen lederjacke über die berge, sie hinterher. Kurz vor dem
gipfel holt sie ihn ein, reißt ihn von hinten zu boden. Liegt unter ihm. Pappt an ihm.
Sein buckel. Will es überhaupt nicht sein, aber sie ist es nun mal, Joeys
verdammter buckel. Joey trägt sie durch seinen suff, in die pizzabude, preßt sie in
seinem stuhl platt, sie schreit nicht einmal, und wälzt sie in seinem bett.
Verdammt hart ist das ding. Sie erstickt fast in seinem schweiß.
Bis acht hat es Joey in seinem zimmer gehalten. Über die schmutzige unterhose
die bundhose gepult, der vollgelockte fliegenfänger an der decke, sich ja nicht
übergeben, auspuffen, hätte Joey gesagt, sahne raus, den peter raus, nur raus,
egal wie, um ein zwei ecken laufen, vielleicht auch . . .
Immer nur laufen, sich in den pfützen der großmarkthalle spiegeln, sich vor
dem gebrüll der schlachttiere verkriechen. Oder einfach zu ihnen
hineinkriechen und sich in ihnen verlieren. Dann erst könnte er aufatmen.
Aus einem der tierleiber streckt er ihr die dünnen arme entgegen. Auf ihrer
oberseite rieseln die dunkelgoldenen härchen bis auf den handrücken herab. Die
knöchel sind frei. Mit den finger- spitzen zieht er sie in sein zimmer. Auf den boden
gefläzt. Packt sie ganz. Nein, sie packt ihn. Die patschärmchen straff
durchgestreckt, den beigen pulli bis über die ellbogen geschoben. Packt ihn.
Aber nicht in seinem zimmer. Das kennt sie nicht.
Kurz vor halbzwölf sind sie wiedergekommen. Vielleicht sind es auch andere.
Ihre Stiefel nageln eine klangspur quer über den platz. Die frau beachten sie
nicht. Vor Joey, dem eingesunkenen reiter, halten sie. Einer tritt an Joey von
hinten heran. Eine zarte berührung oder so. Aber es ist zu spät. Das schlachtfest
ist schon vorbei. Eine zangengeburt nicht mehr drin. Dann sind sie weg.
– He du – sie ist auf die knie gegangen, Joey zusammengesackt. Die
patschärmchen leicht gewölbt, hat sie ihn umschlossen. Hält ihn nur fest.
Seinen rücken. Die klebrige pfütze. Ihre nasse hand. Sie drückt ihn immer weiter
in sich hinein. Sie stößt auf seinen hartnäckig geschlossenen mund. Sie will ihn
öffnen. Sie drängt. Sie preßt. Sie gräbt.