Bosnien - Literatur im Krieg
Sarajevo
Die Nächte nach dem Ende der Welt
»In Sarajevo ist es schwer, Dichter zu sein«, sagt ganz zu Beginn der Belagerung ein einheimischer Literat. Ein Korrespondent der amerikanischen Fernsehstation CNN fragt warum, der Dichter antwortet lapidar: »Darum!« Ein Jahr später fragt derselbe oder vielleicht auch ein anderer Journalist - aber das ist unerheblich - einen anderen Dichter aus Sarajevo, warum dieser sich entschlossen habe, in der belagerten Stadt zu bleiben, wo er doch längst ernsthafte Angebote habe, Vorlesungen an westeuropäischen Universitäten zu halten, weit weg von den Granaten und vom Tod. Dieser gibt dieselbe kurze Antwort: »Darum.«
Diese karge Rhetorik, mit der die Dichter die uneingeweihten, wahrscheinlich aber wohlmeinenden Reisenden, die sich in die umzingelte bosnische Hauptstadt verirrt haben, überraschen, mag nicht viel bedeuten. Danach wenden sich diese Reisenden an jene, die immer alles wissen und den Mund nie zumachen: an Politiker, Journalisten, die alle keine Kulturberichterstatter sind, und an die anderen Experten für Sarajevo, Bosnien und den Balkan bis hin zur gesamten kosmischen Weltordnung. Man plaudert, trinkt Pulverkaffee, verteilt Geschenke aus der weiten Welt und verläßt dann das Land, das verwirrt und zur Flucht treibt. Nur die Mutigen bleiben und erkunden selber die belagerte Stadt. Zu ihnen gehört die amerikanische Journalistin und Autorin Susan Sontag, die man beinahe als eine Einwohnerin Sarajevos bezeichnen kann. Sie durchstreift die Stadt, spricht mit Künstlern und Leuten von der Straße, macht sich Notizen, und am Ende führt sie mitten in der belagerten Stadt Becketts Warten auf Godot auf. Warum Godot? Sie folgert völlig zu recht, daß der metaphysische Gleichmut der geistige Zustand der Stadt ist. Über den Gleichmut zur Erkenntnis. Dennoch bleibt das Echo ihrer Mitbürger irgendwie hohl, auch wenn die führenden Satellitenriesen eine neue Topstory aus der Stadt übertragen, die in ihrem Goldenen Zeitalter unter den Osmanen auf eine einzigartige künstlerische Form versessen war: auf das Schattentheater. Susan Sontag weiß, daß Leben und Arbeiten in Sarajevo keine modische Fotosafari sind, aber ihr fällt es wie jedem Fremden schwer, in die Selbsteinkapselung der Stadt und in ihre beschleunigte Reise durch die Geschichte einzudringen. Es macht Mühe, Becketts Minimalismus des Ausdrucks zu ersetzen durch Borges' Abenteuer des menschlichen Geistes innerhalb eines historischen Geschehens, durch Marques' Labyrinthe der Einsamkeit, wo menschliche Tränen und Schreie sich mit Hundegebell vermengen, oder durch die Unruhe der Schatten längst vergessener Vorfahren. Vielleicht.
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Schatten zu sein ist der Imperativ des Lebens in der Stadt. Die Schattenmenschen wachen frühmorgens auf, kommen aus ihrem Unterschlupf heraus und blicken in den neuen Tag. Sie gehen auf die Suche nach ihrem Stück Brot, nach ihrem Kanister Wasser, nach ihrem Baumstumpf, den sie aus dem gefrorenen Boden des schon längst abgeholzten Parks graben müssen; die Schattenmenschen sind schon am frühen Morgen auf den Straßen der Stadt, in den Trümmern, auf den Friedhöfen, bei den Gräbern ihrer Angehörigen und Freunde, sie sind auf der Suche nach der verlorenen Zeit: die aus dem Familienalbum herausgerissenen Fotos sind eine erschütternde Szene der Vergänglichkeit menschlichen Glücks. In der Stadt gibt es immer mehr Spaziergänger; die eigenen Schritte zu zählen ist der häufigste Ausdruck dieser psychischen Verfassung, ein Test der Selbstkontrolle. Dann kommt das dramatische Dilemma: zu seinem Schatten zurückzukehren und im Wachen zu träumen oder Leser der Zeit zu werden. Im eigenen Schatten zu leben ist die Rückkehr zur bosnischen Ikone. Ein Spaziergänger zu sein heißt mit dem zusammenzuprallen, was Sarajevo und seine Realität heute ausmacht. Jeder Leser aber ist ein Prometheus der belagerten Stadt: er geht die Straßen entlang und liest laut die Zeitung, die Dialoge der Comics von Rip Kirby oder den Ulysses von Joyce. Sarajevo ist heute eine Stadt, in der man Erfahrungen über eine Zivilisation der Lüge und des Betrugs sammeln kann. Man braucht nur über den Fluß zu gehen, dann erklingt ein Vers des größten bosnischen Dichters Mak Dizdar an jedem neuen Morgen der belagerten Stadt.
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Die Hunde sind wichtige Akteure der Tausendundeinen Nacht der Stadt. Ihren einstigen Besitzern weggelaufen und verwildert, heulen sie in der Nacht, und am Tage irren sie durch die geteilten und verbarrikadierten Straßen. Für sie existiert keine Mauer. Nur für die Hunde ist Sarajevo ungeteilt. Sie sind hungrig, aber frei. Wo für die Menschen die Freiheit aufhört, beginnt sie für diese. Katzen gibt es nicht auf den Straßen der belagerten Stadt; sie sind an der vordersten Front. Der einzige Ort, wo man richtige Kater finden kann. Diese strammen Männchen sitzen in den Schützengräben, umfassen ihr Gewehr und halten Wache. »Der Wächter denkt immer zwei Stunden« - dieses schwungvolle Graffito an der Wand des Beobachtungspostens weist auf die Überlegenheit ihrer Lage hin. Unter ihren Kommißstiefeln sind wieder die aus den Familienalben herausgerissenen Fotos. Früher war der Ort, wo die Soldaten Wache schieben, ein Haus der Liebe, jetzt ist er ein Bunker, der den Tod sät. Der Tod lauert, die Soldaten lauern, die Katzen lauern, die Hunde bellen, die Fotos aus der Welt von Gestern sterben. Es verrinnt die Zeit, die in der Dauer angehalten ist. Sarajevos Tausendundeine Nacht. Die Nächte nach dem Ende der Welt.
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Es gibt zwei Wege, wie der Mensch an das Ende der Welt gelangen kann. Der erste besteht darin, sich eine alpine Ausrüstung zu besorgen und den Gipfel des Himalaja zu erklimmen. Es ist eine Sache der persönlichen Wahl eines jeden Einzelnen. Der zweite Weg liegt ohnehin nicht in der Hand des Menschen. Wer in Sarajevo geboren ist, hält sich stets für das Ende der Welt bereit. Bosnien ist das verheißene Land der Geschichte, und dort, wo Geschichte und Mensch zusammenprallen, hat der Mensch immer das Nachsehen, die Geschichte nie. Der gute Geist Sarajevos in der Person seines Chronisten Mula Efendi Baãeskija aus dem 19. Jahrhundert zeugt von ständigem Untergang und erneuter Auferstehung; hier finden die großen Explosionen in regelmäßigen Zeitabständen statt (der Glaube des Bosniers an den Rhythmus von Geschichte und der sie begleitenden Tragödie eines jeden Einzelnen ist tief verwurzelt). Die Explosionen in Bosnien sind nie geringfügig, sie haben fast immer ein kosmisches Ausmaß. Dann fliegt alle irdische Materie, ob lebendig oder nicht, in alle Richtungen auseinander; in den Himmel, auf die Erde und ins Wasser fliegen die Körper und Seelen der Menschen, es fliegen Denkmäler, Brücken und Kirchen, es fliegen Blut, Ziegel und Kalk. Der Prozeß, der die Materie wieder zusammenkommen, die Seelen der Menschen, die Körper und die Ziegel wieder zueinander finden läßt, ist langwierig, aber gewiß. Die Eingeweide Bosniens sind voller schmerzhafter Narben, die Anatomiestunde ist nicht zu Ende gebracht, jedoch setzt das alles die Energie des verheißenen Landes von neuem in Bewegung, ein Land, das die Kraft hat, das zu heilen, was sich nicht heilen läßt. Bosnien und Sarajevo sind der Schnittpunkt aller menschlichen Erfahrung, im Lebens und in der Kunst, die nie zur Gänze erforscht und erklärt ist. Wenn man beide Erfahrungen in den hellsichtigen Momenten des Reflexes, den man Leben nennt, und des künstlerischen Wahns zusammennimmt, so können sie selten in nur einem Satz das Geheimnis des Lebenswillens in Sarajevo ausdrücken. Im Krieg, der noch immer andauert, in der tausendtägigen Belagerung Sarajevos, ist das jener Augenblick, als ein alter Dichter (wieder ein Dichter) und ein noch bartloser junger Mann die Straße überqueren, um sich vor einem Heckenschützen in Sicherheit zu bringen, der irgendwo im Verborgenen seinen Opfern auflauert. Der Dichter passiert die Straße sehr schnell, der Jüngere gemächlich und nicht so vorsichtig. Als die Gefahr vorüber ist, sagt dieser seinem älteren Freund, die Lage sei doch nicht so ernst, daß sie ständig laufen müßten.
»Du hast leicht reden, du bist fünfundzwanzig und hast noch viele Jahre vor dir. Ich bin fünfundsechzig und muß das Bißchen Leben, das mir noch bleibt, bewahren«, antwortet der Dichter und setzt seinen Weg fort, ohne seinen jungen Freund weiter zu beachten.
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Sarajevo, nach tausendundeiner Nacht der Belagerung am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Stadt, in deren Innern tief das geschichtliche Ereignis pocht. Eine Stadt, auf deren Oberfläche der Schmerz schwelt und verbrennt. Eine Stadt, deren Geist unzerstörbar über ihren Menschen und ihrer Architektur schwebt. Wen fordert Sarajevo heraus und warum? Weswegen ist das Interesse für eine Stadt so groß, die noch nicht einmal eine halbe Million Einwohner zählt? Schließlich ist Sarajevo nicht die einzige Stadt auf der Welt - ein Wachsfigurenkabinett, und auch die Bilder des Granatenbeschusses sind nicht wesentlich anders als die, sagen wir, aus dem zerstörten Beirut oder aus Groznyj. Natürlich ist Sarajevo ein Schauplatz der Weltgeschichte, der Schauplatz einiger parallel verlaufender Prozesse: die Stadt einer neuen faschistischen Aggression, der unerbittliche ethnische Konflikt, der Zusammenprall des Westens mit dem Osten, der nationalistischen Mythologie mit dem Pragmatismus moderner Prägung, der Feldzug von Resten barbarischen Denkens gegen das urbane Bewußtsein und besonders der Zusammenprall der konservativen Väter unter dem Kommando des schizophrenen serbischen Führers Radovan Karadþi‡, des Dichters einer schlüpfrigen epischen Rhetorik, mit den Hütern des postmodernen multikulturellen bosnischen Traums. All das ist Sarajevo, aber ist es nur das?
Für Abenteurer und Fischer menschlicher Seelen, für postmoderne Nomaden und Nostalgiker vergangener Zeiten ist Sarajevo ein Thema. Die einen sehen in ihm ein Laboratorium, in dem mit dem Leben eines urbanen Milieus experimentiert wird nach dem apokalyptischen Tag D. Das sind sympathische Outsider, Menschen von einem Nebengleis, die häufiger von einer visuellen Attraktion gepackt sind als entscheidungsfreudige Menschen, selbst wenn sie ästhetisch ist. Der Besuch der anderen jedoch ist eine billige philanthropische Unterhaltung, wie sie im Mittelalter die Kreuzfahrer und Missionare liebten. Sie sind nur deshalb hier, um Gott zu beschwichtigen, damit er seinen Knechten nicht allzusehr zürnt.
Das Drama Sarajevos, das Drama der belagerten Stadt, beweist vor allem wieder einmal den Verfall der moralischen Normen der dominanten Zivilisation des Westens. Vielleicht sind diese Normen noch nicht endgültig gefallen, aber sie reichen nur bis an jene Grenzen, welche die Strategen dieser Zivilisation, die ehemaligen und auch die heutigen, zu ihren Gunsten gezogen haben. Und diese Grenzen sind dort besonders haltbar und unüberwindlich, wo die Unbekanntheit des Anderen beginnt. Diese Vereinsamten, wie der französische Philosoph Bernard Lévy, bringen gerade noch die Kraft auf für den unheilvollen Satz, daß Europa in Sarajevo stirbt.
Es kommen neue Tage der Belagerung der Stadt. Vor dem Anblick des Leidens schmelzen die Wörter, ob gesprochen oder geschrieben, eines nach dem andern und werden ausgewischt. Es gibt immer weniger Wörter, sie sind auf ein einziges reduziert: auf das Wort LAGER. Aufzeichnungen aus dem Lager. Draußen bricht ein neuer Tag an. Die belagerte Stadt liebt ihre neuen Tage, vielleicht weil das, was gerade ankommt, neue Hoffnung bringt. Ich weiß, in Sarajevo sind die Blicke der Menschen, wenn sie dem neuen Tag begegnen, stumm, in sich verschlossen. Aber das ist kein Gleichmut. In der Lager-Stadt ist es schwer, Dichter zu sein, aber ihre Zahl und die der Gedichte wächst. Die Bosnier sind ein Volk der unausgesprochenen Wörter. Ich erinnere mich an die Gedanken eines anderen großen Schriftstellers, der wohl am besten von der Erfahrung dessen, was Bosnien und Sarajevo heute sind, gesprochen hat. Warum diese Wörter heute? Darum.