Georg Klein


 

Schiem

 

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Die Alterstollheit des Großen Schiem, des ungekrönten Königs der Branche, hat uns fünf Tage in der Hauptstadt zusammengezwungen gehalten. Aus allen vier deutschen Himmelsrichtungen, aus allen vier Dependancen der Agentur hatte Schiem uns für eine erste Arbeitswoche zu sich ins Zentralbüro kommandiert. Wir, die Elite der Texter, saßen mit knirschenden Kiefern, mit zitternder Schreibhand vor der Videoprojektionswand, auf der Schiems neues Vorhaben erschien. Der Große Schiem, den auch die Älteren unter uns nur als den Alten kennen, hat unsere Erwartungen, die als Schutz das denkbar Schlimmste imaginierten, erneut übertroffen. Immer übertrumpft er, der Firmeninhaber, uns, seine hochbezahlten Spezialisten. Wir, die Fixesten unter den Zungenfertigen der Branche, stehen, lallend ums erste Wort ringend, vor der kühnen Vorgabe Schiems. Geblendet von seinem jüngsten Projekt, wagen wir nicht, es einen hellen Wahnsinn zu nennen.

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Freitag nacht auf Heimflug Richtung Süden. Für zwei Tage der Fuchtel Schiems entkommen. Zum Schein nur. Denn Montag früh werden wir alle, die am Wochenende ergrübelten Ideen spruchreif in den Kehlen, wieder zur Teambesprechung Platz nehmen. Dann ist wie jeden Montag morgen Schiems Platz leer. Aber in der Mitte des Konferenztisches steht auf einem Kautschuktellerchen das winzige Mikrophon, über das er unsere Besprechung mithören kann. Hoch über uns, im aufgestockten Penthouse, beginnt der große Schiem eine neue Woche weltüberspannender Geschäfte. Nur selten beliebt es ihm, sich in die Montagmorgenkonferenz der Texter einzuschalten, dann wispert der Flüssigkristallbildschirm an der fensterlosen Ostwand. Schiems Brustbild erscheint oder auch nur der leere Chefsessel, auf den die Kamera seit Jahr und Tag unbewegt gerichtet ist. Elektronisch übertrieben verstärkt, erreicht uns ein geraunztes Schimpfwort, meist eine vulgäre Bezeichnung der Sexualorgane, oder Schiems unverwechselbares Stöhnen, laut und anhaltend, bis sein Bild oder das Bild seines Sessels wieder erlischt. Wir, das Team der Texter, ballen dann wie ein Mann die Faust unter dem Konferenztisch und wissen zugleich, daß wir schnell, daß wir sehr schnell, daß wir sofort brauchbares Material ausspucken müssen.

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Mein Platz in dieser Maschine ist für die nächsten Wochen reserviert. Der heutige Flug scheint ausgebucht. Mein Nebenmann schiebt sich an mir vorbei auf den Fensterplatz. Seine Brille, seine Krawatte, das Gesicht kommen mir bekannt vor, als hätten wir im Verlauf der letzten, der furchtbaren Woche einmal gemeinsam vor einem der Aufzüge oder an der Kasse der Cafeteria gestanden. Schiem erwartet, daß wir das Gebäude von Montag bis Freitag nicht verlassen. Für diese Kasernierung der Projekttexter gibt es ein firmeninternes Scherzwort, eine plumpe, vermutlich von Schiem persönlich geprägte Obszönität. Schiem hat seine eigenen Begriffe, und wer mit ihm arbeiten will, lernt, sie über die Lippen zu bringen. Nur zum äußerst zeitigen Frühstück dürfen wir in der allgemeinen Betriebscafeteria Platz nehmen. Den Mittags- und den Nachmittagsimbiß bringt uns die aschblonde von Schiems Töchtern in die Projekträume. Die Aschblonde bewacht auch den Nachtkühlschrank. Sie sitzt in einem winzigen Kämmerchen nicht größer als unsere Zimmer, die eigentlich nur Schlafkabinen sind. Wenn einer von uns nachts zum Gemeinschaftsklo schlurft, sieht er bei der Aschblonden das Licht brennen, und wenn er noch ein Bier braucht, klopft oder kratzt er an ihrer angelehnten Tür.

Endlich im Flugzeug. Endlich allein in einem Dämmern, das nicht der Agentur gehört. Nur meinen Platz hat Schiem gechartert, die anderen Passagiere fliegen auf Kosten anderer Firmen. Einen hat mein Blick im Vorübergehen erkannt. Ein Informatiker, vor Jahren hat er mit mir in Südwest angefangen, aber schon bald fiel er einer von Schiems Säuberungen zum Opfer. Säuberung oder Entschlackung nennt es der Große Schiem. Statistisch ist jede Niederlassung zweimal im Jahr davon betroffen: Aber zu einem abschätzbaren Rhythmus läßt Schiem es nie kommen. Bei uns passierte fast ein Jahr nichts, dann zwei radikale Säuberungen im Abstand von knapp zwei Monaten. Danach war Südwest auf mich, den Texter, und einen blutjungen Graphiker zusammengeschrumpft. Die für dergleichen Extremfälle zuständige Tochter Schiems, die Kastanienenbraune, kam aus der Hauptstadt eingeflogen. Ohne uns etwas fragen zu müssen, übernahm sie Telefondienst und Korrespondenz. Alle regionalen Kunden, auch die Jüngsten, scheinen der Kastanienbraunen auf gespenstische Weise vertraut. Vielleicht ist in Südwest im Verlauf der letzten Woche wieder jemand eingestellt worden. Mich hat keine Nachricht erreicht. Während der Projektwochen sind wir nach außen abgeschottet. Telefongespräche sind nur zwischen Arbeitsende und Mitternacht erlaubt. Sie müssen an einem Apparat im Zimmerchen der Aschblonden abgewickelt werden. Der altertümliche Münzfernsprecher ist über dem Kühlschrank angebracht und auf einen hinterhältig kostspieligen Zeittakt geschaltet. Auf Zehenspitzen steht man, wirft in einem fort Münzen nach, die das Gerät willkürlich annimmt oder durchfallen läßt. Man brüllt gegen das Geklacker der Geldstücke an, verkrampft sich, halb auf dem Kühlschrank hängend, immer mehr und glaubt zuletzt, das stoßartige Schnaufen der aschblonden Schiemtochter, die nie den Raum verläßt, aus der Hörmuschel kommend, am Ohr zu verspüren.

Endlich im Flugzeug. Endlich nimmt die Entfernung zu. Der Mann neben mir hat sich ein Getränk bringen lassen. Es ist etwas Dunkles, vielleicht Rotes. Ich weise mit dem Finger auf sein Glas und verlange mit einem Kopfnicken das Gleiche. Mein Nebenmann grunzt leise. Vielleicht schmeichelt ihm, daß ich mich ihm anschließe. Aber ich lasse mich nicht auf ein Gespräch ein. Zwei Tage lang will ich selbst nur unartikulierte Laute von mir geben. Jedem im Team muß es so gehen. Schiem hat uns bis auf die letzte sinntragende Silbe ausgesaugt. Er, der magere Greis, der nie in unserer Anwesenheit etwas trinkt oder ißt, nimmt unsere frischgeborenen Einfälle mit vernichtender Gier zu sich. Sogar der Pole vom Fahrdienst, der wirklich nichts von unserer Arbeit verstehen kann, nannte ihn heute einen Blutsauger. Das und noch Schlimmeres hat der radebrechende Kerl, der heute abend den Kleinbus mit uns Textern zum Flughafen steuerte, den Großen Schiem genannt, und er braucht deswegen keine Konsequenzen zu fürchten. Schiem liebt es, beschimpft zu werden. Als er mich einstellte, damals im unumgänglichen persönlichen Vorstellungsgespräch, forderte er mich, den branchenunerfahrenen Geisteswissenschaftler auf, ihn, den angestrebten Arbeitgeber, mit Schmutzwörtern zu schmähen. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer, damit seine Tochter, die Kastanienbraune, mithören konnte. Ich gab ihm, was meine Not mir eingab, und bestand die Probe. Heute weiß ich, daß diese erzwungene Beschimpfung noch eine der gnädigen Zumutungen des Alten war. Schiem schont seine Texter nicht. Wir, die Elite der Branche, sind Übriggebliebene, und das laufende Projekt wird unsere Reihe noch einmal lichten. Das wissen alle, und keiner weiß, ob es nicht dieses Mal ihm die Sprache verschlagen wird.

Endlich im Flugzeug. Endlich Zeit und Raum, sich unter Unbekannten zu betrinken. Während der Projektwochen ist gemeinsamer Alkoholgenuß verpönt. Auch nach dem Ende der Tagesarbeitszeit, spät am Abend, bringt das Team der Texter nicht den kollektiven Mut auf, um ein paar Flaschen zusammenzusitzen. Jeder holt sich, was er braucht, aus dem Kühlschrank. Manchmal treffen sich zwei von uns bei diesem Gang auf dem Flur. Der, der bereits vom Kühlschrank kommt, drückt dann, wenn er Courage hat, dem noch Unversorgten eine Flasche in die Hand. Man verweilt mit unruhigem Blick für zwei, drei hastige Schlucke beieinander. Ein halblautes Wort, ein ungedämpfter Rülpser, das Zischen beim Abhebeln der Kronenkorkens, wenig genügt, um die Aschblonde an die Tür zu locken. Sie schaut dann kurz und scharf in den Gang, gerade so lang, wie es nötig sein könnte, die Beieinanderstehenden zu identifizieren. Völlige Unsicherheit herrscht bei uns im Team darüber, bis zu welchem Punkt dieses gemeinsame Trinken auf dem Flur vielleicht doch noch als zulässig gelten kann. Halbwegs einig sind wir uns darin, daß es auf jeden Fall anstößig wäre, im Wechsel aus derselben Flasche zu schlürfen. Gar einen Kollegen zu gemeinsamem Trunk in die Schlafkabine mitzunehmen, liegt so fern unserer Möglichkeiten, daß mich auch jetzt in der Warteschleife des Wochenendes wundert, wie mir der Gedanke daran kommen konnte. Nein, wir Texter betrinken uns allein, allerdings sind die Gipskartonwände zwischen unseren Kojen so eng, daß zwangsweise doch eine wechselseitige Anteilnahme entsteht. Man erkennt das ungesunde, röchelnde Schnarchen des ersten Schlafens. Man erwacht erneut durch den lallenden Fluch eines anderen Wiedererwachenden, wenn sich über dessen Kopfkissen die unwillkürlich vom Nachttischchen gestoßene Flasche ergossen hat.

 

Endlich im Flugzeug. Endlich ein richtiges Glas in Händen. Aber es war ein Fehler, mir das Getränk meines Nebenmannes zu bestellen. Er hat sich von der Stewardeß längst das zweite Glas bringen lassen, während ich noch immer angewidert meinem ersten Schluck nachschmecke. Es handelt sich um ein Mischgetränk, schwerflüssig, fast sämig. Zugleich registriert die Zunge sirupartige Süße und pfeffrige Schärfe. Mein Nachbar hat sein Leselämpchen eingeschaltet. Das Licht der winzigen Birne genügt, um die Flüssigkeit rötlich aufschimmern zu lassen. Es ist zu meinem Unglück jener Farbton, der Schiems dritte Tochter, die Tizianrote, für uns alle unverwechselbar macht. Ein firmeninternes Gerücht, unverwüstlich gerade wegen seiner Lächerlichkeit, besagt, daß der Große Schiem einst demjenigen die Führung der Geschäfte übergeben will, dem es gelingt, die Tizianrote zum Traualtar zu führen. Wie immer, wenn ich an diesen Unsinn denke, überwältigt mich auch jetzt die utopisch komische Vorstellung, daß diese Großtat einem von uns Textern gelänge. Ich kann ein Kichern nicht völlig unterdrücken, das Glucksen schüttelt mich so heftig, daß mir das widerliche Mischgetränk aus dem Glas, in den Schoß, auf die Hose schwappt. Schiems tizianrote Tochter ist, solange ich in der Agentur bin, immer nur in den Abschlußphasen der überregionalen Projekte in Erscheinung getreten. Schiem, der uns ohne Atempause durch die Wochen gejagt hat, bleibt dann für drei Tage verschwunden. Wir, verhetzt und aufgerieben von seinen unberechenbaren Wendungen, von den Finten, Launen und schäbigen Tricks, mit denen er jedes Zwischenergebnis erneut torpedierte und unsere Arbeit lächerlich laienhaft erscheinen läßt, wir nehmen sein Wegbleiben wie erlöst wahr und fallen der Tizianroten mehr als wehrlos in die Hände. Schon vor der kastanienbraunen Schiemtochter, die anreist, wenn eine Niederlassung nach einer väterlichen Säuberung übermäßig dezimiert ist, schrecken wir zurück. Unsere Scheu vor der Kastanienbraunen wurzelt in dem simplen Umstand, daß sie jedem von uns den Einstellungsvertrag am Computer ausgefertigt hat. Das gespeicherte Formular trägt den Titel EINHEITSVERTRAG WORTKÜNSTLER. In fünf knappen Paragraphen sind die wenig rühmlichen Konditionen unserer Tätigkeit niedergeschrieben. In Paragraph 6 tippt die Kastanienbraune jenes Anfangsgehalt ein, um das uns alle in der Branche anderweitig beschäftigten Texter beneiden. Paragraph 7 ist nicht vorformuliert. Auf dem Leuchtschirm der Kastanienbraunen verweilt der dreieckige Cursor, bis Schiem selbst zu seiner wartenden Tochter tritt. Von hinten beugt er sich dann über ihre Schulter und flüstert ihr ins Ohr, was er sich als siebte und letzte Vertragskondition für den Frischgeworbenen ausgedacht hat. Die Schamesröte steigt mir ins Gesicht, wenn ich mir vor Augen halte, daß diese Schiemtochter den Paragraphen 7, die intime Vertragsklausel eines jeden Texters kennt. Kurz schwanke ich, ob die Kastanienbraune durch diese Mitwisserschaft ihrer tizianroten Schwester nicht an abschreckender Potenz gleichkommt, aber dann entsinne ich mich des letzten großen Projekts und seiner peinigenden Abschlußphase und gebe der Tizianroten doch den Vorzug.

Endlich allein. Endlich auf Heimflug. Erneut vergeblicher Versuch, den nicht verschütteten Rest des rötlichen Gebräus über die Lippen zu bringen. Leichthin kann mein Nebenmann das dritte oder vierte Glas mit lautem Schlürfen leeren. Er muß die Tizianrote nicht kennen. Ihr Bild ist uns Nährboden immer neuer Angstvorstellungen. Eben erst schwenkten meine Gedanken ins Gelände einer solchen Fantasie. Sie nahm die sämige Konsistenz des Cocktails zum Anlaß und leitete die Dickflüssigkeit der Mischung aus wahrhaft widerlichen Komponenten her. Es war, als keimte eine von Schiems Zoten verzögert aus, um mit rötlichem Trieb endgültig in mir Wurzeln zu fassen. Alle Texter kennen den Würgegriff dieser Wochenendfantasien. Bei uns Älteren treten sie schon in der Nacht zum Freitag auf, mit gurgelndem Ausruf fahren wir dann aus unseren Träumen, die, obschon sie immer noch von Schiems Stimme durchdröhnt werden, bereits tizianrote Färbung angenommen haben. Pure Angst treibt uns dann aus den schmalen Betten. Die Hände in den Bund unserer Pyjamahosen gekrampft, tippeln wir die Kurze Wegstrecke längs unseres Nachtlagers auf und ab. Und schließlich zwingt uns die Schlaflosigkeit sogar hinaus auf den Gang. Im ersten Morgengrauen schaben wir an der Tür der Aschblonden, um die Tizianrote einige nervöse Handgriffe lang zu vergessen.

Endlich im Flugzeug. Endlich zum Schein dem Bannkreis des Großen Schiem entronnen. In böser Voraussicht hat er unsere Heimflüge gebucht, mit Schadenfreude sieht er uns jeden Freitag in den Zubringerkleinbus steigen. Ohne Hoffnung führte ich eben das Glas erneut an die Lippen, ließ den längst von meinem Speichel wäßrig verdünnten Cocktail bis an die Zungenspitze schwappen. Aber dann wuchs mir unvermutet Beistand zu, von rechts schwenkte die Hand meines Nebenmannes in mein Blickfeld. Mit sanftem Nachdruck legten sich die Fingerspitzen auf den Boden meines Glases und erhöhten die Abflußneigung. Zweifellos hatte mein Nachbar meine Not begriffen, mit Gefühl und mit Entschiedenheit vergrößerte er den Winkel. Meine Schlucksperre hat sich gelöst, mein Kehlkopf tut seine Pflicht. Meine Lider schließen sich fast ganz. Durch Schlitze sehe ich, wie mir mein Beisitzer das leergetrunkene Glas aus den verkrampften Fingern windet. Jetzt schiebt sich auch das Gesicht vom Gestell seiner Brille bis zum Knoten seiner Krawatte in mein verengtes Blickfeld. Ohne Anstrengung wird er mir kenntlich. Natürlich vom Fach. Auch er war einmal und ist vielleicht noch Schiems Texter. Vor Jahren, in der Unschuld meiner Anfangszeit, saßen wir in derselben Projektgruppe. Ein wahnwitziges Vorhaben, einer von Schiems rücksichtslosesten, nicht nur uns Neulinge restlos überfordernden Einfällen. Wie jetzt ging es auch damals darum, in einen völlig übersättigten Markt einzubrechen. Schiem schaffte es täglich aufs neue, die schiere Unmöglichkeit des Plans in das Gebot der Stunde umzuformulieren. Wir stöhnten unter seinen höhnischen Paradoxien, es war, als wollte er uns Textern den gesunden Menschenverstand wie ein Fell über die Ohren ziehen. Mein Nebenmann bleibt vor mich gebeugt. Und jetzt, wo er sich behutsam die Brille abnimmt, schärft sich meine Erinnerung erneut. Die Tizianrote übernahm damals an einem Montag die Leitung der Endphase. Schiem hatte am vorausgegangenen Freitag all unsere bisherigen Entwürfe vernichtet. In seiner endlosen, fünf, sechs oder sieben Minuten währenden Schimpftirade war zu meinem Schrecken urplötzlich der Wortlaut meines siebten Paragraphen aufgetaucht. Erst jetzt dämmert mir, daß damals gewiß auch die anderen Texter ihre persönliche Vertragsklausel auf diese niederschmetternde Weise veröffentlicht bekamen. Am folgenden Montag hatte die Tizianrote leichtes Spiel. Wir lechzten nach ihrem Erscheinen. Ohne Gruß nahm sie auf dem leeren Stuhl ihres Vaters Platz. Sie schneuzte sich lang und gründlich, so wie sie es heute noch in unvergleichlicher Weise tut. Dann räusperte sie sich heftig, hustete, wie um etwas auszuwerfen und kratzte sich ausgiebig, als gäbe es uns nicht, mit einem ihrer langen Fingernägel in beiden Halsbeugen. Ein letzter isolierter Krächzer, ein wortferner, fast mechanischer Reibelaut entfuhr ihrer Kehle. Wir spitzten die Ohren, hielten den Atem an, und nach einem Moment einhelligen Schweigens gab sie uns die erste Vorgabe. Die Spitzen ihrer Schuhe hoben sich, die Hacken begannen zu schlagen. Mit beiden Absätzen, mal gleichzeitig niederstoßend, mal gegeneinander versetzt, trommelte sie uns den gebotenen Rhythmus auf das Parkett. Zunächst in seiner nackten Grundform, fünfmal, ganz langsam wie zum Mitschreiben. Dann folgten zwei elaborierte Varianten: Mit einem scharfen Schlenker der Lendenwirbelsäule zwang sie dem Kugellager des Drehstuhls ein Geräusch ab. Dieses Schnarren und ein außerordentlich lautes, fast metallisch knallendes Zungenschnalzen markierten uns die gewünschte Position der Triebwörter. Wir schluckten. Die Älteren unter uns leckten sich, wie von jeder Scham verlassen, die Lippen. Die Tizianrote erhob sich, ging leichten Schritts hinter unsere Rücken. Wir starrten den leeren Stuhl an. Jetzt war es an uns, die Vorgabe mit Worten zu füllen. Mein jetziger Mitflieger, der barmherzige Cocktailtrinker, war damals derjenige, der in unser aller Namen als erster antrat. Wieder kommt mir sein Aufstieg vor Augen. Er war jung wie ich, dicklich und ungeschickt. Seine Brille rutschte ihm von der Nase, purzelte auf den Boden, als er langsam und umständlich den freigegebenen Stuhl erklomm. Schwankend kniete er auf dessen Sitzfläche, streckte uns, den Kollegen, den Hintern entgegen und brauchte mehr als ein halbes Dutzend Anläufe, bis er endlich mit dem Gesicht zu uns auf dem Stuhl stand und seinen Textversuch zum Vortrag bringen konnte.

Endlich allein. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Mein einstiger Mittexter hat seine Position nicht verändert. Sein süßlich pfeffriger Atem streicht mir über Stirn und Wangen. Gewiß war auch er all die Jahre ununterbrochen in Schiems Diensten. Wer kann wissen, wie viele Projekte im Namen Schiems seitdem das Licht der Welt erblickten. Die rechte Hand des Kollegen legt sich auf die Muschel meines linken Ohrs. Fast übermannt mich die Versuchung, die Augen ganz zu schließen. Es wäre wohl erlaubt. Es wäre letztlich im Sinne Schiems. Auch für die Dauer dieses Projekts hat der Große Schiem ein strenges Bilderverbot über uns verhängt. Erneut fand er einen absolut endgültigen, uns in unserem Tun demütigenden Spruch, um den Abgrund zwischen uns und den mit dem bloßen Augenschein operierenden Kollegen zu markieren. Wie beim ersten Mal duckten wir unsere Köpfe verschreckt unter die unumstößliche Wahrheit. Also vertraut auch jetzt, ins kümmerliche Leselicht des Nachtflugs blinzelnd, der Texter gemäß Schiems Gebot aufs Wort - und nichts verrückt sich in der Rangordnung der Sinne, wenn bald, wenn gleich, wenn gleichzeitig die Münder zweier Texter aufeinanderstürzen, wenn die Gebisse klackernd ineinanderschlagen und beide Zungen, am fremden Gaumen schnalzend, um eine Achse kreisen.